# taz.de -- Historiker über die Treuhand: „Es gab Proteste, Streiks, Drohbri… | |
> Marcus Böick hat die erste zeithistorische Untersuchung zur Treuhand | |
> geschrieben. Er sagt: Die Verletzungen von damals bestimmen die Politik | |
> von heute. | |
Bild: Marcus Böick am Berliner Alexanderplatz. Hier hatte die Treuhand ihren S… | |
taz am wochenende: Herr Böick, Sie haben für Ihr Buch über die Treuhand mit | |
einstigen Mitarbeitern dieser Megabehörde gesprochen. Zwischen 1990 und | |
1994 haben dort 4.000 Menschen an der Abwicklung der DDR-Wirtschaft | |
gearbeitet. Was waren das für Leute? | |
Marcus Böick: Das war ein soziokulturelles Wimmelbild. Meine Interviews | |
haben mich vom Ostberliner Plattenbau bis in die Villengegenden von | |
Frankfurt, Hamburg oder München geführt. In Marzahn haben mich ältere | |
ostdeutsche Treuhandmitarbeiter zu einer Bockwurstsuppe eingeladen; in | |
Frankfurt haben mir ehemalige Direktoren mit Blick über die Skyline | |
erzählt, wie sie diese Zeit erlebt haben. Allein das zeigt die Bandbreite | |
dieses Themas, die Pluralität des Personals. | |
Was war die Motivation der westdeutschen Führungskräfte? Warum sind die | |
nach Ostberlin gekommen, sind in lausige Büros marschiert, mit schlechtem | |
Essen vor der Tür? Die sogenannte Buschzulage für Westdeutsche, die im | |
Osten arbeiteten, kann ja nicht ausschlaggebend gewesen sein. | |
In der polemischen Auseinandersetzung werden natürlich solche Sachen wie | |
die Buschzulage in den Vordergrund gerückt. Und klar, bei manchen jüngeren | |
westdeutschen Nachwuchskräften spielte es eine Rolle, dass man sehr viel | |
Geld bei der Treuhandanstalt verdienen konnte. | |
Konnte man? | |
Konnte man durchaus. Als westdeutscher Direktor oder Abteilungsleiter hat | |
man für öffentliche Verhältnisse sehr gut verdient. Der Bundesrechnungshof | |
hat zu dieser Frage diverse wütende Gutachten geschrieben. Aber die | |
Treuhand hat immer gesagt: Wenn wir Spitzenpersonal haben wollen, müssen | |
wir auch Spitzenpersonal bezahlen. | |
Und, kam Spitzenpersonal? | |
Durchaus. Aber um auf die Motivation zurückzukommen: Es gab unter diesen | |
Leuten viele Manager, für die stand nicht das Geld im Vordergrund. Manche | |
hatten eine patriotische Motivlage: Ich pack jetzt mal an für Deutschland. | |
Diese Antwort kam bei meinen Befragungen so oft, die sollte man ernst | |
nehmen, finde ich. Es gab Manager, die sagen heute: Mich hat einzig die | |
superspannende Aufgabe interessiert, ich hatte mit Schwarz-Rot-Gold nichts | |
am Hut. Und es gab Leute, die fanden es gut, jetzt endlich Schluss machen | |
zu können mit der Planwirtschaft. Die wollten die Marktwirtschaft nach | |
Ostdeutschland bringen. | |
Wie bewerten diese Manager im Nachgang das Jonglieren mit der Zukunft von | |
Millionen Menschen? | |
Ambivalent. Auf der einen Seite empfinden sie ihre Treuhandzeit als einen, | |
wenn nicht sogar den Höhepunkt ihrer Berufslaufbahn. Da waren Sachen | |
möglich, die weder vorher noch danach möglich gewesen wären. Genau das war | |
übrigens später für die jungen Treuhandmitarbeiter ein großes Problem. Die | |
waren um die dreißig und hatten das Gefühl, beruflich das Beste schon | |
hinter sich zu haben. | |
Und wie bewerten die ostdeutschen Treuhandmitarbeiter das Erreichte? | |
Die Mehrheit der Treuhandmitarbeiter waren in der Tat ältere Ostdeutsche, | |
meist aus den aufgelösten Plankommissionen und Branchenministerien. Diese | |
Leute waren meist sehr froh, der im Jahr 1990 drohenden Arbeitslosigkeit | |
entgangen zu sein und beim Umbau ihr Wissen über die Branchen und Betriebe | |
einbringen zu können. Aber gerade von den Ostmitarbeitern werden die | |
massiven sozialen Konsequenzen des scharfen Privatisierungskurses sehr | |
häufig hervorgehoben. | |
Eine richtige Gossip-Frage: Koks und Nutten. Gab es das bei der Treuhand? | |
Das gab es, ja. Gerade die jüngeren Nachwuchsmanager hatten im | |
Nachwende-Berlin eine gute Zeit. Die haben im Hotel gewohnt, haben sehr | |
viel Geld verdient. Die gingen in die angesagten Clubs, tranken Cocktails | |
und prahlten dort, was sie heute wieder alles bewegt haben. Dieses | |
Yuppie-Klischee ist zwar ein gängiges Vorurteil, aber es hat natürlich eine | |
gewisse Erdung gehabt. | |
Das klingt nach einer sehr männlichen Unternehmenskultur. | |
Die Treuhandanstalt war auch gendermäßig ein total interessantes Gebilde. | |
Die obere und mittlere Ebene war nahezu komplett männlich besetzt, auf der | |
untergeordneten arbeiteten Frauen, ostdeutsche Frauen. Für deren | |
Vorgesetzte war das spannend. Und klar, da gab es auch einiges an, sagen | |
wir mal, Interaktion auf einer privaten Ebene. In einem Interview hat ein | |
Manager offenherzig über seine soziale Belastung gesprochen. Er war immer | |
weg, im Osten, und wenn er am Wochenende nach Hause kam, fiel er sofort ins | |
Bett. Seine Frau und die Kinder hörten nur die ganzen Horrorstorys aus den | |
Medien. Und der Vater kam dann am Wochenende nach Hause … | |
… kam wie so ein Verbrecher nach Hause… | |
… ja, fiel ins Bett und fuhr dann wieder zurück nach Ostberlin. Und dort | |
waren die neuen ostdeutschen Frauen, die für ihn einen anderen Frauentypus | |
repräsentierten. Zu Hause saß die Hausfrau des Versorgers und im Büro die | |
burschikose Ostfrau. Das erzeugte natürlich eine ganz eigentümliche | |
Genderdynamik. Die Treuhandchefin Birgit Breuel war die Ausnahme, die die | |
Regel absolut bestätigt hat. | |
Birgit Breuel war eine im Osten gehasste Person. Es gab erniedrigende | |
frauenfeindliche Karikaturen und Witze über sie. Was wissen Sie über Frau | |
Breuels Sicht auf diese Zeit? | |
Ich hatte einmal die Gelegenheit, persönlich mit Birgit Breuel zu sprechen. | |
Sie äußert sich eigentlich kaum noch öffentlich. Mein Eindruck ist, die | |
Zeit hat bei ihr massive Verwundungen hinterlassen. Sie hat das natürlich | |
alles registriert. Und man muss rückblickend sagen, dass der Ton gerade | |
auch von links brutal war: das hässliche Gesicht der Privatisierung, die | |
kalte Frau, die deutsche Maggie Thatcher, die Rabenmutter. Das volle | |
Repertoire. | |
Das erinnert an die heutige Kritik von rechts an Angela Merkel. | |
Genau, wie bei Merkel. Die beiden sind übrigens befreundet. Ich habe Birgit | |
Breuel gefragt: Was macht das eigentlich mit Ihnen als Frau? Jeder Artikel, | |
der von Ihnen handelt, beschreibt erst mal Ihr Äußeres. Da hat sie | |
sinngemäß gesagt: Ein toller Mann ist halt ein toller, erfolgreicher Mann; | |
und eine tolle, erfolgreiche Frau ist im Blick der Medien keine Frau mehr. | |
Das hat sie umgetrieben. Sie war in den siebziger, achtziger Jahren eine | |
neoliberale Nachwuchspolitikerin, hatte eine steile politische Karriere | |
hinter sich. Aber man merkt schon, dass diese extreme Treuhandzeit sie noch | |
einmal verändert hat. Sie hat Jahre unter Personenschutz gelebt und war mit | |
massiven Vorhaltungen konfrontiert. | |
Breuels Vorgänger, Detlev Rohwedder, wurde 1991 von der RAF ermordet, die | |
Täter sind bis heute unbekannt. Musste man Angst haben, wenn man für die | |
Treuhand arbeitete, auch wenn man nicht der Chef war? | |
Definitiv. Es hat zum Beispiel immense Probleme bereitet, einen Nachfolger | |
für den erschossenen Detlev Rohwedder zu finden. Viele, die infrage | |
gekommen wären, haben gesagt: zu gefährlich. Auch andere mussten Angst | |
haben, wenn auch nicht um das eigene Leben. Wenn man als Treuhandmanager in | |
die Betriebe gefahren ist und dort die Abwicklung zu verkünden hatte, waren | |
das grenzwertige Situationen. Es gab auch etliche Versuche, das | |
Treuhandgebäude zu besetzen, mit Eiern zu bewerfen, die Straße davor zu | |
blockieren. Es gab Proteste, Streiks, Drohbriefe. Alles. | |
Wie fühlte sich das für die ostdeutschen Mitarbeiter an, wenn draußen ihre | |
eigenen Leute protestiert haben? | |
Die waren zwischen Baum und Borke. Manche haben niemandem erzählt, dass sie | |
für die Treuhand arbeiten. Und wenn doch, gab das im Freundeskreis, im | |
Familienkreis ganz erhebliche Konflikte. Einfach weil man den Ruf hatte, | |
Kollaborateur zu sein. Diese Verschworenheit nach innen hat die | |
Treuhandmitarbeiter übrigens durchaus zusammengeschweißt. Man stand | |
gemeinsam an der östlichen Front und wurde beschossen. | |
Wenn die Sprache auf die Treuhand kommt, sagen selbst manche Ostdeutsche | |
heute, sie sei alternativlos gewesen. Die DDR-Wirtschaft sei am Boden | |
gewesen, marode. Stimmt das? | |
Das ist ein ganz heißes Eisen. Es wird bis heute darüber gestritten, wie | |
viel wert war denn das, was da eigentlich zu Buche stand bei der Treuhand | |
1990? Es gibt viele Zahlen, die durch den Raum geistern. Der | |
DDR-Regierungschef, Hans Modrow, sprach von 1.000 Milliarden Mark, die das | |
Volksvermögen wert war, Detlev Rohwedder nannte 600 Milliarden Mark. Am | |
Ende aber schloss die Treuhandanstalt mit einem Defizit von über 250 | |
Milliarden D-Mark ab. Was man daran sehen kann, ist die – abstrakt | |
gesprochen – Kontextgebundenheit von Wertzuschreibung. | |
Geht das ein bisschen konkreter? | |
Das geht. Etwas, was eben noch viel wert sein kann, kann unter veränderten | |
wirtschaftspolitischen Bedingungen nichts mehr wert sein. Der ehemalige | |
Chef der SPD-Volkskammerfraktion, Richard Schröder, erzählt gern von seinem | |
Wartburg, der bis zum Mauerfall sein größter Schatz war. Und wenig später | |
hat er ihn nicht mal mehr verschenkt bekommen. In Bezug auf die | |
DDR-Ökonomie war der 1. Juli 1990, der Tag der Wirtschafts- und | |
Währungsunion, eine Art Tag des Jüngsten Gerichts. Sie müssen sich | |
vorstellen: Die DDR-Planwirtschaft, die ohnehin viele strukturelle und | |
ökologische Probleme hatte, sehr schlecht eingebettet war in internationale | |
arbeitsteilige Prozesse – die geriet durch die Währungsunion natürlich | |
völlig ins Hintertreffen. Die DDR-Betriebe mussten auf einmal ihre Löhne in | |
D-Mark bezahlen, aber die hatten sie nicht … | |
… während gleichzeitig die Leute ihre Möbel, ihre Waschmaschinen auf die | |
Straße geschmissen haben. | |
Genau. Die Leute wollten kaufen, Westwaren kaufen. Und die Treuhand | |
verschaffte den Betrieben kurzfristig die nötige Liquidität. Innerhalb | |
weniger Monate wurden 20, 30 Milliarden Mark mit der Gießkanne verteilt. | |
Das Argument der Politik war: Wenn wir das Geld nicht zahlen, gibt es | |
Volksaufstände. Die westdeutsche Öffentlichkeit hatte ohnehin große Angst, | |
dass jetzt Ostdeutsche in Strömen über die offene Grenze nach | |
Westdeutschland kommen. In den Wohnungsmarkt, in den Arbeitsmarkt und so | |
weiter. Und die hätte man damals nicht an der Grenze zurückweisen können, | |
das waren ja Landsleute. Deshalb sagte man, okay, wir müssen den Wohlstand | |
schnell zu den Leuten bringen. Also: Bleibt da, ihr kriegt die D-Mark. Dann | |
gibt es auch bei euch sehr bald ein zweites deutsches Wirtschaftswunder. | |
Aber das hat nicht funktioniert. | |
Das hat überhaupt nicht funktioniert. Aber man hat im Frühjahr 1990 daran | |
geglaubt. | |
Dieser Glaube an ein zweites Wirtschaftswunder – war das Idiotie? | |
Das würde ich nicht sagen. Ich habe eher den Eindruck, man war | |
orientierungslos. Überwältigt. In Bonn regierten zu dieser Zeit | |
wirtschaftsliberale Politiker wie Horst Köhler und Thilo Sarrazin. Deren | |
zentrale Jugend- und Kindheitserfahrung war der Nachkriegs-Boom, das | |
Wirtschaftswunder, mit Ludwig Erhard als zentraler Figur. Und diese Leute | |
standen im Frühjahr 1990 vor einer historischen Situation. Von allen Seiten | |
kamen Vorschläge: Lasst die DDR erst mal weitermachen, gebt den Kombinaten | |
Handlungsspielraum, vereinbart internationale Joint Ventures, holt die | |
Japaner ran. Solche Geschichten. Am Ende griffen die Ministerialbeamten in | |
Bonn auf Ludwig Erhard zurück. Dessen Credo war: Lasst die Marktkräfte | |
walten, haltet die Politik da so weit wie möglich raus – dann gibt es das | |
Wirtschaftswunder. | |
Hat ja schließlich schon mal funktioniert. | |
Genau. Wenn man auf einmal achttausend volkswirtschaftliche Betriebe vor | |
die Tür gekippt bekommt, scheint es sehr attraktiv, den freien Markt walten | |
zu lassen. Die Westdeutschen empfanden das als Verheißung: Wir wissen was | |
wir tun, und es wird nichts kosten. Denn das war die Angst, die sie total | |
umtrieb: wegen der Ossis Wohlstandseinbußen zu haben. Stattdessen hat man | |
sich selbst beschwichtigt: Da entsteht jetzt ein sich selbst tragender | |
Aufschwung, die blühenden Landschaften kommen, keiner muss dafür bezahlen. | |
Und für die Ostdeutschen war die Idee ebenfalls sehr attraktiv. Die | |
dachten, es gibt so einen Urknall, wenn die westdeutschen | |
Wirtschaftswunderdoktoren kommen. Da ruckelt das mal ein paar Wochen. Und | |
dann auf einmal sind die Läden voll, alle haben Arbeit und das Leben geht | |
weiter. Nur besser. | |
Sind wir ein naives Volk? | |
Die Deutschen sind nicht naiv. Mein Eindruck ist: Die Deutschen kennen oft | |
keine Mittellagen. Sie sind entweder ganz oben oder ganz unten. Ob bei der | |
Währungsunion, in der Flüchtlingskrise oder zuletzt bei der Fußball-WM: nur | |
im Himmel oder gleich in der Hölle. Dazwischen gibt es kaum Normaltöne. | |
1990 schlug das binnen wenigen Monaten komplett um. Von völliger Euphorie | |
über die Wiedervereinigung hin zu totaler Ernüchterung und Ablehnung. Das | |
Gleiche hat sich 2015 abgespielt. Ist das naiv? Ich weiß es nicht. | |
Vielleicht ist es dialektisch. | |
Sind die Ostdeutschen Opfer der Treuhand? Ist dieses Gefühl berechtigt? | |
Ich tue mich schwer mit diesem Begriff. Man muss das zeithistorisch | |
betrachten. Was man sagen kann, ist, dass damals Ostdeutsche nicht in dem | |
Maße bei den Privatisierungen zum Zuge gekommen sind, wie sich selbst die | |
Treuhandführung das erhofft hatte. Nur ganz wenige Ostdeutsche konnten | |
Betriebe übernehmen, schon weil ihnen das Geld dafür fehlte. Und dieses | |
Gefühl, nicht richtig beteiligt worden zu sein, das bohrt. Stattdessen | |
bekam man westdeutsche Vorgesetzte, man wurde entlassen, in Kurzarbeit oder | |
Frührente geschickt. Wer keine Arbeit mehr fand, wurde in oft endlose | |
Bewerbungstrainings oder sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gesteckt. | |
Man hat hier sehr viele sozialpolitische Instrumente eingesetzt, die aber | |
das subjektive Entwertungsgefühl vieler Menschen nicht kompensieren | |
konnten. | |
Was bleibt davon im gesellschaftlichen Gedächtnis? | |
Die Selbstwahrnehmung der Ostdeutschen als Opfer, als Bürger zweiter | |
Klasse. Das ist sehr präsent, und das sollte man auch durchaus ernst | |
nehmen, ohne es abzutun. Es ist ein Faktum. Man kann natürlich sagen: Warum | |
jammert ihr? Ihr habt die Transfermilliarden bekommen, im Vergleich zu | |
anderen Tranformationsländern in Osteuropa seid ihr weich gefallen. Aber es | |
geht da nicht nur um materielle Fragen, sondern vor allem um symbolische. | |
Wenn Sie mit Ihrem Buch in Ostdeutschland auftreten, wie sind dann die | |
Reaktionen? | |
In Ostdeutschland bekommt man auch in kleineren Städten bei perfektem | |
Sommerwetter schnell sechzig Leute in einen überhitzten Saal. Die lauschen | |
andächtig und haben dann ein großes Bedürfnis, darüber zu reden. Die sind | |
froh, dass sie über ihre Umbrucherfahrungen sprechen dürfen. | |
Aber das dürfen sie doch. | |
Natürlich. Und sie tun es auch sehr intensiv im Privaten. Aber in der | |
Medienöffentlichkeit, auch in der wissenschaftlichen und politischen | |
Öffentlichkeit spielen diese Ost-West-Themen, diese intensiven | |
Umbrucherfahrungen kaum eine Rolle. Das fängt bei der Bundesregierung an, | |
bei der Bundeskanzlerin. Und das setzt sich fort in einem weitgehenden | |
Desinteresse in Westdeutschland. | |
Wie ist denn dort die Reaktion auf Ihre Forschungsergebnisse? | |
Da ist Desinteresse, aber auch viel Unsicherheit und Unwissenheit. Im | |
Westen weiß man im Prinzip nicht, was eigentlich im Osten in den neunziger | |
Jahren passiert ist. Man kennt die Schlagworte, aber es scheint so ein | |
verbrauchtes, verbranntes Thema. Es wird bei Lesungen im Westen viel über | |
Transfermilliarden gesprochen, über Undankbarkeit und Rechtsextremismus. | |
Aber insgesamt ist die Treuhand kein Thema, das die Leute im Westen des | |
Landes mobilisiert. Und das ist Teil des Problems: Jeder bleibt in seiner | |
Echokammer. Denn es ist klar erkennbar: Dieser Ost-West-Gegensatz ist eine | |
zentrale gesellschaftliche Konfliktlinie in Deutschland, die keine | |
politische Repräsentanz findet. | |
Es gibt einen [1][Ostbeauftragten der Bundesregierung]. Das ist doch was. | |
Das ist natürlich Symbolpolitik. Fakt ist, die Bundesregierung erkennt das | |
Ostthema als solches nicht an. Und wenn, wird es immer sehr hysterisch | |
verhandelt – wenn es um AfD-Erfolge geht oder um Fremdenfeindlichkeit und | |
Gewalt. Das ist natürlich wichtig, aber eine völlig einseitige Perspektive. | |
Wenn man Ihnen so zuhört, erscheinen die frühen neunziger Jahre als eine | |
harte Zeit. | |
Eine sehr harte Zeit. Es ist keine reine Erfolgsgeschichte, das muss man | |
ehrlich sagen. Und das macht es natürlich schwierig, damit umzugehen. Man | |
kann es geschichtspolitisch nicht instrumentalisieren in der Form, dass | |
man sagt: Wir sind stolz darauf, was da passiert ist. Es sind viele Fehler | |
gemacht worden. Viele Erwartungen sind massiv enttäuscht worden. Und | |
deshalb eignet sich das natürlich nicht zur nationalen Mythenbildung, im | |
Gegenteil. Es bilden sich gesellschaftliche Gegenmythen. Die Bundespolitik | |
macht bis heute einen Bogen drum. Da wird dann immer formelhaft geredet von | |
den Anstrengungen, die die Ostdeutschen unternommen haben und so weiter. | |
Aber was konkret passiert ist, das wurde unter den Teppich gekehrt. | |
Es hat aber doch irgendwie geklappt. | |
Ja, hat doch geklappt, und was wollen die Ossis eigentlich? Der Konsum | |
läuft, sie können reisen, sie können wählen. Aber so einfach ist es eben | |
nicht. Das eine war das Management, das andere ist das Problembewusstsein. | |
Es hätte gerade auch eine kulturelle Begleitung gebraucht. Man hätte die | |
Menschen mitnehmen müssen, ihnen erklären, was mit ihnen passiert, wo man | |
letztlich auch gemeinsam in Ost und West hinmöchte. | |
Das klingt, als seien die Ostdeutschen eine schützenswerte Spezies. | |
Es gibt eine Reihe von Autoren, die sagen, die Ostdeutschen sind bis heute | |
eine große Minderheit in Deutschland, so wie auch Menschen mit | |
Migrationshintergrund oder andere Gruppen. Dieser Vergleich ist sehr | |
unscharf, weil Ostdeutsche schon mal andere Startvorteile hatten, etwa beim | |
Wahlrecht. Aber von der Grundfrage her lohnt es, das mal so zu betrachten. | |
Man kann durchaus sagen: Deutschland ist ein Land, das immer große Probleme | |
hat mit seinen Minderheiten. | |
Die Ossis als Minderheit – ist das nicht übertrieben? | |
Man muss das ernst nehmen. Viele Ostdeutsche, das ist jetzt ein bisschen | |
Küchenpsychologie, leiden ganz massiv unter diesem Gefühl der | |
Unterlegenheit. Anfang der neunziger Jahre war es vereinfacht gesagt so: | |
Ein Westdeutscher wird dein Chef und erklärt, wie du was zu machen hast. | |
Und alles, was du vorher konntest, ist wertlos; du lernst das jetzt schön | |
neu, so wie ich dir das erkläre. Ostdeutsche haben hautnah erlebt, wie | |
Deutsche insgesamt mit anderen Kulturen umgehen. Immer von oben und | |
erklären, wie es richtig, ordentlich gemacht wird. Und unter dieser | |
Erfahrung haben sie natürlich sehr gelitten. | |
Was meinen Sie, wäre das heute nachholbar, heilbar? Als gesamtdeutsches | |
Projekt? | |
Das ist die Frage. Ich denke, dass wir mehr darüber sprechen sollten, was | |
die Wende für das ganze Land bedeutet hat, für das Miteinander. Ohne | |
direkte Schuldzuschreibungen, sondern ganz offen. Und zwar von beiden | |
Seiten. Wenn nicht, fliegt uns das Unausgesprochene, das Verdruckste | |
politisch am Ende womöglich um die Ohren. | |
15 Jul 2018 | |
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Anja Maier | |
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