# taz.de -- Anschläge auf „Programm-Schänke“: Unter Druck | |
> Das Bajszel in Berlin-Neukölln hat sich dem Kampf gegen Judenhass | |
> verschrieben. Seit Monaten attackieren Hamas-Freunde die Kneipe, verbal | |
> und tätlich. | |
Bild: Andrea Reinhardt und Alexander Carstiuc vor ihrem Bajszel, im Hintergrund… | |
Berlin taz | Ein Besucher warnt im Internet vor dem Lokal: „Extrem | |
feindliche Atmosphäre“. Ein anderer schreibt von „unappetitlichem und | |
schlechtem Essen“. Ein Dritter beschwert sich darüber, dass die Betreiber | |
„schreckliche politischen Ansichten“ vertreten würden. Stehen da etwa, | |
fettige Bockwurst servierend, kahl geschorene Neonazis hinter der Theke, | |
und das mitten im hippen Berlin? Schließlich, so eine weitere über die | |
Gaststätte geäußerte Bewertung, seien da Deutsche am Werk, die über | |
„Antisemitismus“ sprechen würden, aber Juden keine Chance gäben, das Wort | |
zu ergreifen. | |
Das mit den Neonazis ist die falsche Fährte. Es geht bei diesen | |
orchestrierten Negativbewertungen um etwas anderes. Eine Person, die sich | |
„Cecilia Pedersen“ nennt, bringt die Sache auf den Punkt. Sie habe, so | |
schreibt sie, in der Gaststätte eine „unhöfliche, ungemütliche zionistische | |
Atmosphäre“ erlebt. Was eine „zionistische Atmosphäre“ ist, erklärt sie | |
nicht. Es muss auf jeden Fall etwas sehr Unangenehmes sein. Und es hat | |
zweifellos mit Juden und Israel zu tun. Auch mit Antisemitismus? Ja, aber | |
einem Judenhass, der es nicht bei Schmähungen im Internet belässt. | |
Erst vor wenigen Tagen, [1][in der Nacht zum 30. Oktober,] versuchten | |
Unbekannte mit einem Pflasterstein eine Scheibe des Lokals zu zerstören. | |
Dort, wo der Stein die Scheibe traf, sind jetzt sternförmige Risse zu | |
erkennen. Doch das Glas hat gehalten – wieder einmal. | |
Gut einem Monat zuvor kam es schon zu einem versuchten Brandanschlag. Eine | |
Nachbarin habe damals am frühen Morgen ein Geräusch gehört, erzählt | |
Alexander Carstiuc, einer der drei Betreiber der Kneipe. Dann habe sie | |
Menschen gesehen, die ein Feuer in einem Behältnis entzündeten und offenbar | |
mit einem Hammer versuchten, eine der großen Fensterscheiben einzuschlagen, | |
um den brenneden Behälter in die Gaststätte zu werfen. Die Türschlösser | |
hatten die Angreifer zuvor verklebt. Der Angestellte, der in der Kneipe | |
übernachtete, war damit eingesperrt. Doch die Fensterscheiben aus | |
Sicherheitsglas hielten dem Angriff stand. Die Personen entkamen, bevor die | |
alarmierte Polizei eintraf. | |
Die Betreiber sind sich einig: Das war ein Mordversuch. „Es rettete uns nur | |
das Sicherheitsglas“, sagt Kneipenfrau Andrea Reinhardt. | |
## Die Betreiber kommen aus der Antifa-Szene | |
Willkommen im Bajszel, einer Kneipe ohne Gourmetallüren. Gelegen tief in | |
Neukölln an einem kleinen Platz, wo sich zwei Straßen in spitzem Winkel | |
treffen. Graue und braune Altbauten links und rechts, der S-Bahn-Ring | |
direkt dahinter, Kleinpflaster auf den Gehwegen, spielende Kinder auf der | |
Straße. Dies hier ist keine Reiche-Leute-Gegend, auch wenn die | |
Gentrifizierung auch diesen Teil Berlins längst erreicht hat. | |
Vor dem Bajszel steht heute ein Polizeiwagen, aber das tut er nicht immer. | |
Hinein in die Stube mit der geschwungenen Bar. Essen ist Geschmackssache, | |
heißt es. Nicht anders verhält es sich damit, ob man ein Lokal besonders | |
nett oder grässlich findet. In diesem hier gibt es vier Sorten Bier vom | |
Fass. Und Schmalzbrote. Hingesetzt an einem der einfachen Holztische. An | |
den Fenstern lehnen Bücher vom Adorno bis hin zu Reiseführern. An den | |
Wänden hängen Plakate. An der Theke steht Andrea Reinhardt. Wer ein Getränk | |
will, muss zu ihr kommen. | |
Das vor zweieinhalb Jahren eröffnete Bajszel sei keine ganz normale Kneipe, | |
erklärt die 34-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt, nachdem sie sich einen | |
Stuhl genommen hat. Genauso wie sie keine ganz normalen Kneipenbetreiber | |
seien. Das Bajszel ist ein Projekt. | |
Alexander Carstiuc, mit schwarzem Hut auf dem Kopf, 45 Jahre alt, setzt | |
sich dazu. Beide haben studiert und kommen aus der Antifa-Szene. Und beide | |
stören sich an dem einfachen Weltbild derer, die Israel grundsätzlich | |
verdammen, aber die Hamas für ihre Taten feiern. Die „Palestine will be | |
free“ rufen, aber keine Empathie für die Opfer des Massenmords vom 7. | |
Oktober 2023 entwickeln. Die ganz genau wissen, was Juden zu tun und zu | |
lassen haben, aber den Staat Israel ablehnen. „Kapitalismuskritik [2][kann | |
antisemitisch sein]. Auch Linke machen diesen Fehler“, sagt Reinhardt. Auf | |
der Theke liegen Aufkleber zum Mitnehmen, „Fight Terror. Stand For | |
Democracy“ steht darauf oder „Berlin gegen Antisemitismus“. | |
Das Bajszel ist nicht nur eine Schänke, sondern macht auch Programm, im | |
großen Hinterzimmer. Da geht es viel um Antisemitismus und Israel, aber | |
nicht nur. Als Propaganda abtun lassen sich diese Abende nicht. Eher sind | |
es Ausflüge der Wissenschaft an eine Theke. Der emeritierte | |
Osteuropa-Historiker Karl Schlögel spricht demnächst über Russland, die | |
Ukraine und die Wahlen in den USA. Letztens kam Martin Cüppers, auch er | |
ein renommierter Historiker. Er hat über den [3][Mufti von Jerusalem | |
geforscht], einen islamischen Hetzer, der im Zweiten Weltkrieg bei Hitler | |
in Berlin Dauergast war. | |
## Hamas-Dreiecke an der Hauswand | |
An so etwas zu erinnern mag nicht jedem gefallen in Neukölln, dem Berliner | |
Stadtteil, in dem Islamisten am 7. Oktober 2023 anlässlich des | |
Hamas-Terrors Süßigkeiten auf der Straße verteilten. Und so geriet die | |
Kneipe in den Fokus von Israelhassern und Antisemiten. Es gab da nicht nur | |
den versuchten Brandanschlag. Andrea Reinhardt und Alexander Carstiuc | |
können eine lange Liste an Vorfällen aufzählen. Es habe schon im September | |
vergangenen Jahres begonnen, als ungeladene Gäste versucht hätten, eine | |
Veranstaltung zur Staatsgründung Israels zu sprengen. Es habe sich | |
fortgesetzt mit Pöbeleien, abgerissenen Plakaten, Boykottaufrufen, mit | |
antiisraelischen Parolen an den Außenwänden und immer wieder mit nach unten | |
gerichteten roten Dreiecken an den Schaufenstern, manche riesengroß. Es ist | |
das Symbol der Hamas für gegnerische Objekte. | |
„Wir wurden zum Feind gemacht“, sagt Reinhardt. Dann blickt sie sichernd | |
zur Seite in Richtung Eingangstür. Auch Carstiucs Blick geht immer wieder | |
für Sekunden in diese Richtung, so als erwarte er den nächsten Überfall. | |
Man kann so etwas Psychoterror nennen, gipfelnd in einem Mordanschlag. Mit | |
solchem Druck muss nicht nur das Bajszel umgehen. | |
Joel hat lange überlegt, ob er in diesem Text mit seinem Nachnamen | |
auftauchen soll. Er hat sich letztlich dagegen entschieden. Joel studiert | |
Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität, und im Unterschied zu den | |
Betreibern des Bajszel ist er Jude. Nach dem 7. Oktober sah er sich einer | |
Flut von Hamas-freundlichen Parolen in der Uni gegenüber. Er begann damit, | |
die geschmierte Hetze in den Herrentoiletten zu übermalen. Es war ein Akt | |
der Hilflosigkeit. „Ich fühlte mich sehr alleine“, sagt er. Ein Seminar, | |
das er besuchte, habe sich für antizionistisch erklärt. Und er habe da drin | |
gesessen und nichts gesagt. | |
Auch an den NS-Gedenkstätten und Museen hat sich seit dem 7. Oktober | |
einiges geändert. Zuerst habe da nur „Free Palestine“ im Gästebuch des | |
Hauses der Wannseekonferenz gestanden, berichtet Pressesprecher Eike | |
Stegen. Die Villa am Berliner Wannsee ist der Ort, an dem führende Nazis | |
Anfang 1942 die praktische Durchführung des Holocaust besprochen haben. | |
Dann schrieb ein Mann an die Leiterin der Gedenkstätte Deborah Hartmann, | |
dass „die jahrzehntelang gelebte Juden-Verhätschelung in diesem Land | |
endlich fallen“ würde. „Sie spüren den Wind des Wandels, der durch dieses | |
Land weht“, erklärte der Mann und erwähnte die Studentenproteste. | |
## Gedenkstätten berichten von Hassbotschaften | |
Aus anderen Teilen Deutschlands wird Ähnliches berichtet. In der | |
Gedenkstätte Sachsenhausen in Brandenburg mussten sie die Gästebücher | |
austauschen, weil sie voll waren von antiisraelischen Hassbotschaften. Im | |
früheren Konzentrationslager Buchenwald in Thüringen klebten Unbekannte ein | |
Porträt des Gedenkstättenleiters Jens-Christian Wagner auf eine Stele in | |
Erinnerung an den Todesmarsch der Häftlinge. Jörg Skriebeleit von der | |
Gedenkstätte Flossenbürg in Bayern berichtet, dass Unbekannte Teile aus dem | |
Krematorium des früheren KZ gestohlen haben. Fast jeder, der beruflich | |
etwas mit der Aufarbeitung der Nazi-Geschichte zu tun hat, erzählt | |
Ähnliches. Die von den Institutionen gestellten Anzeigen versanden in aller | |
Regel. | |
Der Philosophiestudent Joel von der Berliner Humboldt-Universität hat keine | |
Anzeige gestellt. Ihm hat etwas anderes geholfen. Er gründete zusammen mit | |
jüdischen Freunden eine Gruppe. „So etwas gab es vorher an der Uni nicht“, | |
sagt er. Anfangs seien sie nur zu dritt gewesen, inzwischen schon 15 | |
Personen stark. Sie hätten erste Aktionen gemacht. Und auch wenn ihre | |
Plakate zur Verteidigung Israels und gegen Antisemitismus nach wenigen | |
Minuten schon wieder abgerissen worden seien, so habe es doch ihr | |
Selbstbewusstsein gestärkt. „Wir werden ernst genommen“, sagt Joel. | |
„Wenn es solche Gruppen gibt, fühlt man sich nicht mehr so allein“, | |
bestätigt [4][Nicole Pastuhoff]. Sie leitet den Jüdischen | |
Studierendenverband in Nordrhein-Westfalen, ist aber in Berlin zu Gast, um | |
auf einer Veranstaltung des Vereins Democ zu sprechen.„Niemand fühlte sich | |
für unsere Probleme verantwortlich“, beklagt Pastuhoff. Man dürfe aber | |
nicht zum Bittsteller werden – und schon gar nicht als Experte für | |
Antisemitismus herhalten, nur weil man selbst jüdisch ist. | |
Eigentlich hätte die Democ-Tagung in Berlin-Kreuzberg stattfinden sollen. | |
Doch Sorgen um die Sicherheit der Teilnehmer zwangen kurzfristig zum Umzug | |
in Räume der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Stattgefunden hat das Treffen | |
also trotzdem. | |
Auch die Betreiber des Bajszel in Neukölln haben sich dazu entschlossen, | |
sich nicht in ein Mauseloch zu verkriechen, sondern die Offensive zu | |
suchen. Nach dem versuchten Brandanschlag gingen sie an die Medien. Sie | |
versteckten ihre Namen nicht, suchten Verbündete. Reinhardt und Carstiuc | |
beklagen, dass die Polizei anfangs nur halbherzig ermittelt habe und dass | |
Beweismittel weggeworfen worden seien. Auch jetzt sei der Schutz der Kneipe | |
immer noch unzureichend. | |
## Es kommen mehr Gäste, nicht weniger | |
Darüber und über die Details ihrer Ermittlungen möchte die Polizei keine | |
Auskunft geben. Es sei schon „sehr seltsam“, als Linke mit der Polizei zu | |
kooperieren, meint Andrea Reinhardt. Alexander Carstiuc erinnert sich, | |
welch negative Erfahrungen er als junger Antifaaktivist einst in seiner | |
bayrischen Heimat mit der Polizei gemacht hat. Doch jetzt sei das | |
staatliche Gewaltmonopol zweifellos besser, als Anschläge einfach | |
hinzunehmen oder, schlimmer noch, das Handtuch zu werfen. | |
Die Schmierereien an den Hauswänden des Bajszel haben nach dem | |
Brandanschlag nicht aufgehört. Aber deswegen sind nicht weniger Leute | |
gekommen. „Es kommen viele neue Gäste“, sagt Reinhardt. Mehr als 300 | |
Menschen demonstrierten am Tag nach dem Brandattentat vor der Kneipe. Eine | |
Angestellte habe aus Furcht gekündigt, doch dafür seien mehr als zehn | |
Bewerbungen auf den Job eingegangen, erzählen die beiden am Kneipentisch. | |
Mitte Oktober sitzt auch Martin Hikel am Kopfende eines langen Tischs im | |
Bajszel, um ihn herum die Kneipencrew und ihre Freunde. Der | |
Bezirksbürgermeister von Neukölln und Berliner SPD-Vorsitzende ist | |
gekommen, um den Betreibern seine Solidarität zu versichern. Er sei | |
dankbar, dass es das Bajszel gebe, sagt er. Dann sind die so Gelobten dran. | |
„Beängstigend“ sei die Situation, sagt eine junge Frau. „Ich habe wirkli… | |
Angst“, erklärt eine andere. Eine dritte Frau bekennt, aus Neukölln | |
fortgezogen zu sein. Bürgermeister Hikel hört erst einmal nur zu. | |
Die Tür geht auf, ein Mann schaut herein. „Alles gut?“, fragt er. „Alles | |
gut“, lautet die Antwort. Die Tür schließt sich wieder. | |
Eine Frau am Tisch erzählt von einem Vater, der mit seinem Kind an der | |
Kneipe vorbeigekommen sei. Das Kind habe in den Laden gewollt, vielleicht | |
um ein Eis zu essen. „Ne, das sind die Zionistenschweine“, habe der Vater | |
gesagt und sei weitergezogen. Das Verhältnis zu den arabischen Nachbarn im | |
Haus habe sich verändert, sagt Alex Carstiuc. | |
Wenn es um konkrete Hilfen geht, so stellt sich an diesem Abend heraus, | |
sind die Möglichkeiten eines Berliner Bezirksbürgermeisters arg begrenzt. | |
„Wir tun was. Aber es ist echt nicht einfach“, sagt Hikel. Für Schulbildung | |
ist er nun mal nicht zuständig und auch nicht für Polizei und Feuerwehr. | |
Hikel verspricht, Kontakte herzustellen, für den Laden zu werben. Die | |
Kneipenrunde ist ihm für seine Ehrlichkeit dankbar. | |
## „Unlautere Verknüpfung“ | |
Ein paar Tage später verabschiedet das Neuköllner Bezirksparlament eine | |
Resolution. Die Bezirksverordnetenversammlung verurteilt „stellvertretend | |
für alle antisemitischen und antiisraelischen Übergriffe und Gewaltakte die | |
Angriffe auf die Programmschänke Bajszel“, heißt es darin. Und weiter: | |
„Solch ein Exzess reiht sich in Entwicklungen ein, bei denen Hebräisch | |
sprechende Menschen angegriffen wurden, auf Demonstrationen das | |
Existenzrecht Israels negiert wird und offen Terror unterstützt wird.“ | |
Der Neuköllner Linke-Fraktionschef Ahmed Abed, der sich in der | |
Gaza-Solidaritätsbewegung engagiert, sagt, dass die Linksfraktion | |
selbstverständlich die Gewalt gegen die Kneipe verurteile. | |
Abed war im September 2023 anwesend, als Protestierende versuchten, im | |
Bajszel eine Versammlung zu sprengen. Dort war eine Broschüre mit dem Titel | |
„Mythos Israel 1948“ vorgestellt worden, die nach Abeds Ansicht „einseiti… | |
Darstellungen bis hin zu geschichtsfälschenden Aussagen enthält“. | |
Der Neuköllner Bezirksverband der Linken gilt als Hort eines Parteiflügels, | |
der formal Antisemitismus ablehnt, aber immer dann, wenn Judenhass ganz | |
konkret von links oder von muslimischer Seite thematisiert wird, zum | |
Radiergummi greift. Im Bezirk ist auch Genosse Ramsis Kilani zu Hause, der | |
das Pogrom vom 7. Oktober als „Widerstand“ gegen eine „zionistische | |
Siedlerkolonie“ verharmlost. Dabei lebten die Angegriffenen des 7. Oktobers | |
auf israelischem Kernland und nicht in besetztem Gebiet. Gegen Kilani soll | |
mittlerweile ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet worden sein. | |
## Die Polizei findet die Täter nicht | |
Am Kneipentisch möchten Andrea Reinhardt und Alexander Carstiuc nicht | |
darüber spekulieren, wer die Angreifer auf das Bajszel sind. Sie wissen es | |
nicht. Und auch die Polizei tappt bei ihren Ermittlungen offenbar im | |
Dunkeln. Die Staatsanwaltschaft hat im Oktober die ersten Verfahren schon | |
wieder eingestellt. Es seien keine Tatverdächtigen bekannt geworden und es | |
habe auch „keine Ermittlungsanhalte gegeben“, heißt es zur Begründung. | |
In der Nacht zum 30. Oktober, flog erneut ein Pflasterstein auf das | |
Bajszel. Es war 3 Uhr nachts, zwei Gäste befanden sich noch im Lokal, | |
Andrea Reinhardt war gerade dabei, aufzuräumen. Sie hörte einen dumpfen | |
Knall, sah die beschädigte Scheibe, rannte zur Eingangstür. Doch draußen | |
war niemand zu sehen. Auch einer der Gäste, der die Umgebung absuchte, fand | |
nichts Verdächtiges. Die Polizei kam zu spät. | |
Dafür prangt jetzt erneut ein großes rotes Hamas-Dreieck an der Fassade. | |
Der Pflasterstein war so groß, dass er nicht in eine der Tüten passte, in | |
die die Polizei verdächtige Gegenstände vom Tatort einsammelt, berichtet | |
Andrea Reinhardt am Tag danach. In der Gegend rund um das Bajszel gebe es | |
solche Pflastersteine nicht. | |
Sind sie hier jetzt sauer auf Bürgermeister Martin Hikel, weil der zu viel | |
versprochen habe? Reinhardt und Carstiuc schütteln die Köpfe. Der mache | |
einen „sehr guten Job“, sagt Carstiuc. Nur fehlten ihm halt die | |
Kompetenzen, um die Kneipe wirklich zu schützen. | |
Das Gespräch zwischen Andrea Reinhardt und Alexander Carstiuc kreist an | |
diesem Abend danach auch um einen Vorfall, der sich wenige Stunden zuvor am | |
S-Bahnhof Neukölln abgespielt hat, nur etwa 100 Meter vom Bajszel entfernt. | |
Dort flüchtete ein Mann bei einer Personenkontrolle über die Gleise vor der | |
Polizei. Er hinterließ eine Tasche, darin hochexplosiver Sprengstoff, so | |
gefährlich, dass er in der Nähe in einem rasch gegrabenen Erdloch in einem | |
Park zur Detonation gebracht werden musste. | |
War damit ein Anschlag auf die Kneipe geplant? Oder ist es purer Zufall, | |
dass der Mann in Neukölln aufflog? Niemand weiß es. Andrea Reinhardt hat in | |
der letzten Nacht kaum schlafen können. „Ich mache meinen Job ganz normal | |
weiter“, versichert sie trotzig. Und dass der Steinwurf sie „nicht wirklich | |
überrascht“ habe. | |
Das Bajszel ist nach dem Anschlag knallvoll. Die Gäste lassen sich nicht | |
abschrecken. „Ja, man steht unter Druck“, sagt Andrea Reinhardt. Aber sie | |
und Alexander Carstiuc denken gar nicht daran, sich zu beugen. Auf die | |
Frage, ob nicht doch eine Situation eintreten könne, die sie dazu zwinge, | |
die Kneipe zu schließen, kommt ihre Antwort wie aus einem Mund: „Never | |
ever.“ | |
Richtigstellung: Die taz hat an dieser Stelle berichtet, dass die | |
Linkspartei einer Resolution des Neuköllner Bezirksparlaments vom Oktober | |
2024 nicht zugestimmt und der Vorstand erklärt habe, im Text fehle ein | |
Hinweis auf den Antisemitismus von rechts. Stattdessen würden „Einwanderer | |
für ansteigenden Antisemitismus verantwortlich gemacht“ und „pauschal des | |
Antisemitismus verdächtigt“. Die Zitate stammen aus einer Erklärung des | |
Vorstandes vom 1.11.2018 und konnten sich daher nicht auf die Resolution | |
vom Oktober 2024 beziehen. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen. | |
1 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kulturkneipe-in-Neukoelln/!6046167 | |
[2] /Zeit-fuer-Selbstreflexion/!5987379 | |
[3] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/faktenfuchs-mufti-von-jerusa… | |
[4] /Juedische-Stimmen-nach-Demonstrationen/!5968622 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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