| # taz.de -- Ukrainische Kunst in Köln: Den Blick verschieben, Labels ändern | |
| > Die ukrainischen Avantgarden tauchen in der Kunstgeschichte kaum auf. Das | |
| > Museum Ludwig versucht sie in einer Ausstellung umzuschreiben. | |
| Bild: Installationsansicht „Hier und Jetzt“ mit Malereien von Konstjantyn J… | |
| Mit Beginn des russischen Angriffskriegs offenbarte sich für die westliche | |
| Kulturszene ein blinder Fleck. Durch Putins Leugnung der | |
| Existenzberechtigung einer ganzen Nation stellte man sich zum vielleicht | |
| ersten Mal die Frage nach einer eigenständigen ukrainischen Kunst. Dabei | |
| sind ukrainische Künstler:innen der historischen Avantgarden – anders | |
| als die häufig in den Depots vergessenen oder gar nie erst gesammelten | |
| Künstler:innen einer nicht-westlichen Moderne – sehr wohl in Museen von | |
| Berlin bis New York präsent. Nicht selten werden sie als Highlight | |
| vermarktet, allerdings unter dem Label der sogenannten Russischen | |
| Avantgarde. | |
| Die Kategorie „Russische Avantgarde“, 1962 durch die Britin Camilla Gray | |
| eingeführt, fasst die vielfältigen künstlerischen Experimente zwischen der | |
| Jahrhundertwende und den 1930er Jahren im Russischen Reich und der späteren | |
| Sowjetunion zusammen. | |
| Die darunter subsumierten [1][Strömungen Suprematismus], Konstruktivismus | |
| oder Kubofuturismus etablierten sich neben prominenten westeuropäischen | |
| Ismen zum Who’s who der Vorkriegsmoderne. Doch beim kunsthistorischen | |
| Versuch, die kreativen Impulse eines riesigen Gebiets, das neben dem | |
| heutigen Russland Teile des Baltikums, Südost- und Osteuropas umfasste, auf | |
| gemeinsame Ursprünge herunterzubrechen, entstanden auch blinde Flecken. Das | |
| weiß man heute. | |
| Dass bedeutende Künstler:innen wie Kasymyr Malevytsch in der heutigen | |
| Ukraine lebten, studierten oder arbeiteten, findet in dieser | |
| Kunstgeschichtsschreibung keine Erwähnung. Vielmehr galten sie als | |
| Vertreter „russisch-imperialer Avantgarden“ – eine Bezeichnung, anhand | |
| derer der 1949 geborene Literaturwissenschaftler Oleh S. Ilnytsky den | |
| historischen Entstehungskontext dieser Künste zu fassen versucht. | |
| ## Antikoloniale Ausstellungspolitik | |
| Das Kölner Museum Ludwig ist für seine Sammlung ebendieser | |
| avantgardistischen Strömungen bekannt. Deshalb versucht es nun in seiner | |
| aktuellen Schau „Hier und Jetzt im Museum Ludwig. Ukrainische Moderne | |
| 1900–1930 & Daria Koltsova“ eine Art antikoloniale Ausstellungspolitik zu | |
| betreiben: Es will die ukrainische Moderne als eigenständige | |
| Kunstgeschichte erzählen. Kyjiw, Charkiw oder Odessa gelten in dieser Schau | |
| nicht als Peripherie, sondern als wichtige Schnittstellen der Künste. | |
| An diesen Orten kamen ab den 1910er Jahren regionales Handwerk, | |
| internationale Avantgarde und sowjetische Einflüsse zusammen. Eine eigene | |
| Kunstszene entwickelte sich während der bolschewistischen | |
| Ukrainisierungspolitik, die nach Zerfall des Russischen Reichs und | |
| dreijähriger ukrainischer Unabhängigkeit ab 1921 die lokale Kultur und | |
| Sprache unterstützte. | |
| Ukrainische, polnische oder russische Künstler:innen waren dort aktiv. | |
| [2][Malevytisch etwa schuf in diesem Umfeld] zusammen mit Bäuerinnen aus | |
| der Ukraine suprematistische Stickereien. Alexandra Exter wiederum verwob | |
| in ihren Theaterdesigns Kubismus und Futurismus mit ukrainischen | |
| Volkstraditionen. | |
| In Köln wird für die kurze Zeit der ukrainischen Unabhängigkeit eine | |
| lebhafte, kreative Szene präsentiert. Umso drastischer erscheint der | |
| politische Kurs, den die Bolschewiki in der nächsten Dekade einschlugen. | |
| Hier wurde, wie die Kuratorin Tetyana Filevska beschreibt, „die ukrainische | |
| Kunst des 20. Jahrhunderts […] – buchstäblich wie symbolisch – Opfer und | |
| Geisel politischer Prozesse“. In der Sowjetukraine wurden Künstler:innen | |
| besonders strikt verfolgt. Man warf ihnen „Formalismus“ vor – ein | |
| Sammelbegriff für Abweichungen von der sozialistisch-realistischen | |
| Staatskunst. | |
| ## In kollektive Vergessenheit geraten | |
| Unter vorgeschobenen ästhetischen Argumenten verfolgte Stalin besonders | |
| diejenigen, die sich künstlerisch für die Eigenständigkeit der Ukraine | |
| einsetzten. Der Maler Mychajlo Lwowytsch Bojtschuk, Mitbegründer und | |
| Rektor der ukrainischen Staatlichen Akademie der Künste in Kyjiw, wurde | |
| 1936 hingerichtet, kurz darauf seine Ehefrau. Trotz umfassender | |
| Zerstörungen blieben einige Kunstwerke der ukrainischen Moderne in geheimen | |
| oder privaten Sammlungen erhalten, aber dennoch geriet sie bis in die | |
| 1960er Jahre in kollektive Vergessenheit. | |
| Während zur Zeit des Kalten Kriegs die Erforschung der eigenen | |
| Kunstgeschichte in der UdSSR von Repressionen begleitet war, fand man | |
| westlich des Eisernen Vorhangs großes Interesse an den frühen sowjetischen | |
| Avantgarden. Und die westliche Kunstgeschichte popularisierte viele ihrer | |
| Werke, allerdings unter russischem Label. | |
| Sehr bald nach Beginn des russischen Angriffskriegs im letzten Jahr | |
| begannen Museen wie das New Yorker Met, dann in entsprechenden Titeln und | |
| Biografien auf die Ukraine zu verweisen. Es ist ein erster symbolischer | |
| Schritt zur Rehabilitierung. | |
| Zugleich birgt eine erneute nationale Einhegung von Kunst und | |
| Kunstgeschichte aus der Ukraine die Gefahr, sie nur verkürzt zu erfassen. | |
| Wie soll man Künstler:innen mit komplexen Lebenswegen darin deuten? Wie | |
| umgehen etwa mit Sonia Delaunay-Terk, als Tochter einer jüdischen Familie | |
| im ukrainischen Hradysk geboren, in Sankt Petersburg aufgewachsen, mit | |
| Station in Deutschland nach Frankreich übergesiedelt, wo sie dann ab den | |
| 1910er Jahren ihre berühmte geometrische Malerei entwickelte? | |
| Es geht in Köln um Nuancen. Es geht darum, ukrainische Einflüsse | |
| auszuarbeiten und mit einem noch immer auf Russland fokussierten Kanon zu | |
| brechen. Und darum, ein durchlässiges Narrativ zu entwickeln, das | |
| polnische, jüdische, viele andere kulturelle Impulse auffängt. Man schaut | |
| dann auf die lokalen Zentren der ukrainischen Avantgarden, auf das | |
| Kunstinstitut in Kyjiw, die Szene in Charkiw. Eine Umschreibung der | |
| Kunstgeschichte einer ukrainischen Moderne beginnt mit einer | |
| Blickverschiebung, unter anderem auf einstige blinde Flecken. | |
| 8 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Schlücker | |
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