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# taz.de -- Ausstellung in Hannover: Im Wohnzimmer der erodierten Werte
> Von der Expo bis zum NSU: Die Künstlerin Henrike Naumann setzt sich mit
> den Täuschungen und Enttäuschungen der Wiedervereinigung auseinander.
Bild: Hatte sogar mal eine Serie auf dem Kinderkanal KiKa: Expo-Maskottchen Twi…
Hannover taz | „Platz der Weltausstellung“ heißt in der Innenstadt
Hannovers ein kleiner Übergangsbereich, hinter dem die Karmarsch- und die
Osterstraße dann zur Fußgängerzone werden. Ansonsten scheint nicht nur in
der niedersächsischen Landeshauptstadt die Erinnerung an die [1][Expo 2000]
weitgehend verblasst, vielleicht auch aktiv verdrängt worden zu sein. Dabei
war diese Weltausstellung die allererste und einzige, die jemals an
Deutschland vergeben wurde, wenn man spezialisierte Gewerbe- oder
Bauausstellungen nicht mitzählt.
Dass die Expo so wenig des Erinnerns wert scheint, hat viele Gründe, nicht
nur das finanzielle Defizit von 1,1 Milliarden D-Mark, das angesichts
späterer, steuerfinanzierter Bankenrettungen ja wirklich nur die
sprichwörtlichen Peanuts wären. Ganz wesentlich war wohl, dass die Expo
historisch so zur Unzeit kam: Die Bewerbung datierte von 1988, also aus
Zeiten eines geteilten Deutschlands, der offizielle Zuschlag am 14. Juni
1990 ging dann bereits im Wiedervereinigungstaumel unter.
Dem folgten allerdings schnell die Ernüchterung flächendeckender
Deindustrialisierung des Ostens und nun auf ganz andere Weise blühende
Landschaften, als sie Kanzler Kohl allen vorgegaukelt hatte. Die Expo wurde
somit auch zum Zeitzeugen des sich unter westlichen Siegerallüren so
diskrepant wiedervereinenden Deutschlands, das im eigenen
[2][Nationenpavillon] folglich nur noch den architektonischen wie
inhaltlichen Tiefpunkt der Weltausstellung zu liefern vermochte.
Aber genug des Räsonierens, denn es gibt durchaus Menschen, die sich um ein
ehrenvolles Andenken der Expo bemühen, so der Verein [3][Exposeeum]. Er
betreibt mit über 1.000 Relikten der Weltausstellung – Souvenirartikeln,
Gastgeschenken, Mobiliar oder baulichen Resten der Pavillons – ein kleines
Museum im alten Expo-Gelände der Messe Hannover.
## Rentner auf Expo
Ein noch überhaupt nicht aufbereiteter Schatz des Vereins sind rund 10.000
Masterbänder mit Filmaufzeichnungen aus der 153 Tage währenden
Weltausstellung. Gefilmt, so scheint es, wurde alles. „Rentner auf Expo“
ist etwa eine Kassette vom 11. Oktober 2000 beschriftet, es gibt „Küsse
unterm Wasserfall“ oder (Proben-)Mitschnitte der vielen hoch- wie
trivialkulturellen Musikdarbietungen des Begleitprogramms: Tosca bis Modern
Talking.
Und es gibt [4][Twipsy], das offizielle Maskottchen der Expo. Ein
Wettbewerb kürte 1995 aus 17 Vorschlägen den Entwurf des spanischen
Designers [5][Javier Mariscal]: eine bunte comicartige Figur mit
vogelhaftem Kopf und übergroßer rechter Hand. Twipsy fungierte
zweidimensional als Aufsteller, dreidimensional als Kuscheltier oder als
Plüschkostüm für einen menschlichen Akteur.
Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Künstlerin [6][Henrike
Naumann] auf Twipsy und die Expo stieß. Pfarrerstochter Naumann, 1984 in
Zwickau geboren, ist derzeit der gleichermaßen [7][eloquente wie originelle
Shootingstar der deutschen Kunstszene], kann trotz ihrer jungen Jahre eine
lange Liste internationaler Ausstellungen und Preise vorweisen.
## Postmoderne möbliert
Naumanns Generalthema: die deutsche Wiedervereinigung. Sie legt
nachdenklich, aber alles andere als moralisierend den Finger in die Wunden
deutsch-deutscher Verwerfungen. Als die Mauer fiel, war sie gerade mal
fünf, erzählt sie, politisches Bewusstsein für das, was geschah, war somit
noch nicht entwickelt. Sie studierte später Bühnen- und Kostümbild sowie
Szenografie, fühlte sich aber immer zum Dokumentarischen hingezogen.
Also suchte sie einen an Artefakten festzumachenden Erzählstrang für die
Wiedervereinigung – und fand ihn in den Möbeln postmodern westdeutscher
Machart, die in den 1990er-Jahren in den Ostwohnungen Einzug hielten. Eine
verunsicherte Bevölkerung entsorgte damals mehr als willig ihren alten
DDR-Hausrat, um mit den Neuerwerbungen vermeintlich auf die Höhen
westdeutscher Konsumstandards und Wohnkultur aufzuschließen.
Im [8][Kunstverein Hannover] hat Henrike Naumann derzeit einen bunten
Parcours installiert, in dessen Zentrum ein großes Möbelarrangement eben
jener Provenienz steht, das Westen, Osten und Expo 2000 symbolisiert. Point
de vue ist der „Traueraltar Deutsche Einheit“. Die Kredenz mit
halbkreisförmigem Klappfach ist spirituell aufgeladen mit allem, was zum
Sehnsuchtshorizont westlicher Warenwelten der DDR-Bürger gehörte:
Schnickschnack, exklusive Labels, Kosmetika.
Aber, sagt Naumann, auch hier folgte ja schnell die Desillusionierung: Die
vermutet teure Lux-Seife aus den Westpaketen entpuppte sich während erster
Reisen dorthin als Billigprodukt vom Discounter, ähnlich die
Milka-Schokolade. Zwei Kränze mit lila Kuhfellimitat tragen symbolisch
diese Träume zu Grabe – und zwei Baseballschläger künden bereits von der
Radikalisierung dafür empfänglicher Bevölkerungsteile.
Auch diesem Strang folgt Naumann, in die Ausstellung sind thematische
Videos eingestellt. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ bewegt sie
sichtlich: Der erste Mord wurde am 9. September 2000, also noch während der
Expo, verübt. Und als Beate Zschäpe am 4. November 2011 die Wohnung in der
Zwickauer Frühlingsstraße in Brand setzte, war Naumann gerade zu Besuch bei
ihrer Großmutter, ganz um die Ecke.
## Simulierter Museumsshop
Naumanns Reflexionen zur Expo schöpfen aus dem Fundus des Exposeeums. Neben
einem simulierten Museumsshop am Eingang und einer Auswahl an Expo-Filmen
am Ende des Rundgangs wäre da auch [9][ein grausliches Öl-Porträt von
Birgit Breuel]. Es ist eines der Gastgeschenke, in diesem Fall der
Arabischen Emirate, und stellt die [10][Expo-Generalkommissarin] vor
orientalischer Kulisse dar.
Die CDU-Politikerin wirkte in den Jahrzehnten vorher jedoch nicht nur als
Ministerin im Niedersächsischen, sie war ab 1991 [11][Präsidentin der
Treuhand]. Deren Aufgabe war es, die volkseigenen Betriebe der
untergegangenen DDR nach den Grundsätzen westdeutscher Marktwirtschaft
„wettbewerbsfähig“ zu machen. Häufig bestand Breuels Mittel der Wahl in d…
Stilllegung, eine Handlungsmaxime, aus der sie auch nie einen Hehl gemacht
hatte. Die Westindustrie freute es jedenfalls.
Den so unverhofft zugefallenen Ostmarkt konnten sie locker mitbeliefern,
nicht nur mit Billigvarianten postmodernen Möbeldesigns. Dass dabei aber
ganz andere Werte erodierten als lediglich das Wohnzimmerinterieur,
bekommen wir heute zu spüren – und dank Henrike Naumann einmal
assoziationsreich vor Augen geführt.
18 Jul 2019
## LINKS
[1] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/expo-2000-in-hannover-was-wurde-…
[2] http://dp.expo2000.de/rueckblick/rueckblick.html
[3] http://www.expo2000.de/
[4] https://www.youtube.com/watch?v=f3ur4LK4yPU
[5] http://www.designlexikon.net/Designer/M/mariscaljavier.html
[6] http://www.henrikenaumann.com/
[7] https://www.zeit.de/2019/12/kunstausstellung-ostalgie-henrike-naumann-wohnm…
[8] http://www.kunstverein-hannover.de/
[9] http://www.kunstverein-hannover.de/files/naumann-birgitbreuel_thomasganzenm…
[10] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-19285799.html
[11] /Historiker-ueber-die-Treuhand/!5517592
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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