# taz.de -- Ausstellung Kaleidoskop der Geschichten: Agenten auf Zeitreise | |
> Eine erste umfassende Ausstellung zur ukrainischen Kunst von der Moderne | |
> bis heute. Zu sehen im Albertinum Dresden. | |
Bild: Modell mit Blumen, 2019, von Maria Kulikovska | |
Es klingt etwas dystopisch, was sich Fedir Tetjanytsch unter dem Idealraum | |
für die menschliche Existenz, als Utopie in der Katastrophe vorstellt. Die | |
„Biotechnosphäre“, eine kugelförmige Kapsel, in der der Mensch im Falle | |
einer Natur- oder Atomkatastrophe völlig eigenständig leben sollte, steht | |
im Zentrum des Denkens des ukrainischen Künstlers und Philosophen | |
[1][Tetjanytsch, dessen Archiv im letzten Jahr aus der Ukraine geschmuggelt | |
wurde]. | |
Man kann es sich bildlich vorstellen: Apathisch in einer Metallkugel | |
sitzend, blickt der Homo Dystopicus auf eine öde Landschaft, bestenfalls | |
ein paar verstrahlt-verstörte Tiere sind am Horizont auszumachen. Doch | |
Tetjanytsch, dessen Skizzen und Ölgemälde einen funkigen 70er-Sci-Fi-Charme | |
zwischen Stanisław Lem und „La Planète sauvage“ versprühen, hat die Gefa… | |
der Vereinsamung mitgedacht: Die „Biotechnosphären“ lassen sich | |
zusammenschließen, sodass eine Gemeinschaft entsteht, eine autarke | |
Kleinstadt aus Überlebenden. | |
Das Anpassungsfähige, die Wichtigkeit des zweiten Blicks, ist etwas, das | |
die gesamte Ausstellung „Kaleidoskop der Geschichte(n)“ auszeichnet, die im | |
Dresdener Albertinum aktuell und in Deutschland erstmalig einen Überblick | |
über ukrainische Kunst von 1912 bis heute gibt. Die Bolschewiki, Stalin, | |
schließlich die Gründung eines Staates – Zensur und Zweideutigkeit | |
verhandelten die ukrainischen Künstler:innen stets neu, im | |
sozialistischen Realismus wie in avantgardistischen Strömungen. | |
In Dresden sind einige dieser Zeugnisse der ukrainischen Moderne nun | |
erstmals außerhalb des Landes zu sehen, wie etwa „Blumen und Nüsse“ (1958) | |
von Kateryna Bilokur. Die Farben des Stilllebens sind so satt aufgetragen, | |
dass man meint, eher auf Brokat denn auf Leinwandtuch zu schauen. Bilokur | |
galt als [2][„naive“ Künstlerin, die nie eine formale Kunstausbildung | |
genoss]. Zeitlebens kämpfte sie gegen die Vorurteile ihrer Dorfgemeinschaft | |
an, die Frauen lieber am Herd als an der Staffelei sah. | |
## Sonnenblumen sprießen aus Soldatenkörpern | |
Einen ganz anders gearteten Widerstand thematisiert heute Anna | |
Zvyagintseva. Ihr „Sustainable Costume for an Invader“ ist aus | |
durchsichtigem Material gefertigt, in das kleine Samen vernäht wurden. Der | |
Anzug ist fleischgewordene Erzählung der ersten Kriegstage: Als eine Frau | |
aus der Region Cherson russischen Soldaten begegnete, schleuderte sie ihnen | |
Samen entgegen, die sie in ihre Taschen stecken sollten. „Wenigstens werden | |
Sonnenblumen sprießen, wenn eure Körper hier liegen“, soll sie gerufen | |
haben. | |
Die Geschichte hat Anna Zvyagintseva schwer beeindruckt, wie sie bei der | |
Ausstellungseröffnung erzählt. Sie wollte einen Anzug schaffen, der als | |
dünne Schicht direkt auf der Haut liege, noch unter der Uniform. In der | |
Ukraine würden die russischen Soldaten dieser Tage häufig mit wilden Tieren | |
verglichen, sagt sie. Dabei sei das Beängstigende doch, dass hinter den | |
Gewehren und in den Panzern Menschen steckten. | |
In der gesamten Ausstellung ist eine bemerkenswerte Feinfühligkeit zu | |
spüren, ein Verständnis für den Anderen, der unter anderer Flagge und mit | |
anderen Erzählungen aufwuchs. Der Krieg ist präsent, jedoch vor allem als | |
infernalisches Übel. Was sich bei [3][der ukrainischen Dichterin Iryna | |
Tsilyk] durch die Wahl des Schuhwerks verdeutlicht – „Menschen in | |
Flip-Flops gegen Menschen in Kampfstiefeln / Obwohl, nein, da gibt es kein | |
„Gegen“ / Keinen Gegensatz“ – zeigt sich in Dresden im Verzicht auf | |
Nationalfarben: Am Anfang und am Ende ist der Mensch nackt. | |
So nackt wie die Skulptur von Maria Kulikovska. Die 1988 auf der Krim | |
geborene Künstlerin hat einen Abdruck ihres Körpers in ballistische | |
Gelatine gegossen. Aus dem gleichen Material werden Testfiguren für | |
Schusswaffen gefertigt. Statt Blutbahnen zeichnen sich unter der Haut | |
jedoch Blumen aus Kunstseide ab. Auch wegen der fehlenden Arme erinnert das | |
Modell an die Skulpturen der koreanischen Künstlerin Meekyoung Shin, die | |
antike Statuen aus Seife fertigt. | |
## Porträt einer Anarchokommunistin | |
Eine der wenigen Werke, die Kriege und Gewalt nicht metaphorisch, sondern | |
in ihrer Grausamkeit konkret darstellen, ist das Aquarell „Maria“ von Davyd | |
Chychkan. Darauf rückt Chychkan die in Kriegszeiten oft übersehene Gruppe | |
der Anarchist:innen ins Licht. Die 1919 hingerichtete | |
Anarchokommunistin Maria Nikiforova schaut auf dem papiernen Gemälde in der | |
gleichen Pose auf die Betrachterin wie auf dem einzigen Foto, das von ihr | |
existiert. Während auf dem Porträtfoto jedoch ein selbstbewusstes Lächeln | |
den Mund Nikiforovas umspielt, ist der Ausdruck auf dem Gesicht der | |
gemalten Revolutionärin mehrdeutiger. Sechs leblose Körper liegen hinter | |
ihr, in verschiedenfarbigen Uniformen. | |
Dass es die Gemälde, Skulpturen, Installationen, Foto- und Videoarbeiten | |
aus der angegriffenen Ukraine nach Deutschland schafften, war keine | |
Selbstverständlichkeit. „Wir wussten bis eine Woche vor Ausstellungsbeginn | |
nicht, ob die Kunstwerke ankommen würden“, sagt Maria Isserlis, die mit | |
Tatiana Kochubinska diese sehenswerte Ausstellung kuratiert hat. | |
Das seltsamste Bild der Ausstellung ist auch das einzige, das nicht genau | |
datierbar ist. Vermutlich 1986 oder -87 aquarellierte der Gründer der | |
Odessaer Konzeptualisten Serhiy Anufrijew einen „Agenten“ auf Stoff, auf | |
allen drei Plätzen eines Treppchens gleichzeitig sitzend. Mit einem | |
spitzbübischen Lächeln wringt er Wolken aus. | |
Obwohl Anufrijew seinen Agenten nur wenige Jahre in die Zukunft versetzt – | |
mit 1998 ist das Bild signiert – lässt er ihn unwissentlich in einer neuen | |
Weltordnung auferstehen. In den 90er Jahren schlüpft aus der zerspringenden | |
Hülle der Sowjetunion das neue Russland. | |
10 May 2023 | |
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[1] /Ukrainische-Kunst-vor-dem-Krieg-schuetzen/!5863933 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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