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# taz.de -- Landtagswahlen in Ostdeutschland: Von der AfD lernen
> Eine „Alternative“ zur etablierten Politik? Die Parteien links der Mitte
> sollten der AfD in Ostdeutschland nicht das Monopol auf diesen Begriff
> überlassen.
Bild: Himmel in Sachsen, mit Werbung der AfD
Es ist ruhig geworden um den Osten. Die anstehenden Landtagswahlen in
Sachsen, Thüringen und Brandenburg gelten medial allenfalls als regionale
Ereignisse. Vor zehn Jahren war das noch anders, als die bundesdeutsche
Öffentlichkeit gespannt auf die Wahlen in den drei Ländern blickte. Von
einem „Denkzettel“ war die Rede, die die Ostdeutschen, diese als besonders
skeptisch und untreu geltenden Wähler, den etablierten Parteien verpassen
könnten. Wer im Osten verliert, so die damals gängige Interpretation,
besteht den Härtetest nicht, der ist keine vollwertige, gesamtdeutsche
Partei.
Die Zeiten der symbolischen Überfrachtung sind vorbei, die Parteien spulen
ihr Routineprogramm ab. Alle Parteien wollen mehr für Kinder tun und für
Bildung; Polizisten soll es auch mehr geben, und die heimische Wirtschaft
muss gestärkt werden, die, natürlich, nicht ohne Gerechtigkeit zu haben
ist. Nach den Wahlen wird es geräuschlose Koalitionsverhandlungen geben,
und dann wird still weiterregiert werden. Einzig die „Alternative für
Deutschland“, die in Sachsen gute Chancen hat, in den Landtag einzuziehen,
irritiert den politischen Betrieb.
Es scheint, als ob sich die ostdeutschen Länder nach den harten
Auseinandersetzungen der Nachwendezeit (Treuhandpolitik,
Massenarbeitslosigkeit, Stasi-Debatte, Bevormundungserfahrungen durch den
Westen) in einem fortwährenden Erholungs- und Konsolidierungsstadium
befinden – zumindest glauben das die etablierten Parteien, die
konfliktreiche Themen meiden und stattdessen die Heimat- und
Regionalstolzkarte ziehen.
„Ich bin Spitzenkandidat der SPD. Ich bin Sachse. Ich bin hier
aufgewachsen“, sagt Martin Dulig in seinem Werbespot. Ich bin kein
zugezogener Wessi, soll das heißen. Der Spruch führt einen vermutlich
unbeabsichtigten ethnisch-exklusiven Zug mit, der die Frage aufwirft, ab
wann man denn Sachse ist: nach 10 oder nach 20 Jahren? Oder muss man dort
geboren sein?
Für ostdeutsche Politiker wird es paradoxerweise immer wichtiger zu
betonen, dass sie „von hier kommen“. Nach fast 25 Jahren sollte es
eigentlich egal sein, ob ein Landespolitiker in Dresden geboren ist oder
erst nach 1990 gekommen ist. Offensichtlich sollen die Erfahrungen der
neunziger Jahre, in denen sich viele Ostdeutsche angesichts der
„Import-Wessis“ auf Führungspositionen fremdbestimmt fühlten, mit
reichlicher Verspätung kompensiert werden. Attraktiv für Zuzügler wird man
durch diese Ethnifizierung aber nicht.
## Endlich regiert kein Westdeutscher mehr
Unterschiede und Vielfalt werden glattgebügelt. Die bemerkenswerte
Tatsache, dass ein Angehöriger der sorbischen Minderheit, der slawischen
Volksgruppe in der Lausitz, Ministerpräsident von Sachsen ist, wird von
seiner Partei, der CDU, klein gehalten. Stanislaw Tillich war für sie im
letzten Wahlkampf „der Sachse“. Das Etikett sollte natürlich signalisieren,
dass endlich kein Westdeutscher mehr regiert, bedeutete aber auch eine
subtile Abgrenzung in die andere Richtung: keine Sorge, unser Landesvater
ist kein Slawe aus dem Osten, sondern einer von uns.
Der ostdeutsche Kuschelwahlkampf steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu
den weiterhin existierenden strukturellen Problemen. Zwar hat sich die
wirtschaftliche Lage mit dem Bundestrend deutlich gebessert. Aber die
Arbeitslosenquote ist weiterhin doppelt so hoch wie im Westen; die
Wirtschaftskraft verharrt bei 70 Prozent des Westniveaus. Die
Vermögensunterschiede zwischen Ost und West verfestigen sich. Der
Bevölkerungsschwund in Regionen wie der Prignitz, der Lausitz oder dem
Erzgebirge hält unvermindert an.
Vor zehn Jahren wurden Thesen der Publizisten Wolfgang Engler und Jens
Bisky populär, wonach die Ostdeutschen ihre Schwächen in Stärken verwandeln
sollten. Sie seien „Avantgarde“, weil sie flexibler seien, besser mit
Brüchen umgehen könnten und neue Wege jenseits der Arbeitsgesellschaft
beschreiten würden.
Heute lesen sich die Thesen, die sogar Parteiprogramme beeinflussten, als
reines Feuilleton und reichlich realitätsfremd. Ein reiches Land kann
seinem ärmeren Teil, einer ehemaligen Industriegesellschaft, nicht
postmoderne Experimente aufzwingen. Fantasien wie die von der
„nacharbeiterlichen Gesellschaft“ können in materiell gesättigten Systemen
gedeihen, nicht aber in einer Region mit wirtschaftlichem Nachholbedarf.
Die harten Fakten zählen. Das Kapital sitzt nicht im Osten, und das hat
Auswirkungen auf die Verteilung von Macht und Gestaltungsmöglichkeiten.
MinisterpräsidentInnen wie Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen oder
Volker Bouffier in Hessen können über formelle oder informelle Wege
Einfluss auf die großen Industrieunternehmen in ihrem Land nehmen und
dadurch Standortpolitik betreiben. Im Osten stehen meistens Filialen, deren
Zentralen woanders ihren Sitz haben.
## Ostdeutschland hat sich erpressbar gemacht
Nach dem dramatischen Abbau der Industrie in den frühen neunziger Jahren
hat sich Ostdeutschland erpressbar gemacht: Hier können Investoren
ungehemmt Regionen gegeneinander ausspielen und den Angsthebel ansetzen,
indem sie mit dem Verlust von Arbeitsplätzen oder der Rücknahme von
Versprechungen drohen. Wenn Vattenfall weitere Dörfer abbaggern will
zugunsten des Braunkohletagebaus, wird abgebaggert. Wenn der Sohn eines
ehemaligen Gazprom-Managers die großen Werften Mecklenburg-Vorpommerns
aufkauft, fragen die Landespolitiker nicht, woher das Geld kommt und welche
Zwecke der verfolgt. Der Investor, das schreckhafte Wesen, könnte ja
weiterziehen.
Alternativen links von der Mitte werden nicht wahrnehmbar diskutiert.
Selbst die Linkspartei, die in Thüringen und Sachsen stärker ist als die
SPD, hat äußerst vorsichtige Wahlprogramme aufgelegt. Die verwegenste
Forderung der sächsischen Linkspartei ist der Ruf nach einer
„Demokratisierung der Wirtschaft“. Aber selbst wenn sie die absolute
Mehrheit erringen sollte, wird sie keine Wirtschaftslenkung einführen.
SPD, Linkspartei und Grüne beschränken sich auf oberflächliche
Koalitionsspekulationen, wo eine gemeinsame, inhaltlich-strategische
Debatte ergiebiger wäre. Eine praktische Alternative wäre beispielsweise
der Aufbau öffentlicher Unternehmen, um weniger abhängig zu sein vom Willen
privater Kapitalgeber. Das wäre zu teuer? Der rote Teppich, den man für
private Investoren auslegte (Bau von Autobahnen, Wasserstraßen,
Regionalflughäfen, dazu die Fördermittel), war sehr teuer, brachte aber
nicht annähernd die erhoffte Anzahl von Arbeitsplätzen.
In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern wurden drastische Kürzungen
der Kulturetats durchgesetzt. Theatersparten werden geschlossen, weil sie
nicht rentabel sind. Gerade für ländliche Regionen bedeutet dieser Wegfall
von Kultur aber eine weitere Verödung. Die öffentliche Hand zieht sich
ausgerechnet dort zurück, wo sie besonders gebraucht ist.
## Weitermachen ist „pragmatisch“, Veränderung „ideologisch“
Alternativen aufzuzeigen heißt auch, dominierende Begriffsdeutungen in
Frage zu stellen. In der ostdeutschen Politik heißt „pragmatisch“,
weiterzumachen wie gehabt, während jeglicher Veränderungsanspruch,
besonders der von links, als „ideologisch“ bezeichnet wird. Ein aufgrund
der DDR-Geschichte verlässliches Totschlagargument. Dabei ist das auch
andersherum denkbar: „Ideologisch“ ist das Beharren auf Althergebrachtem,
während derjenige „pragmatisch“ handelt, der sich von ihnen löst, weil
sonst kein Fortschritt möglich ist.
Dazu besteht eine auffällige Kluft zwischen den Einstellungen der
ostdeutschen Wähler und ihrer Politiker. Sozialforscher stellen regelmäßig
fest, dass die Ostdeutschen der Marktwirtschaft skeptischer gegenüberstehen
als die Westdeutschen. Eine Mehrheit stellt einer Allensbach-Befragung vom
vergangenen Jahr zufolge sogar einen Widerspruch zwischen sozialer
Gerechtigkeit und Marktwirtschaft fest – die Planwirtschaft wünschen sie
sich nicht zurück, wohl aber eine stärkere Rolle des Staates. Wesentliche
Überzeugungen der Bevölkerung finden somit kein Echo bei den Parteien, die
mehrheitlich marktliberal programmiert sind.
Eine Kurskorrektur wäre somit nichts anderes, als die Wünsche der eigenen
Wähler zu berücksichtigen.
Ausgerechnet die konservativ-populistische AfD hat es geschafft, sich als
„Alternative“ zur etablierten Politik darzustellen. Die Parteien links der
Mitte sollten ihr in Ostdeutschland nicht das Monopol auf diesen Begriff
überlassen.
30 Aug 2014
## AUTOREN
Gunnar Hinck
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