| # taz.de -- Ausstellung zum russischen Kolonialismus: Namen sticken für die Er… | |
| > Indigene Gruppen aus Russland ringen teils schon lange um | |
| > Selbstbestimmung. Ihnen gilt in Berlin eine Ausstellung über | |
| > Kolonialismus und Vertreibung. | |
| Bild: Körpernachbildungen aus Filz von Gul Zeile: „Weiche Serie“ | |
| Russlands Krieg in der Ukraine lässt sich am Besten verstehen, wenn man ihn | |
| aus der imperialen und kolonialistischen Perspektive betrachtet, die | |
| Wladimir Putin und mit ihm viele Russ*innen einnehmen. Viel Material dazu | |
| bietet in Berlin die Ausstellung „Өмә“ in der neuen Gesellschaft für | |
| bildende Kunst (nGbK) im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien. Sie versammelt | |
| künstlerische Positionen und politische Analysen von Mitgliedern indigener | |
| Gemeinschaften, die im russischen Riesenreich teilweise seit Jahrhunderten | |
| um Selbstbestimmung ringen. | |
| Im Fokus stehen unter anderem Baschkirien, Tatarstan, Dagestan und | |
| Burjatien. Dabei handelt es sich um Regionen, in denen der Widerstand gegen | |
| die Einberufung in die russische Armee und den Einsatz im Krieg gegen die | |
| Ukraine besonders stark – und zum Teil auch erfolgreich – war. | |
| Die Bedeutung der Ausstellung zeigt sich schon daran, dass sie zu einer der | |
| besser – und divers – besuchten der nGbK gehört. Russische Worte sind zu | |
| hören, englische, deutsche und weitere Sprachen. | |
| Aufmerksam werden die weichen, aus hellem Filz gefertigten Fragmente | |
| weiblicher Körperteile in Gul Zeiles Arbeit „Soft Series“ betrachtet. Sie | |
| liegen in langen gläsernen Kästen, ähnlich den Überresten christlicher | |
| Märtyrer in katholischen Kirchen. Rote Farbpigmente sind eingewebt, die den | |
| Eindruck von fließendem Blut erwecken. Diese Zeichen des Leidens werden | |
| aber ergänzt durch ornamentale, farbliche Markierungen. | |
| Zeile stellt den weiblichen Körper als verletzt und erschöpft dar. Zugleich | |
| strahlen die Körperformen eine Kraft aus, die nahelegt, dass sie den | |
| gegenwärtigen Zustand auch überwinden können. | |
| ## Deportation nach Sibirien | |
| Victoria Sarangovas Arrangement „Motherland“ geht auf konkrete historische | |
| Ereignisse ein: Die Vertreibung von Angehörigen des Volks der Kalmücken in | |
| den 1940er Jahren unter Stalin nach Sibirien. Auf einem runden Tisch sind | |
| kleine Flaggen installiert, die auf das Schicksal von Kalmück*innen mit | |
| dem Namen Sarangova hinweisen, die in die Flaggen gestickt sind. | |
| Auch die Großeltern der Künstlerin wurden damals deportiert. Eine | |
| Zeitleiste mit Daten zu diesem Komplex läuft den äußeren Rand des Kreises | |
| entlang. Sarangova will die Installation später in die kalmückische Steppe | |
| bringen und so ein Zentrum von Andacht und Versammlung installieren. | |
| Direkt in die Gegenwart führen die Recherchen der un|rest group. Laut | |
| Selbstbeschreibung handelt es sich um eine linke anarchistische Gruppe. Sie | |
| hat zum einen Videos von Demonstrationen gegen den Krieg, die in | |
| verschiedenen Städten Sibiriens in den letzten 12 Monaten stattfanden, | |
| gesammelt. Sprechchöre mit „Nein zum Krieg“ und „Nein zum Völkermord“… | |
| zu hören. In weiteren Videos kommen Protagonist*innen von | |
| Unabhängigkeitsbewegungen indigener Völker in Russland zu Wort. | |
| Mehr als 100 unterschiedliche ethnische Gruppen leben in Russland. Laut der | |
| [1][Organisation Cultural Survival], die sich weltweit für die | |
| Selbstbestimmung indigener Gemeinschaften einsetzt, haben nur 41 von ihnen | |
| einen rechtlichen Status als sogenannte „kleine indigene Völker des | |
| Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens“. 24 weitere Ethnien leben in | |
| Gebieten mit Autonomiestatus. Etwa die Hälfte der Minderheiten verfügt | |
| demnach aber über keinerlei rechtlichen Schutz, betont Cultural Survival. | |
| In einer beeindruckend detailreichen Zeitleiste ab 1992, die komplett eine | |
| Wand bedeckt, dokumentiert die un|rest group zudem politische Ereignisse | |
| und Entscheidungen, die massiv die Rechte von Tatar*innen, | |
| Baschkir*innen und Tschetschen*innen eingeschränkt haben. | |
| Weitere Recherchen beschreiben massive Verwicklungen europäischer | |
| Politiker*innen, vor allem der Rechten wie der Linken, ins koloniale | |
| Konzept des Putin’schen Russlands. So werden Reisen von Vertreter*innen | |
| von AfD und der Linken in russisch besetzte Gebiete im Donbass | |
| dokumentiert, bei denen laut un|rest group sogar materielle Hilfe für die | |
| Separatisten übergeben worden sei. | |
| Deutlich wird dabei, wie tief das Gift des imperialen russischen Denkens | |
| über verschiedenste Netzwerke in den politischen Diskurs Westeuropas | |
| eindrang. Ein Stöbern in den vor allem digital verfügbaren größeren | |
| Konvoluten – QR-Codes in der Ausstellung erlauben Zugang – lässt regelrecht | |
| erschauern. | |
| All das legt den Schluss nahe, dass eine Befriedung – auch des | |
| Ukraine-Konflikts – nur über die Überwindung des kolonialen und imperialen | |
| Geists dieses letzten großen Kolonialreichs zu erreichen ist. Da gibt sich | |
| freilich auch die un|rest group keinerlei Illusionen hin, dass das schnell | |
| geschehen könnte. Die diversen Unabhängigkeitsbewegungen der einzelnen | |
| Völker sind dazu (noch) zu klein und zu schwach. | |
| Beim Free Nations Forum im September 2022 im polnischen Gdańsk wurde | |
| immerhin eine Karte eines postkolonialen Russlands mit 43 unabhängigen | |
| Republiken und Gebieten veröffentlicht. Schade, dass diese auch ästhetisch | |
| beeindruckende geopolitische Spekulation keinen Weg in die Ausstellung | |
| fand. Das Verdienst von „Өмә“ immerhin ist es, auf hierzulande weitgehend | |
| ignorierte Konflikte im russischen Reich einzugehen. | |
| 18 Mar 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.culturalsurvival.org/news/who-are-indigenous-peoples-russia#:~:… | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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