| # taz.de -- Deutschland und der jüdische Staat: Schluss mit der Symbolpolitik | |
| > 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland | |
| > zeigen: Was zählt, ist Realpolitik. Das sollte auch Friedrich Merz | |
| > verstehen. | |
| Bild: Staatschefs: Frank-Walter Steinmeier und Isaac Herzog mit Ehefrauen am Mi… | |
| Draußen am Rhein tanzt man am Mittwoch Tango, drinnen im | |
| nordrhein-westfälischen Landtag läuft dem israelischen Botschafter Ron | |
| Prosor schon im Stehen der Schweiß übers Gesicht – Düsseldorf ist nicht | |
| Jerusalem, eine Klimaanlage gibt es hier nicht. Aus Jerusalem ist Prosor | |
| gerade angereist, dort begleitete er noch bis zum Mittag Bundespräsident | |
| Frank-Walter Steinmeier auf dessen viel beachtetem Staatsbesuch. Es war | |
| „sehr symbolisch“, berichtet Prosor. | |
| Symbolisch geht es für ihn auch in Düsseldorf weiter: Zusammen mit | |
| Ministerpräsident Hendrik Wüst hat die israelische Botschaft zum Festakt in | |
| den Landtag eingeladen. Anlass: 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen | |
| Israel und Deutschland und der israelische Unabhängigkeitstag. Zum ersten | |
| Mal wird der außerhalb der Bundeshauptstadt begangen. | |
| Anlässe dieser Art gibt es gerade schwindelerregend viele, „sehr | |
| symbolisch„sind sie alle. 80 Jahre Kriegsende, israelischer Staatsbesuch in | |
| Berlin, deutscher Staatsbesuch in Jerusalem, israelischer | |
| Unabhängigkeitstag, die Trauerbekundungen für Margot Friedländer … und? Ach | |
| ja, der neue CDU-Außenminister Johann Wadephul war auch noch in Israel. Wer | |
| diese Zusammenstellung für eine freie Assoziation hält, vergisst, dass über | |
| allem die gleichen Fragen schweben: Wie geht es in Gaza weiter? Und was hat | |
| das mit der historisch besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Israel | |
| zu tun? | |
| Das Zauberwort heißt Staatsräson – besonders, wenn es unübersichtlich wird | |
| wie in diesen ersten Maitagen. Kein Wunder, dass auch Friedrich Merz, der | |
| gerade so gewählte CDU-Kanzler, die Staatsräson in seiner ersten | |
| Regierungserklärung am Mittwoch im Bundestag bemühte. Das Gleiche tun | |
| öffentliche Stimmen, die das 60-jährige Bestehen der diplomatischen | |
| Beziehungen kritisch prüfen wollen – nur in anderer Form. So [1][Shimon | |
| Stein, ehemaliger israelischer Botschafter, und der israelische Historiker | |
| Moshe Zimmermann in der Zeit]. Kein Weiter-so!, fordern sie mit Blick auf | |
| die strapazierte Geschichte deutsch-israelischer Diplomatie. Was sie damit | |
| meinen? Kein Weiter-so mit Staatsräson. „Wir befinden uns in einem völlig | |
| neuen Kapitel“, schreiben die beiden in ihrem Gastbeitrag. Damit begehen | |
| sie den gleichen Fehler, den schon die ehemalige Bundeskanzlerin Angela | |
| Merkel in ihrer legendären [2][Knessetrede 2008] begangen hatte: die | |
| Konfliktgeschichte israelisch-deutscher Diplomatie auf ihr scheinbares | |
| Resultat, die Staatsräson, zu reduzieren. | |
| ## Der NS-Nachfolgestaat erkaufte sich Entlastung | |
| Dabei versteckt sich hinter diesem vermeintlichen Monolithen eine | |
| Geschichte, die gerade wegen ihrer Uneindeutigkeit richtungsweisend sein | |
| könnte. Vor allem für die verfahrene Lage, in der sich die neue | |
| Bundesregierung mit ihren außenpolitischen Beziehungen zum rechten Despoten | |
| Benjamin Netanjahu befindet. | |
| Motoren dieser Beziehungsgeschichte waren von Beginn an die | |
| realpolitischen Interessen beider Staaten – und die symbolpolitische | |
| Kompensation ihrer brutalen Unterschiede. Der junge jüdische Staat musste | |
| um sein Überleben kämpfen, der junge deutsche um die Wiedereingliederung in | |
| die internationale Gemeinschaft und mit der eigenen Schuld. [3][David | |
| Ben-Gurion und Konrad Adenauer gingen bereits 1952 mit dem Luxemburger | |
| Abkommen über Wiedergutmachungsleistungen einen realpolitischen Kompromiss | |
| ein], dessen Folgekosten fortan immer wieder symbolpolitisch aufgewogen | |
| wurden. Zu Recht tobten 1952 in Tel Aviv Proteste von Überlebenden der | |
| Schoah. Angeführt wurden sie ausgerechnet vom rechten Politiker, | |
| Likud-Gründer und späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin. Und es | |
| stimmte ja, was Begin damals sagte: Der NS-Nachfolgestaat erkaufte sich mit | |
| diesem „Blutgeld“ moralische Entlastung. | |
| So war es auch kein Verantwortungsbewusstsein, das Ludwig Erhard 1965 dazu | |
| bewog, diplomatische Beziehungen mit Israels Premier Levi Eschkol | |
| einzugehen. Es war die Angst vor einem außenpolitischen Skandal, nachdem | |
| der glühende Antisemit und panarabische Führer Gamal Abdel Nasser | |
| öffentlich die geheimen Waffenlieferungen der Bundesrepublik an Israel | |
| angeprangert hatte. Und die Angst vor amerikanischen Sanktionen. | |
| Realpolitik also. Anders als Symbolpolitik ist sie kein Selbstzweck und | |
| war für die deutsch-israelische Schicksalsgemeinschaft immer dann besonders | |
| wirksam, wenn die Bundesregierung auf ihre symbolpolitischen Bekenntnisse | |
| Taten folgen ließ. Das heißt historische Verantwortung übernahm und Israels | |
| Existenz mit Ressourcen – und ja, auch mit Waffen – unterstützte. | |
| Was seit dem 7. Oktober 2023 wie selbstverständlich klingt, war es eben die | |
| meiste Zeit nicht. Unter SPD-Bundeskanzler Willy Brandt zeigte sich das am | |
| krassesten: Jom-Kippur-Krieg 1973, Israel wird von Ägypten, Syrien und | |
| anderen arabischen Staaten angegriffen – die Sowjetunion und mit ihr die | |
| DDR liefern den Angreifern in großen Mengen Waffen. Brandt und sein | |
| Außenminister Walter Scheel ziehen sich auf Neutralität zurück, um Brandts | |
| viel gerühmte Entspannungspolitik und die arabischen Ölimporte nicht zu | |
| gefährden. Sie fordern Frieden ohne Waffen – die vernichtungsantisemitische | |
| Propaganda arabischer Nationalisten und Appelle jüdischer Überlebender in | |
| Deutschland ignorieren sie. Nur mit Widerwillen und diplomatischem Druck | |
| lassen sie schließlich zu, dass die USA in Deutschland stationierte Waffen | |
| nach Israel verschiffen. | |
| ## Ein Überschwang an symbolischen Gesten | |
| Der gleiche Willy Brandt fiel kurz zuvor im Warschauer Ghetto noch vor dem | |
| Erbe jüdischer Widerstandskämpfer auf die Knie – Symbolpolitik. In seiner | |
| Amtszeit manifestierte sich damit, was bis in die Gegenwart, vor allem | |
| unter SPD-geführten Regierungen, die deutsch-israelischen Beziehungen viel | |
| stärker prägte als die glättende Formel Staatsräson: das realpolitische | |
| Hadern mit dem jüdischen Staat und deshalb ein Überschwang an symbolischen | |
| Gesten. | |
| Was gleichzeitig keine Bundesregierung je davon abgehalten hätte, Israel | |
| moralisch zu rügen. SPD-Kanzler Helmut Schmidt kritisierte die | |
| Siedlungspolitik unter Begin scharf, lieferte keine Waffen an Israel, | |
| intensivierte aber die Rüstungsdeals mit Saudi-Arabien und Jordanien. | |
| SPD-Kanzler Gerhard Schröder vertrat unverstellt die Interessen der | |
| deutschen Industrie und pflegte enge Rüstungskontakte nach Ägypten. Sein | |
| SPD-Außenminister Sigmar Gabriel warf Israel in Bezug auf die Situation in | |
| Hebron Apartheid vor. Unter Helmut Kohl, Joschka Fischer, Angela Merkel, | |
| Heiko Maas und Annalena Baerbock setzten sich rüstungs- und außenpolitische | |
| Missverhältnisse oft fort, nur der symbolpolitische Container Staatsräson | |
| gewann immer mehr an Gewicht. | |
| Da stehen wir heute, 60 Jahre Konfliktgeschichte im Rücken. Und wie geht es | |
| weiter? In einer vom aussichtslosen Krieg gegen die Hamas belasteten | |
| Gegenwart? Mit aggressiven Siedlern und israelischen Geiseln? Mit der | |
| humanitären Katastrophe in Gaza? Ein Vorschlag aus der Geschichte: Schluss | |
| mit der Symbolpolitik. Schluss mit dem Hyperfokus auf die Staatsräson. Denn | |
| wer sich an ihr wie an einem Totem festkrallt, egal ob zur Begründung oder | |
| zur Ablehnung der besonderen Beziehung zu Israel, relativiert Geschichte. | |
| Und wiederholt, was seit 60 Jahren schiefläuft: symbolpolitisch | |
| kompensieren, was realpolitisch unlösbar scheint. | |
| Dabei zeigt, was bei Festakten wie in Düsseldorf beschönigend „das Wunder | |
| der Aussöhnung“ genannt wird – der pragmatische Gründungskompromiss | |
| zwischen Ben-Gurion und Adenauer –, dass Realpolitik Fortschritt erzeugen | |
| kann, wo Symbolpolitik an ihr Limit kommt. Und an so einem Limit stehen | |
| wir, steht Friedrich Merz gerade. Realpolitik verfolgt klare Ziele, | |
| Symbolpolitik schafft Ausgleich. Durch die Massaker der Hamas am 7. Oktober | |
| und Netanjahus verbrecherische Rücken-an-der-Wand-Politik aber befinden wir | |
| uns in einer Lage, die Symbolpolitik nicht ausgleichen kann. | |
| Auch Merz sollte das verstehen. Sein Wahlkampf war zwar von der | |
| Inszenierung als harter Realpolitiker geprägt, entsprechendes Geschick hat | |
| er bisher aber nicht bewiesen – eher das Gegenteil. Dazu gehört auch das | |
| Beharren darauf, [4][Netanjahu trotz eines Auslieferungsgesuchs des | |
| Internationalen Strafgerichtshofs zu empfangen]. Auch das wäre | |
| Symbolpolitik. Fatale sowieso, weil sie keinem realpolitischen Ziel nützen | |
| würde, sondern nur einer Logik der Eskalation, einem moralischen Sturm der | |
| Entrüstung: bei Partnern, die Merz in der israelischen Zivilgesellschaft | |
| und in der EU dringend braucht. Für eine realpolitische Initiative. Das | |
| heißt für eine Friedensvision von Gaza, die überzeugender ist als Trumps | |
| Vertreibungsfantasie. Und einen Vorstoß auf arabischer Seite. Schließlich | |
| schafft der orange man in Saudi-Arabien, Syrien, Katar und den Vereinigten | |
| Arabischen Emiraten gerade schon Fakten. | |
| 18 May 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zeit.de/2025/19/beziehungen-israel-deutschland-diplomatie-60-ja… | |
| [2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin… | |
| [3] /Buch-ueber-deutsch-israelische-Beziehung/!5998021 | |
| [4] /Internationales-Strafgericht/!6068599 | |
| ## AUTOREN | |
| Jonathan Guggenberger | |
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