# taz.de -- Ausstellung Nadia Kaabi-Linke in Berlin: Die Haken der Geschichte | |
> Die Sowjets beschlagnahmten vor etwa 100 Jahren Kunst aus der Ukraine. | |
> Künstlerin Nadia Kaabi-Linke hat ihr nachgespürt und zeigt, was aus ihr | |
> wurde. | |
Bild: Sicht in Nadia Kaabi-Linkes Ausstellung „Seeing Without Light“ im Ham… | |
Das Bildnis von Alexej Iwanowitsch Rykow muss immer wieder arglos in | |
irgendeine Nische geschoben worden sein. Ganz abgeschürft ist die Farbe am | |
Rand der Leinwand, und der sandbraune Malgrund ragt in das | |
Rokokointerieur, vor dem Isaak Brodsky den sowjetischen Politiker Rykow in | |
den 1920ern im Stil des sozialistischen Realismus porträtierte. Der aus dem | |
ukrainischen Berdjansk kommende Brodsky hatte viele aufgestiegene und | |
gefallene Helden der frühen UdSSR gemalt. Doch das Porträt von Rykow taucht | |
in den Inventarlisten nicht mehr auf. Auch das Gesicht wurde übermalt. | |
Rykow fiel den [1][stalinistischen Säuberungen] zum Opfer. Er wurde 1938 | |
exekutiert. Die Sowjets beschlagnahmten das Gemälde. | |
In der soeben eröffneten Berliner Ausstellung „Seeing Without Light“ gibt | |
es eine mit Acrylfarbe bedeckte Kompositplatte, die den Maßen des | |
Rykow-Porträts entspricht. Nur ein schwarzes Rechteck hängt da. Doch wenn | |
man mit den Fingern über seine reliefartige Oberfläche streift, kann man | |
die Verschandelungen des Originals ertasten, spürt die Schürflinien, die | |
Übermalungen. Was man da fühlen kann, das sind die materiellen Spuren von | |
politischem Terror. | |
Nadia Kaabi-Linke, die in Berlin lebende Konzeptkünstlerin, Jahrgang 1978, | |
Tochter einer Ukrainerin und eines Tunesiers, hat jetzt für den Hamburger | |
Bahnhof mit diesen Reliefs eine beeindruckende Installation geschaffen. | |
Künstlerisch hoch konzentriert und minimalistisch. Acht solcher schwarzen | |
Platten zeigt sie, dahinter werfen sich wie ein heller Schatten weiße | |
Flächen an die Wand. Mehr sieht man nicht in „Blindstrom for Kazimir“. Von | |
Brodski oder Rykow erfährt man nichts. | |
Auch nicht von Iryna Zhdanko. Im dunklen Kubismus hielt sie um 1927 die | |
Armut auf Kyjiws Straßen fest. Die Avantgardekünstlerin überlebte den | |
Holodomor, den Vernichtungskrieg der Nazis, den Stalinismus, doch ihr | |
kritisches Gemälde sollte nicht sein. Diese Fakten kann man spüren entlang | |
der reproduzierten Falten und Kratzer, entlang Kaabi-Linkes materiellem | |
Destillat von einer Gewalt an den Bildern und gleichsam von einer Gewalt an | |
einer Kultur in der Ukraine. | |
## Die den Sowjets unliebsamen Avantgarden | |
Seit einigen Jahren hat Kaabi-Linke gemeinsam mit der ukrainischen | |
Kunsthistorikerin Daria Prydybailo, nun Kuratorin am Hamburger Bahnhof, | |
Verbleib und Zustand von Gemälden einer geheimen Sammlung erforscht. Der | |
„Spezfond“ umfasst mehrere Hundert Bilder ukrainischer Künstler:innen | |
aus den 1920er und 1930er Jahren, viele von ihnen Vertreter:innen der | |
damals florierenden und den Sowjets unliebsamen Avantgarden. Sie wurden von | |
der Zentralregierung in Moskau beschlagnahmt und zensiert. Die Werke | |
sollten vernichtet werden. Das vereitelte paradoxerweise der Einmarsch der | |
deutschen Wehrmacht. Viele Bilder des „Spezfond“ landeten in Prag, dann in | |
Moskau, einige gelangten später zurück nach Kyjiw ins Nationalmuseum. | |
Ursprünglich wollte Kaabi-Linke ihre Reliefs in der Ukraine neben den | |
Originalen ausstellen. Doch dann begann Russland seinen brutalen | |
Angriffskrieg. Kaabi-Linke zeigt in Berlin nun nur noch die schwarzen | |
Platten. Und sie schlägt in ihrer Installation den Bogen zu uns. Denn wo | |
die Originale hätten sein können, sind weiße Schatten zu sehen. | |
Leerstellen. [2][Was wissen wir eigentlich über die ukrainischen | |
Avantgarden?] Warum haben wir einen in der Ukraine aufgewachsenen Kasimir | |
Malewitsch in den hiesigen Museen so lange als Vertreter einer russischen | |
Avantgarde behandelt, ohne genug anzuerkennen, dass auch er einst von den | |
Sowjets verfolgt wurde? | |
Während Putin jetzt erneut im Krieg [3][die Existenz der Ukraine grausam | |
infrage] stellt, holt Kaabi-Linke mit „Blindstrom for Kazimir“ eine Kunst | |
hervor, deren tragische Geschichte eigentlich schon vorwegnahm, was sich | |
heute im Krieg reproduziert. Und sie tut dies auf eine einprägsame und | |
kluge Weise. | |
Und das hätten die Kurator:innen der Ausstellung, Sam Bardaouil und | |
Daria Prydybailo, wohl einfach so stehen lassen können, als eine | |
Möglichkeit in einem Museum für zeitgenössische Kunst über diesen Krieg in | |
der Ukraine nachzudenken. Doch „Seeing Without Light“ ist gleich eine ganze | |
Werkschau von Nadia Kaabi-Linke. Ohne Zweifel eine interessante Künstlerin. | |
Die Haken der Geschichte, gesellschaftliche, auch ökologische Konflikte | |
materialisiert sie in präzisen, vergeistigten Bildern. Gleich 18 ihrer | |
Werke zeigt die Schau. Zu viel, zu heavy. | |
## Kuhmägen an Fleischerhaken | |
Man sieht eine Parkbank, die mit Vogelspikes zum Folterinstrument | |
umgewandelt wurde. Sie steht in Richtung des historischen [4][Bahnsteigs | |
69, von dem einst Juden deportiert wurden]. Man sieht Glastafeln, auf denen | |
Kaabi-Linke 2012 Narben eingravieren ließ. Marken [5][von häuslicher Gewalt | |
an Frauen]. Fragile Keramikabdrucke von Kuhmägen hängen an polierten | |
Fleischerhaken. | |
Wie will man, fragt man sich beim Besuch der Berliner Schau, den | |
empfindlichen Stellen von Geschichte und Gesellschaft nachspüren, wenn man | |
in so bildlicher Schärfe mit ihrer Fülle konfrontiert wird? Man kann es | |
eigentlich nicht. Der Minimalismus von Nadia Kaabi-Linkes einzelnen | |
Kunstwerken, er hätte auch der gesamten Ausstellung gelten müssen. | |
11 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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