| # taz.de -- Staatsräson: Ein deutscher Sonderweg in die neue Weltordnung? | |
| > Intellektuelle kritisieren auf einem Symposium in Zürich die deutsche | |
| > Staatsräson – und verabschieden die liberale Bundesrepublik. | |
| Bild: Bei kritischen Perspektiven auf die deutsche Staatsräson ist das Hysteri… | |
| Warum kommen Deutschlands linksintellektuelle Größen in Zürich zusammen, um | |
| sich zu einem Symposium über Deutschland zu treffen? Mit Bedacht hatten die | |
| Organisatoren von „Der grosse Kanton: Rise & Fall of the BRD“, [1][darunter | |
| Medico International und Emily Dische-Becker von Diaspora Alliance], einen | |
| Ort jenseits deutscher Grenzen gesucht. Bei kritischen Perspektiven auf die | |
| Staatsräson ist das Hysteriepotenzial bekanntlich groß; die medialen | |
| Brandbeschleuniger bei Springer und Nius arbeiten effektiv. | |
| In Zürich konnte man hingegen recht ungestört über den Stand der Republik | |
| nachdenken, „das Schweigen beenden“, wie Philip Ursprung, Professor an der | |
| Züricher ETH, sagte. Er offerierte gewissermaßen Debattenexil. Es gab zwar | |
| [2][Protest von einem Verband jüdischer WissenschaftlerInnen in der | |
| Schweiz], aber der verpuffte. | |
| Dass dieses Symposium nicht an einer Berliner Uni hätte stattfinden können, | |
| wurde im Laufe der zweitägigen Veranstaltung immer wieder vermutet. Der | |
| Pathosrand des Wortes Exil ist unangemessen, wenn sich gut bezahlte | |
| ProfessorInnen in edlen Kunsthochschulen treffen. Aber dass sich Berliner | |
| UniversitätsrektorInnen tapfer in einen Shitstorm stürzen würden, in dem | |
| sie als AntisemitInnen gebrandmarkt werden – [3][darauf kann man nach den | |
| Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht bauen.] | |
| ## Der bundesdeutsche Ausschlussmechanismus | |
| Wie der bundesdeutsche Ausschlussmechanismus funktioniert, illustrierte | |
| FAZ-Redakteur Patrick Bahners. In einem Artikel hatte er eine Definition | |
| von Antisemitismus als zu vage kritisiert. Seitdem wird diese Kritik | |
| benutzt, um ihm Antisemitismus nachzuweisen. Der Antiantisemitismus, von | |
| einer wachsenden Zahl von Beauftragten exekutiert, erscheint als | |
| geschlossenes System, das mal drastisch mit Verboten, mal mit Drohungen das | |
| Sagbare definiert. Und die Erinnerungskultur dient als Sidekick. | |
| Nun ist die bundesdeutsche Bearbeitung der NS-Geschichte aus Schweizer | |
| Sicht mindestens ambivalent. Man traf sich im Kunsthaus Zürich, einem | |
| opulenten Museum, das die berühmte Bührle-Sammlung beherbergt. Spender | |
| Bührle war mit Waffenverkäufen an die Nazis reich geworden. Seine | |
| Bildersammlung stammt offenbar teilweise aus enteignetem jüdischen Besitz. | |
| Yves Kugelmann, Chefredakteur der jüdischen Zeitschrift Tacheles, stellte | |
| fest, dass die Schweizer dies achselzuckend zur Kenntnis nahmen. | |
| Deutschland sei da weiter. | |
| Weiter – und trotzdem in einer Sackgasse gelandet. Denn die einst viel | |
| gelobte deutsche Erinnerungskultur wird als Mittel verwandt, um sich die | |
| Kriegsverbrechen in Gaza mit stählern gutem Gewissen vom Leib zu halten. Wo | |
| also ist die deutsche Erinnerungskultur falsch abgebogen? | |
| ## Wagenburg der Rechthaberei | |
| Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse bewunderte vor 25 Jahren | |
| den deutschen Umgang mit der NS-Zeit aus ähnlichen Gründen wie Kugelmann | |
| heute. Doch das Produktive sei erstickt, sagt sie – mit dem | |
| Anti-BDS-Beschluss des Bundestages 2019, mit Preisaberkennungen für | |
| unliebsame und willkürlich verbotene Gazademonstrationen. | |
| Die deutschen Medien haben sich, so Menasse, in eine Wagenburg der | |
| Rechthaberei verwandelt. In einem leicht nostalgisch umflorten Rückblick | |
| erschien das FAZ-Feuilleton zu Zeiten von Frank Schirrmacher als Hort | |
| liberaler Offenheit und produktiver Streitlust, die heute in Sachen Israel | |
| und Gaza von der Staatsräson-Cancel-Culture erdrosselt wird. | |
| Die namibische Aktivistin Sima Luipert war wiederum von Menasses | |
| Enttäuschung enttäuscht. Dass ruiniert ist, was früher besser war, konnte | |
| sie nicht erkennen. Es war nie besser. In Sachen Umgang mit dem Genozid an | |
| ihrem Volk, den Nama, begangen von Deutschen 1904, war und ist das | |
| Verhalten der Deutschen ignorant, so Luipert. Noch 2018 habe ein Anwalt der | |
| deutschen Bundesregierung den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts damit | |
| legitimiert, dass es während der deutschen Kolonialherrschaft keine Gesetze | |
| gab, die „Wilde“ schützten. | |
| Ein ähnlich bitteres Resümee zog Eyal Weizman. Die „Leugnung des Genozids | |
| in Gaza“ sei nicht nur Rhetorik, sie [4][münde in Komplizenschaft mit den | |
| Tätern] und Polizeigewalt gegen Palästinenser in Deutschland. Wer wie die | |
| Organisation Forensic Architecture Beweise für Gerichtsverfahren gegen | |
| deutsche Waffenexporte sammele, verliert, so Weizmann, schnell Geld und | |
| Anerkennung. | |
| ## In Hassliebe schrill überzeichnet | |
| Adam Tooze, Wirtschaftshistoriker an der Columbia University, war das alles | |
| zu deutsch. „Es gibt keinen deutschen Sonderweg“, so Tooze. Im Vergleich zu | |
| den USA oder Großbritannien, die [5][Israels Krieg in Gaza massiv | |
| unterstützten], sei der deutsche Beitrag „trivial“, so Tooze. Das war ein | |
| Einspruch gegen die für Linke typische Neigung, die Bundesrepublik in | |
| Hassliebe schrill zu überzeichnen, die man mitunter auch auf dieser | |
| Konferenz zu hören bekam. Dieser Dissens blieb der einzige. Man war sich | |
| sehr oft sehr einig. | |
| Der [6][Autoritarismus] ist ein globales Phänomen. Mit dem etwas koketten | |
| Titel „Aufstieg und Fall der Bundesrepublik“ ist die Staatsräsonideologie | |
| gemeint – als deutscher Weg zu einer illiberalen, nach innen und außen | |
| abgeschotteten Republik. In diesem Bild ist die Bundesrepublik nicht mehr, | |
| wie es die deutsche politische Elite in der Mitte glaubt, der Fels in der | |
| Brandung. Sie ist vom Sog des aktuellen globalen Dramas erfasst – dem Abbau | |
| der liberalen Demokratie und dem geopolitischen Abstieg des Westens. | |
| Der [7][Politikwissenschaftler Daniel Marwecki,] der in Hongkong lehrt, | |
| hält den relativen Niedergang Deutschlands für ausgemacht, als Teil des | |
| Abstiegs des bislang global dominanten Westens. Der Niedergang, so | |
| Marwecki, hat drei Aspekte: Die deutsche Erinnerungskultur hat sich | |
| angesichts des Gazakrieges blamiert. Die deutsche Wirtschaft wird, etwa in | |
| ihrem Herzstück Autobranche, von der chinesischen Konkurrenz abgehängt. Und | |
| die Sicherheitsgarantien der USA lösen sich auf. „Wir haben ein großes | |
| Problem“, resümierte Marwecki nüchtern. | |
| ## Die Bundesrepublik im Geiste aufgegeben | |
| Es war gut, dass die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum an die | |
| blinden Flecken der [8][Vergangenheitsbewältigung] erinnerte. In der | |
| Bundesrepublik wurden jahrzehntelang NS-Opfer weiter drangsaliert, ein | |
| Umstand, der aus dem Bild des Bewältigungsweltmeisters retuschiert wurde. | |
| Für die aktuelle verstaatlichte Erinnerungskultur hatte die Leiterin des | |
| Zentrums für Antisemitismusforschung einen bedenkenswerten Vorschlag: | |
| „Dreißig Jahre Pause.“ | |
| Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen bespöttelte die Verhältnisse in | |
| der Bundesrepublik ironisch, die Soziologin Teresa Koloma Beck und der | |
| [9][Historiker Dirk Moses] kritisierten sie in Grund und Boden. | |
| Währenddessen bekam die ARD-Nahostkorrespondentin Sophie von der Tann in | |
| Köln einen TV-Preis. Die Staatsräson-Cancel-Culture hatte von der Tann und | |
| die Preisvergabe unter Feuer genommen. Die Kampagne scheiterte. Ein Erfolg, | |
| der zeigt, dass der Kampf gegen Staatsräsondoktrin nicht verloren ist? | |
| Eva Menasse erinnerte daran, dass es vielleicht vom Nachnamen abhängt, ob | |
| man bei Shitstorms auf ausreichenden Schutz hoffen kann. Der | |
| [10][palästinensische Journalistin Nemi El-Hassan] erging es anders als von | |
| der Tann. Eine Bild-Kampagne gegen El-Hassan, die mit 19 Jahren mal an | |
| einer Palästinademo teilgenommen hatte, kostete ihr vor ein paar Jahren den | |
| Job. | |
| Es gab in Zürich viel fatalistische Zuspitzungen und auch eine zu | |
| gemütvolle Verklärung der alten Bundesrepublik. Dass viele hochkarätige | |
| linke Intellektuelle unisono proklamieren, die Bundesrepublik im Geiste | |
| aufgegeben zu haben, ist beunruhigend. Gerade sie werden gebraucht, um die | |
| Entwicklung in Richtung Illiberalität zu verhindern. | |
| 8 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.medico.de/termin/2025-12-06/the-rise-fall-of-the-brd-796 | |
| [2] https://n-j-h.de/offener-brief-konferenz-der-grosse-kanton/ | |
| [3] /Vortrag-von-Francesca-Albanese-in-Berlin/!6067148 | |
| [4] /Aufarbeitung-der-Verbrechen-in-Gaza/!6116963 | |
| [5] /Ruestungsexporte-vor-Gericht/!6129424 | |
| [6] /Essay-ueber-staatlichen-Autoritarismus/!6129942 | |
| [7] /Ruestungslieferungen-nach-Israel/!6107293 | |
| [8] /Neues-Gedenkstaettenkonzept/!6124504 | |
| [9] /Debatte-um-die-Singularitaet-der-Shoa/!5805672 | |
| [10] /WDR-und-El-Hassan-gehen-getrennte-Wege/!5809439 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
| Pauline Jäckels | |
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