| # taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Kränkungen nach dem Sozialismus | |
| > Wenn man von den „Befindlichkeiten“ der Ostdeutschen redet, muss auch von | |
| > dem die Rede sein, was ihnen in den 29 Jahren nach der Wende alles | |
| > widerfuhr. | |
| Bild: Doch so ein Motor der DDR, nach der Wende auch Anlass für Kränkungen | |
| Der Soziologe und Rektor der Berliner Schauspielhochschule Ernst Busch, | |
| Wolfgang Engler, hat seit der Wende immer wieder Bücher über die Arbeit und | |
| die Ostdeutschen veröffentlicht. Ähnliches gilt für die in Berlin lebende | |
| Schriftstellerin Jana Hensel. Die beiden haben auch Dialoge über ihre | |
| „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ geführt, die als Buch unter dem Titel „W… | |
| wir sind“ erschienen sind. | |
| Wenn man von den „Befindlichkeiten“ der Ostdeutschen redet, muss auch von | |
| dem die Rede sein, was ihnen in den 29 Jahren nach der Wende alles | |
| widerfuhr: „Die Probleme“, die laut Engler „nach einer gemeinsamen | |
| Bestandsaufnahme und Analyse riefen, mutierten unter westdeutscher | |
| Diskurshegemonie zu immer neuen Indizien für die Rückständigkeit des | |
| Ostens.“ Dabei findet „der überdurchschnittliche Erfolg der AfD in den | |
| ‚neuen Ländern‘ seine so gut wie vollständige Erklärung in den Erfahrung… | |
| die die Ostdeutschen nach 1990 sammelten und eben nicht im Rekurs auf ihren | |
| vermeintlich obrigkeitsstaatlichen, führerorientierten DDR-Habitus.“ | |
| „Wir wurden als Täter und Opfer eingeteilt,“ so sagte es ein | |
| Kulturwissenschaftler während einer Diskussion in Dresden, wo es nun eine | |
| „neue Offenheit“ gäbe – dank Pegida. Die FAZ spricht gar von einer | |
| „Debattenstadt“, wo zuvor noch das Gefühl herrschte, in der eigenen Stadt | |
| nichts zu sagen zu haben, was einen „kollektiven Kränkungszustand“ | |
| hervorgerufen habe. | |
| Für Wolfgang Engler stand dahinter ein millionenfach vollzogener | |
| „Rollenwechsel vom Staatsbürger zum Klienten des Transferstaats“. Hensel | |
| liefert dazu Zahlen aus dem Grundstücksmarktbericht 2016: „In Leipzig | |
| besitzen nur 10 Prozent der Einwohner eine Immobilie. 60 Prozent aller | |
| Neubauten und 94 Prozent der sanierten Altbauten wurden an Menschen | |
| verkauft, die nicht aus Leipzig kamen.“ Engler erwähnt Potsdam, wo sich | |
| „eine Handvoll westdeutscher Oligarchen der Stadt und ihrer Geschichte | |
| bemächtigt hat“. Wenn man diese Befunde ernst nimmt, so Hensel weiter, | |
| „dann muss man leider konstatieren, dass wir es bei Pegida und der AfD auch | |
| mit einer Emanzipationsbewegung zu tun haben“. Deren Parolen allerdings um | |
| Nationalismus und Rassismus kreisen. | |
| ## Der sozialistische Wettbewerb | |
| Vorher in der DDR gab es das Volkseigentum, Enteignung und Verstaatlichung: | |
| Die Marktwirtschaft wurde durch die Planwirtschaft ersetzt und die | |
| Konkurrenz durch „sozialistischen Wettbewerb“. „Hinfort waren weder | |
| Betriebe, die Verluste einfuhren, mit Schließung bedroht, noch mussten | |
| Arbeiter und Angestellte um ihre Stellung bangen. In ihrer Gesamtheit waren | |
| sie die neuen Herren, kollektive Eigentümer“, so Wolfgang Engler. | |
| In der ostdeutschen Betriebsräteinitiative, die sich nach der Wende gegen | |
| die Abwicklung der Betriebe gründete, entstand die Einschätzung: Die DDR | |
| war nicht an zu viel Unfreiheit zugrunde gegangen, sondern an zu viel | |
| Freiheit – im Produktionsbereich nämlich. | |
| Ersteres bezog sich auf die Partei, letzteres auf die aus Westsicht zu | |
| geringe Akkordhetze – ein VEB-Autobauer sagte es so: „In meiner Brigade | |
| waren wir zwölf, und es war nur für acht Arbeit da. Die Treuhandpräsidentin | |
| Birgit Breuel nannte diese Brigadegemütlichkeit in den Betrieben des | |
| Arbeiter- und Bauernstaates eine „versteckte Arbeitslosigkeit“. | |
| Für Engler förderte das „herrenlose Eigentum“ dagegen etwas Neues zu Tage: | |
| Geschlechter-, Standes- und Klassengrenzen wurden abgeschliffen, jeder und | |
| jedem wurde aufgrund der unantastbaren Stelle ein eigenes Leben ermöglicht | |
| und das „Gefühlsleben aus seiner Einbettung in Nützlichkeitserwägungen“ | |
| gelöst. Mit dem „Supergau Deutsche Einheit“, wie der Journalist Uwe Müller | |
| es nannte, galt all das aber plötzlich nicht mehr, stattdessen wurde ein | |
| „prekäres Leben Realität“, dem nun laut Jana Hensel eine „Rebellion von | |
| rechts“ folgt. | |
| 18 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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