# taz.de -- Entdeckungen im Estnischen Kunstmuseum: Postsowjetische Schatzkamme… | |
> Das Estnische Kunstmuseum in Tallinn überrascht mit Zeugnissen einer Zeit | |
> geprägt von Trauer, Galgenhumor und Subversion. Hier sind sie unbekannt. | |
Bild: Postsowjetische Installation: Raoul Kurvitz, Pentatonic Color System II. … | |
Zwischen einer Reihe bemerkenswerter Selbstporträts von Künstlerinnen wie | |
Künstlern sticht ein „Autoportree pärlitega“, ein Selbstporträt mit | |
Perlenkette, besonders ins Auge. Gemalt hat es Karl Pärsimägi (1902–1942), | |
datiert ist es auf das Jahr 1935. Männer in Crossdressing findet man einige | |
in der Kunstgeschichte – aber wer hat sich zu dieser Zeit schon selbst | |
entsprechend porträtiert, mit direktem Blick in Richtung Betrachter? | |
Auch die anderen Arbeiten des Künstlers bleiben hängen: Außenansichten und | |
Interieurs von einer ganz eigenen Farbigkeit, die er mit schnellem, betont | |
grobem Strich festhielt oder wohl besser erschuf. Man kann sich gut | |
vorstellen, dass Pärsimägi in seiner späten Wahlheimat Paris als | |
aufstrebender Maler gehandelt wurde. Dazu kam es nicht: Die | |
Nationalsozialisten und ihre Vichy-Verbündeten beendeten sein Leben jäh. | |
Vermutet wird, dass er als Homosexueller verfolgt und in Auschwitz-Birkenau | |
ermordet wurde. | |
Zum ersten Mal im Kumu, dem Estnischen Kunstmuseum in Tallinn, zu Besuch, | |
machten wir nicht eine, sondern unzählige solcher Entdeckungen. Jede Wand | |
des mehrstöckigen Gebäudes mit seiner Dauersammlung durch mehrere | |
Jahrhunderte förderte neue Künstlerinnen und Künstler zutage, deren Bilder | |
man noch nie zuvor gesehen hatte – also auch nicht in kunstgeschichtlichen | |
Bänden abgedruckt oder in den internationalen Kunstmagazinen im Netz | |
besprochen. | |
Der Nationalsozialismus nimmt dabei, das fällt auf, eher eine Nebenrolle | |
ein. Deutlich präsenter ist die Ära der Sowjetunion. Dokumente von | |
Performances, urkomische bis tiefmelancholische Malerei, architektonische | |
Interventionen im öffentlichen Raum, Gebrauchs- und Kunstgrafik, | |
Zeichnungen. Unzählige Zeugnisse einer Zeit, die oft von Trauer, Ärger, | |
lähmender Schwere, aber auch Galgenhumor und einer gigantischen | |
künstlerischen Subversion geprägt war. Die Ära der 1990er Jahre mit ihrem | |
auch künstlerisch-medialen Aufbruch wäre damit noch gar nicht beschrieben. | |
## Geschichte ist komplex | |
Eine aktuell sehr virulente Auseinandersetzung innerhalb postsowjetischer | |
Kunst- und insbesondere Filmschaffender formuliert gerade ein Themenpanel | |
beim [1][Go-East-Filmfestival], das am Wochenende in Wiesbaden startet: | |
„Decolonizing the (Post-)Soviet Screen“ soll Anlass zur Diskussion bieten, | |
inwieweit das Konzept sich auf die heutigen Staaten Zentralasiens, der | |
Ukraine, Belarus, die baltischen Länder, den Kaukasus und die Russische | |
Föderation mit ihren autonomen Regionen übertragen ließe. | |
Dabei geht es auch um ganz praktische Fragen wie die Wiederentdeckung | |
filmischer Arbeiten jenseits der Epizentren Moskau und Sankt Petersburg. | |
Geschichte ist komplex, doch gerade die Künste bieten Raum für solcherlei | |
Paradoxien und Ambivalenzen. Wenngleich die Forderung nach Freiheiten oft | |
unmissverständlich formuliert wird. Das führt bisweilen zu interessanten | |
Verrenkungen im Kulturbetrieb, wo man sich etwa zwar öffentlichkeitswirksam | |
mit den Ukrainerinnen und Ukrainern solidarisiert, zugleich aber | |
[2][traditionell skeptisch dem Westen als Idee und Versprechen | |
gegenübersteht]. | |
In den Malereien, Performances und Videos von Künstlerinnen und Künstlern | |
zur Zeit der Sowjetunion wie in den Werken osteuropäischer Filmemacherinnen | |
und -macher heute ist da bisweilen ein ganz anderes Niveau an | |
Ambiguitätstoleranz formuliert. Auch bei der eigenen identitätspolitischen | |
Verortung. Doch selbst ganz ohne tagesaktuelle politics lohnt sich das | |
Anschauen und Hinhören, allein, um den eigenen Blick auf die | |
(Kunst-)Geschichte zu weiten und vertiefen. | |
In Tallinn, Vilnius und vielen weiteren Metropolen Osteuropas gibt es ganze | |
Dekaden, vielleicht eher Jahrhunderte nachzuholen. Und die Sammlungen der | |
postsowjetischen Schatzkammern werden wie ihre Künste laufend | |
fortgeschrieben. | |
30 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Go-East-Festival-in-Wiesbaden/!5095327 | |
[2] /Konferenz-der-documenta/!5883150 | |
## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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