| # taz.de -- Wolfang Englers Erinnerungen an die DDR: Scham und Schuld | |
| > Nach 1989 machte Wolfgang Engler als Ostler Karriere. Den emotionalen | |
| > Preis analysiert der Soziologe in seinem Buch „Brüche. Ein ostdeutsches | |
| > Leben“. | |
| Bild: Zweifeln und Weitermachen. Wolfgang Engler beim Reflektieren | |
| Wolfgang Engler hat sich dieses Buch abgerungen. Der Soziologe, der mit | |
| Werken wie „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ und „Die | |
| Ostdeutschen als Avantgarde“ die einstigen DDR-Bürger:innen nicht nur | |
| beschrieb und analysierte, sondern ihnen, ja doch, ein Denkmal setzte, | |
| begibt sich nun mit „Brüche. Ein ostdeutsches Leben“ auf eine Reise zu sich | |
| selbst. | |
| Und das war für den heute 72-Jährigen offenbar eine Qual. Nicht nur, weil | |
| er gleich zu Beginn preisgibt, was man gewöhnlich lieber für sich behält: | |
| den Aufenthalt in der Psychiatrie. Als infolge der Coronapandemie | |
| Depressionen und Suizidgedanken aufkamen, ließ er sich mehrmals in eine | |
| Klinik einweisen. | |
| Das Ergebnis der Gespräche mit Therapeut:innen und anderen | |
| Patient:innen sowie einer dem Aufenthalt geschuldeten intensiven | |
| Beschäftigung mit sich selbst ist auch dieses Buch – das wohl | |
| persönlichste, das er je geschrieben haben wird. | |
| ## Weit ausholen | |
| Er holt weit aus: Kindheit und Jugend in Ostberlin, Lehre als Facharbeiter | |
| für Datenverarbeitung, Abitur an der Abendschule, Philosophiestudium, | |
| Promotion, Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften | |
| der DDR, Institut für Schauspielregie, die Ostberliner Schauspielhochschule | |
| „Ernst Busch“, deren Rektor er später wurde. | |
| Nun könnte man meinen, erste ernsthafte Brüche [1][erlebte Engler als | |
| wissensdurstiger Soziologe schon in der DDR], spätestens nach dem | |
| Mauerfall, mit dem Wegfall einstiger Gewiss- und Sicherheiten, so wie das | |
| für nahezu alle Ostdeutschen 1989 der Fall war. Aber so war das bei Engler | |
| nicht, sein erster großer bewusster Bruch war jener mit seinen einstigen | |
| Kolleg:innen, die nach der Wende arbeitslos wurden, während seine eigene | |
| Karriere nicht nur ungebrochen weiterging, sondern steil nach oben führte, | |
| unter anderem in die Schweiz. | |
| Menschen um ihn herum verloren ihre Jobs und damit ihre Existenzgrundlage, | |
| ihre Hoffnungen, ihre mit dem Beruf verknüpfte Identität. Engler hatte | |
| hingegen das Glück, dass es ihm „anders erging als der Masse der | |
| ostdeutschen Geistesarbeiter“, wie er schreibt. | |
| ## Eine Art Insel | |
| Die „Ernst Busch“, wie die Schauspielschule in der DDR liebevoll abgekürzt | |
| wurde, war so etwas wie eine Insel, auf der Lehrpersonal und Studierende | |
| vielfach persönlich miteinander umgingen. Dass es im Osten brodelte, | |
| Millionen Menschen sich plötzlich in einem Land mit einem Leben | |
| wiederfanden, das sie nicht gewollt hatten, gegen das sie sich aber nicht | |
| wehren konnten, nahm er zu jener Zeit nicht wahr. Er sah weg, „als der | |
| Protest der Ostdeutschen gegen ihre kollektive Enteignung losbrach“. Er | |
| floh „vor der Wirklichkeit, kehrte jenen, zu denen ich einmal gehören | |
| wollte, den Rücken“. | |
| [2][Sätze wie ein Schwert.] Denn Engler war stets stolz auf seine Herkunft, | |
| seine Eltern stammten aus der „arbeiterlichen Gesellschaft“, ein Begriff, | |
| den Engler prägte und den er mit Respekt und Wertschätzung füllte. | |
| Gleichermaßen versuchte er, ihr zu entfliehen. Das gelang ihm auch, er war | |
| der Erste in der Familie, der studierte – und bewegte sich fortan in | |
| Kreisen, die mit der arbeiterlichen Gesellschaft nur noch in der | |
| Soziologie, im Theater, im Kino, im Journalismus zu tun hatten. | |
| In der sozialistischen DDR war es egal, aus welchem „Milieu“ man stammte, | |
| zumindest an der Oberfläche, die sozialen und finanziellen Unterschiede | |
| zwischen den Schichten waren bei Weitem nicht so enorm wie im | |
| kapitalistischen Westen. In der Diktatur der Arbeiterklasse war die | |
| Arbeiterklasse selbstredend politisch-formal tonangebend, wenn auch | |
| weitgehend nur auf dem Papier. Allerdings fehlten in der DDR Schichten wie | |
| das Großbürgertum und eine Adelsgesellschaft, der gegenüber Arbeiterkinder | |
| sich hätten ungleich fühlen können. | |
| ## Keine Klassenscham | |
| [3][Demzufolge musste Engler bis zur Wende keine Klassenscham spüren,] | |
| weder die, aus einem bildungsfernen Milieu zu kommen, noch jene, den | |
| Ausstieg daraus geschafft zu haben. „Ich wollte mich denen gegenüber | |
| auszeichnen, die so waren wie ich, und ich reihte mich von selber wieder | |
| ein“, beschreibt er seinen Aufstieg. Allerdings gab es einen erheblichen | |
| Unterschied zwischen ihm und den anderen: den Reisepass. Ab 1986 konnte | |
| Engler in den Westen reisen, fast so oft er wollte und wohin er wollte. | |
| Allein dieses Privileg stellte einen starken Bruch dar, den Engler in | |
| dieser Deutlichkeit aber nicht benennt. | |
| Angesichts dieser überaus komfortablen Situation eines „Doppellebens“ ist | |
| es wohlfeil zu behaupten, er sei jenen, denen er nahe sein wollte, auch | |
| nahe geblieben. Die Mehrheit der Ostdeutschen selbst wäre gern auch nur für | |
| einen Tag „rübergefahren“, musste sich aber mit einem Ausflug an den | |
| Müritzsee begnügen. | |
| Was Engler später, [4][nach der Wiedervereinigung], spürte, waren weniger | |
| Brüche als eher Ängste und Unbehagen, in der neuen Westwelt etwas falsch zu | |
| machen. So betrachtete er es stets als Kompliment, wenn er in Hamburg, | |
| Hannover, Frankfurt am Main, in der Schweiz nicht als „Ostler“ erkannt | |
| wurde. Da erging es ihm wie vielen Ostdeutschen, die sich nach dem | |
| Mauerfall als weniger wert, stigmatisiert, gar arbeiterlich empfunden | |
| hatten. In diesem Gefühl hatten sie recht, Ostdeutsche wurden und werden | |
| noch immer als eine Art Aliens betrachtet, wenn auch mittlerweile mit einer | |
| komplett anderen Konnotation. | |
| ## Französische Geistesverwandte | |
| Um die Brüche, die Engler meint, über [5][die eigene Biografie] hinaus zu | |
| beschreiben, zieht er immer wieder „Leidensgenoss:innen“ heran: die | |
| Schriftsteller:innen Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“), Annie | |
| Erneaux („Erinnerungen eines Mädchens“) und [6][Édouard Louis] („Wer hat | |
| meinen Vater umgebracht“), die wie er aus ärmeren, zum Teil schwierigen | |
| Verhältnissen stammen. | |
| Im Gegensatz zu Engler trieb Eribon und Louis zeitweilig sogar Hass auf | |
| ihre Herkunft um, Engler indes blieb in seiner Wahrnehmung seinem | |
| Ursprungsmilieu verbunden. Er distanziert sich nicht von seinen Eltern, er | |
| verrät seine Familie nicht, wie es Eribon zuweilen mit Verve tut. Doch | |
| Engler lebte, das begriff er erst viel später, lange über seine | |
| „emotionalen Verhältnisse“: sein Wegsehen, was mit dem Land, in dem er | |
| geboren worden war, passierte, wie sich die Menschen quälten, wie die | |
| Abrissbirne Schneisen in die soziale, die Kultur- und die | |
| Beziehungslandschaft riss. | |
| Diese späte Erkenntnis führte ihn letztlich in seine vermutlich schwerste | |
| innere Krise – und in die Psychiatrie. Das ist bitter und durch Englers | |
| radikale Offenheit zu Teilen entwaffnend. Engler wollte sich erklären – und | |
| sich vermutlich auch entschuldigen. Denn da ist nicht nur sein Verschweigen | |
| seiner SED-Mitgliedschaft, da ist vor allem der Verrat an seinem | |
| geschätzten Kollegen Kurt Veth: Den Mann, der Engler in der DDR vor einer | |
| Entlassung aus der Schauspielschule gerettet hatte, verriet Engler wenige | |
| Jahre nach dem Mauerfall. Beide hatten mittlerweile die Rollen getauscht, | |
| Engler war nun statt Veth Rektor der Hochschule – und musste ihn wegen | |
| Stasi-Mitarbeit entlassen. | |
| ## Spitzeldienste für die Stasi | |
| Das Pikante daran: Veth war durch seinen Sohn, der in den Westen fliehen | |
| wollte, erpressbar geworden und hatte sich zu Spitzeldiensten | |
| bereiterklärt, um seinem Sohn den Stasi-Knast zu ersparen. Das erfuhr | |
| Engler allerdings erst nach Veths Tod, entschuldigen konnte er sich bei ihm | |
| nicht mehr. | |
| Zugespitzt könnte man sagen, es geht in Englers zum Teil zu langatmigem | |
| Buch vor allem um Scham und Schuld, die zu benennen mehr Kraft und Mut | |
| kosten, als Brüche im Lebenslauf darzustellen. Und es geht um die | |
| Erkenntnis, dass Englers Generation zwar im Westen angekommen sein kann, | |
| aber trotzdem das bleibt, was sie war: ostdeutsch. | |
| 15 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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