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# taz.de -- Junge ukrainische Kunst: Verwischte Verwesung
> Das Stadtmuseum Berlin stellt in „Motherland“ junge ukrainische
> Künstler:innen aus. In ihren Arbeiten tasten sie das Konstrukt Heimat
> ab.
Bild: Zhenia Stepanenko „Der Milchkappenpilz wird zum Schmetterling und Pfiff…
Wer da wann ermordet wurde, bleibt in der Installation Nikolay
Karabinovychs zunächst im Dunkeln. „Es ist ein schrecklicher Fehler
unterlaufen“ ist die Konstruktion aus Schreibtisch und an die Wand
gehefteten Papieren überschrieben, die sich nur dahingehend einordnen
lässt, dass der Diplomat, der an dem betagten Holztisch an seinem MacBook
saß, Russisch sprach und dachte. Lediglich die Todesart dieses namenlos
bleibenden Abgesandten gibt Aufschluss auf sein mögliches Vorbild. Ende
2021 war auf dem Gelände der russischen Botschaft in Berlin ein Diplomat zu
Tode gekommen. Die scheinbare Zufälligkeit dieses Todesfalls hat dabei
durchaus kafkaeske Züge: Die Ehefrau des 35-jährigen Russen hatte ihren
Mann gebeten, das Fenster zu schließen. Als sie kurz danach ins Zimmer
trat, habe der unten auf dem Gehweg gelegen. Hinausgeweht, -gestoßen oder
-gestürzt?
Die aktuell im Stadtmuseum ausgestellten Videos, Fotos und Bilder sind
Auftragsarbeiten, entwickelt und geschaffen nach Beginn des russischen
Angriffskriegs gegen die Ukraine. Auf den Krieg in seiner jetzigen Form
gehen jedoch nur wenige Arbeiten direkt ein. Die gleich eingangs platzierte
„Schweigeminute“ ist da eine Ausnahme. Lesia Khomenko lässt auf der
Leinwand fünf Soldaten auf je unterschiedliche Art zerbrechen. Die
Betrachterin ist geneigt, das Zerfallen des Gesichts [1][in Richtung des
Suprematismus eines Kasimir Malewitsch zu interpretieren], doch vor allem
verweisen die geometrisch verfremdeten Gesichtszüge auf das
Unkenntlichmachen von Personen im Internet, so erfährt man.
Die meisten der teilnehmenden ukrainischen Künstler:innen setzen jedoch
später an. Ihre Arbeiten gehen von einem Nachkriegszustand aus, in dem Sieg
oder Niederlage schon keine Rolle mehr spielen. So entwirft Zhenia
Stepanenko den postapokalyptischen Rahmen eines Survival-Games, in dem der
Alltag nach dem nuklearen Fallout nur noch in Schutzanzügen bestritten
werden kann. Ausgerechnet die eigentlich besonders nachtragenden Pilze –
fast vierzig Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl sind einige
Wildpilzsorten immer noch radioaktiv belastet – schützen jedoch vor der
weiter anhaltenden Strahlung. Mittels Schwarzschimmelsporen, so zeigt es
Stepanenko in einer Videoarbeit, setzen die Überlebenden den Prozess der
Radiosynthese auf den Oberflächen ihrer Kleidung in Gang. Auch das
Acrylgemälde von [2][Kateryna Lysovenko] geht von einem
Post-Katastrophenzustand aus. Was hier als idyllisch-utopische Nachwelt
imaginiert wird, präsentiert sich jedoch eher als Ödland: Der Krieg ist
vorbei, doch was bleibt von der Welt, von einst geliebten Landstrichen?
Heimat, die erklärtermaßen in „Motherland“ hinterfragt werden soll, ist e…
nebelhaftes Konstrukt in der deutschen Sprache und Dichtung. Kaum
übersetzbar bezeichnet sie im positiven Sinne ein Gefühl, das mit
Ländergrenzen wenig zu tun hat, sorgt aber, offensiv-aggressiv als Antrieb
sogenannter Leitkultur formuliert, ebenso vielerorts für Ablehnung.
Unzählige Weisheiten ranken sich in Form von Kalendersprüchen um die
Heimat, deren Wert man erst in der Fremde schätzen lernt (Theodor Fontane),
oder die den einzigen Ort darstellt, wo Heimkehr und Aufbruch nicht im
Widerspruch zueinander stehen (Friedrich Hölderlin, dem 35 Jahre lang ein
enges Turmzimmer Heimat war). Ebendieser Widerspruch zeichnet sich für
unter Beschuss oder im Exil lebenden Ukrainer:innen seit über einem Jahr
deutlich ab.
So ist in der von Valeria Schiller kuratierten Ausstellung die Rede vom
Mutterland – und Land ist hier durchaus wörtlich gemeint. Denn mitunter
geht es bis auf die Zellebene, wie in [3][Anna Zvyagintsevas] Arbeit zu
Grashalmen, die hinter dem Schlachtfeld wachsen, oder dem handwerklich
interessantesten, auf Holz gemalten Bild „Knochen werden zu Gärten“ von
Krystyna Melnyk, auf dem sich genau das abzeichnet; verwischte Verwesung.
Wenn es auch nicht das Land an sich ist, das ein Gefühl der Heimat
hervorruft, so ist es doch zumindest der Boden, der die auf ihm laufenden
Menschen am Leben hält. So vollzieht Kateryna Aliinyk den
Perspektivwechsel, begibt sich mit ihrem Gemälde „Doppeltes Ackerland“ tief
in die Erde, in ihren Vorratskeller, indem nicht nur das die Künstlerin
ernährende Gemüse lagerte, sondern der sie auch vor dem Beschuss der 2014
den Osten der Ukraine besetzenden russischen Armee schützte. In bräunlichen
Tönen lässt Aliinyk den Boden Zeuge werden: Gemüse, Raketentrümmer, Körper
und Panzerspuren erzählen vom rücksichtslosen Chaos des Kriegs, der in den
Alltag eindringt. Radioaktive Pilze wie Landminen beweisen es: Erde
vergisst langsam.
23 Jun 2023
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## AUTOREN
Julia Hubernagel
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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