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# taz.de -- Psychische Gesundheit: Geht es uns allen immer schlechter?
> Ständig ist die Rede von Mental Health. Fragen und Antworten rund um
> psychische Erkrankungen zum Welttag der psychischen Gesundheit.
Bild: Was ist psychische Gesundheit?
Nicht nur Nutzer:innen sozialer Medien, [1][auch Journalist:innen]
haben viel zu psychischer Gesundheit zu sagen, wie die [2][Verlaufskurve
des digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache] zeigt: Die steigt für die
Wortkombination seit 2014 steil an. Aber worum geht es eigentlich?
Antworten auf selten gestellte Fragen.
Was ist „psychische Gesundheit“?
Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ein „Zustand des Wohlbefindens, in dem
der/die Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen
Lebensbelastungen bewältigen und produktiv und fruchtbar arbeiten kann und
imstande ist, etwas zu seiner/ihrer Gemeinschaft beizutragen“.
Wo beginnt „psychisch krank“?
Diagnosen psychischer Erkrankungen stehen auf ziemlich wackligem Boden. Die
Psyche lässt sich nicht untersuchen; [3][sie ist ein Konzept]. Selten
lassen Symptome Rückschlüsse auf Ursachen zu, mit einer Ausnahme:
Psychotische Zustände wie bei Schizophrenien können [4][jüngeren
Erkenntnissen zufolge] durch Immunreaktionen hervorgerufen werden.
Welche Rolle spielen Gene?
Es besteht ein erhöhtes Risiko für Angehörige von Erkrankten. Neue
Untersuchungen mit großen Datenmengen wie eine im August in The Lancet
[5][publizierte Studie] zeigen aber, dass beim überwiegenden Teil der
Patient:innen keine Familienmitglieder betroffen sind.
Wie häufig treten psychische Erkrankungen auf?
Deren Gesamt-Diagnoserate ist zwischen 2012 und 2023 angestiegen, wie eine
[6][Auswertung des Robert Koch Instituts] (RKI) zeigt; den größten Anstieg
gab es 2014. So erhielten im Jahr 2012 35 Prozent aller Erwachsenen eine
sogenannte „F-Diagnose“, 2023 waren es 5,4 Prozentpunkte mehr. Dazu zählen
Demenz, Ess-, Schlaf- und somatoforme Störungen. Das, was gemeinhin unter
„psychisch krank“ verstanden wird, macht die Hälfte der Diagnosen aus. Am
häufigsten: Depressionen, gefolgt von Suchterkrankungen und Angststörungen.
Über den gesamten Zeitraum war der Anstieg bei Männern stärker als bei
Frauen, den größten Zuwachs hatte die Altersgruppe 60 bis 84. Das legt
einen Aufholeffekt nahe, also dass psychische Erkrankungen nun häufiger als
solche erkannt werden.
Den Menschen geht es also gar nicht immer schlechter?
Aus der [7][letzten großen Bevölkerungsbefragung] des RKI geht hervor, dass
sich zwischen 2002 und 2012 keine Anzeichen dafür finden ließen, dass mehr
Menschen als im Vergleichszeitraum davor psychisch erkrankten. Vergleichbar
gute aktuelle epidemiologische Daten fehlen aber. Die Daten aus der 2019
aufgebauten [8][Mental Health Beobachtungsstrategie] des RKI lassen den
Schluss zu, dass sich die Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre negativ
auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung ausgewirkt haben.
Dabei gilt: Menschen höheren Alters, mit niedrigen Bildungsstand und Frauen
sind besonders betroffen. So wird für die letzte Septemberwoche 2024 nur
noch bei 39,7 Prozent der Bevölkerung die psychische Gesundheit als „sehr
gut“ oder „ausgezeichnet“ eingeschätzt. Zu Beginn der Erhebung Mitte Mä…
2021 waren es knapp zehn Prozentpunkte mehr. Eine stetige Verschlechterung
lässt sich aus dem Monitoring nicht ablesen: Die Kurve bleibt seit Ende
2022 auf demselben Niveau. Schaut man nur auf die für depressive Symptome,
fiel sie zuletzt sogar ab.
Und wie sieht es bei Kindern und Jugendlichen aus?
Die aussagekräftigsten epidemiologischen Daten für Deutschland liefert
[9][das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)], das jährlich Kinder
und Jugendliche im Alter von 7 bis 22 Jahren befragt. Im Vergleich mit den
Jahren unmittelbar vor der Pandemie gibt es dem UKE zufolge fünf
Prozentpunkte mehr Kinder mit psychischer Beeinträchtigung – im Herbst 2024
waren es 22 Prozent.
Und was sagt die Diagnoseprävalenz?
Die ist nach Auswertung des RKI zwischen 2012 und 2022 bei den 11- bis
17-jährigen Kindern so stark angestiegen wie bei den ältesten Erwachsenen.
In der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen hatte 2012 jeder fünfte eine
F-Diagnose, 2022 jeder vierte. Erkrankungen wie Depressionen und
Angststörungen machten bei Minderjährigen zuletzt nur einen Anteil von 6,1
Prozent aus. Den größten Anteil haben Entwicklungsstörungen, darunter
solche des Sprechens und der Sprache.
Nehmen Essstörungen bei Jugendlichen zu?
Die wenigen epidemiologischen Daten, die es gibt, sprechen dagegen.
Drastisch zugenommen hat die Zahl der Krankenhauseinweisungen, vor allem
bei Mädchen.Laut [10][Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die
kassenärztliche Versorgung] hatten im Jahr 2017 62.380 Minderjährige die
Diagnose einer Essstörung bekommen, das entspricht 0,54 Prozent aller
F-Diagnosen.
Hilft Psychotherapie gegen psychische Erkrankungen?
Ja, das ist nachgewiesen, [11][aber unklar bleibt, warum]. Und sie hilft
auch nicht allen. Nach internationalen Studien spricht mindestens ein
Drittel der Patient:innen nicht auf die Behandlung an, erleidet einen
Rückfall oder bricht die Behandlung vorzeitig ab. Das ist auch das Ergebnis
einer [12][Untersuchung der Techniker Krankenkasse (TK)] aus dem Jahr 2011.
Bei Minderjährigen mit der Diagnose Depression schlägt laut einer
[13][Metastudie] die Psychotherapie in 60 Prozent aller Fälle nicht an.
Eva-Lotta Brakemeier, Präsidentin der [14][Deutschen Gesellschaft für
Psychologie] und Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie
an der Universität Greifswald plädierte 2019 [15][in einem Aufsatz] für
individualisierte Behandlungskonzepte, die evidenzbasierte Methoden und
Techniken einschließen sowie Feedbacksysteme.
Welche Alternativen gibt es?
Der kontinuierliche Ausbau des psychotherapeutischen Angebots habe nicht zu
einem Rückgang psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung geführt,
schreibt [16][Julia Thom], Projektverantwortliche für den Aufbau der Mental
Health Surveillance am RKI, 2019 in einem Aufsatz. Daher müssten
Präventionsangebote ausgebaut werden. Großen Einfluss auf das Wohlbefinden
haben [17][laut RKI] die Bedingungen von Erwerbsarbeit einerseits und
Arbeitslosigkeit andererseits. Das UKE weist darauf hin, dass das Risiko
für Kinder und Jugendliche, psychisch zu erkranken, deutlich erhöht ist,
wenn sie aus „[18][Familien mit geringem Bildungsniveau] stammen, die in
beengten Wohnverhältnissen aufwachsen und deren Eltern psychisch belastet
sind“. [19][Die Zeit] zitierte im September eine niederländische
Umweltforscherin, die mit einem internationalen Team Daten zusammengetragen
hat, unter welchen Bedingungen psychische Gesundheit gedeiht. Schlaf spiele
neben den genannten Faktoren eine große Rolle. Und: [20][Grünflächen].
Wie lang sind Wartezeiten für ambulante Psychotherapie?
Nach einer 2024 [21][veröffentlichen Studie im Auftrag des Gemeinsamen
Bundesausschuss] (G-BA) der Krankenkassen und Kassenärzt:innen, haben von
2.200 erwachsenen Therapiesuchenden 90 Prozent innerhalb von drei Monaten
ein Erstgespräch geführt und mit regelmäßigen psychotherapeutischen
Sitzungen begonnen. Die Wartezeiten auf dem Land waren nach dieser
Untersuchung nicht zwangsläufig länger. Das könnte daran liegen, dass in
Städten anteilig mehr Psychotherapeut:innen praktizieren, die
Bevölkerung dort aber auch häufiger psychisch erkrankt beziehungsweise sich
mit Psychotherapie behandeln lässt.
Wirklich so kurz?
Berufsverbände und Fachgesellschaften geben etwas [22][längere Wartezeiten]
an. Individuell können diese um ein Vielfaches länger sein, wenn jemand zu
einer/einem bestimmte:n Therapeut:in will oder kein Deutsch spricht.
Menschen nach Gewalterfahrungen fänden auch nur schwer passende
traumatherapeutische Hilfe, sagt eine Sprecherin des Bundesverbands der
Frauenberatungsstellen und -notrufe der taz.
Behandeln Psychotherapeut:innen nur die leichten Fälle?
Nach der TK-Untersuchung hatten 92 Prozent der von
Psychotherapeut:innen behandelten Patient:innen eine mittlere bis
schwere klinische Beeinträchtigung. Allerdings sind nicht alle Diagnosen
gleich vertreten. Laut Report Psychotherapie [23][der Deutschen
Psychotherapeutenvereinigung (DPtV)] aus dem Jahr 2021 war bei einem
Drittel der Patient:innen der Behandlungsanlass eine schwere Belastung,
bei einem Viertel eine Depression und nur in 0,55 Prozent der Fälle eine
Schizophrenie, eine mit schweren Wahrnehmungsstörungen einhergehende
Erkrankung. Zum Vergleich: Die Diagnoseprävalenz für Depressionen lag laut
RKI zuletzt bei 13,9 Prozent, für Schizophrenie bei 0,9 Prozent. Letztere
ist eine der Hauptursachen für eine stationäre Behandlung.
Woran kann das liegen?
Zu wenig Psychotherapeut:innen seien dafür qualifiziert, sagt
Dorothea von Haebler, Vorstandsvorsitzende des [24][Dachverbands
Deutschsprachiger PsychosenPsychotherapie] und Oberärztin an der Berliner
Charité. Denn erst seit 2014 stellen psychotische Erkrankungen eine
Indikation für Psychotherapie dar, diese galt bis dahin als schädlich.
Diese Falschannahme sei weiterhin verbreitet, sagt von Haebler, auch unter
Patient:innen. Zudem sei die Hürde, mehrere Therapeut:innen anzurufen,
die ihnen sagen, sie hätten keine Kapazitäten, für verängstigte und
misstrauische Menschen sehr hoch.
Wer nimmt in Deutschland Psychotherapie in Anspruch?
Am seltensten „die mit dem größten Risiko psychisch zu erkranken“. Zu
diesem Ergebnis kommt eine [25][Studie aus dem Jahr 2017], die
Abrechnungsdaten der AOK Niedersachsen ausgewertet hatte. Je höher das
Einkommen beziehungsweise Qualifikation oder Beschäftigungsniveau, desto
häufiger ließ sich jemand psychotherapeutisch behandeln. Bei den 41 bis 59
Jahre alten Frauen hatten drei Mal so viele derjenigen mit einem
Hochschulabschluss eine Psychotherapie gemacht wie die ohne Ausbildung. Der
Anteil von Frauen war überwiegend zwei bis drei Mal so hoch wie der von
Männern.
Wächst die Akzeptanz für psychische Erkrankungen?
[26][Eine Langzeitstudie] zeigt, dass die Stigmatisierungserfahrungen von
schwer psychisch Kranken in Deutschland sogar zugenommen haben: Während
zwischen 1990 und 2020 die Sympathie für Depressive leicht zunahm, wuchs
die Angst vor Menschen mit der Diagnose Schizophrenie.
Braucht es mehr Aufklärung?
Die Autor:innen der zuletzt genannten Studie fordern, dass
Anti-Stigma-Kampagnen viel stärker schwere psychische Erkrankungen in den
Blick nehmen müssen, vor allem solche mit psychotischen Symptomen. Das RKI
hält Informations-Kampagnen für notwendig, damit Menschen sich rechtzeitig
Unterstützung suchen. Sie sollten, sagt das RKI, aber auch darüber
aufklären, dass psychische Symptome als Teil „normalen“ Erlebens toleriert
werden müssten und nicht immer behandlungsbedürftig seien.
Warum das?
Das Verständnis von psychischer Störung ist breiter geworden, wies [27][der
australische Wissenschaftler Nick Haslam] schon 2016 nach. Das bedeutet,
dass belastende Erfahrungen als „traumatisch“ bezeichnet werden,
Traurigkeit als „Depression“. 2024 publizierte [28][Haslam mit einer
Kollegin] eine Studie, die Hinweise darauf liefert, dass zunehmend Menschen
aufgrund der verwässernden Begrifflichkeit professionelle Hilfe suchen, die
keine brauchen. 2023 warnten [29][Wissenschaftler:innen der
Universität Oxford] davor, dass die Angst vor psychischen Erkrankungen
krank machen kann. Ein geringes Wissen über Mental Health ist sogar ein
Schutzfaktor gegen Depressionen, zitiert eine [30][RKI-Veröffentlichung]
aus einer australischen Studie.
10 Oct 2025
## LINKS
[1] /Wege-zur-psychischen-Gesundheit/!6040748
[2] https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=zeitungenxl&norm=date%2Bc…
[3] https://www.deutschlandfunk.de/krise-der-psychiatrie-diagnosendaemmerung-10…
[4] https://jamanetwork.com/journals/jamapsychiatry/article-abstract/2830862
[5] https://www.thelancet.com/journals/lanpsy/article/PIIS2215-0366(25)00196-8/…
[6] https://www.gbe.rki.de/DE/Themen/Gesundheitszustand/PsychischeStoerungen/Ps…
[7] https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6302526/
[8] https://public.data.rki.de/t/public/views/hf-MHS_Dashboard/Dashboard?%3Aemb…
[9] https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie…
[10] https://www.versorgungsatlas.de/fileadmin/ziva_docs/93/VA_18-07_Bericht_Ps…
[11] https://www.pimcuijpers.com/blog/findings/#3
[12] https://api.bptk.de/uploads/TK_Abschlussbericht_Qualitaetsmonitoring_in_de…
[13] https://link.springer.com/article/10.1007/s00787-021-01884-6
[14] https://www.dgps.de/fachgruppen/fgkl/aktivitaeten/evidenzbasierte-personal…
[15] https://link.springer.com/article/10.1007/s00115-019-00808-9
[16] https://figshare.com/articles/journal_contribution/Untitled_ItemEin_versor…
[17] https://www.rki.de/DE/Themen/Nichtuebertragbare-Krankheiten/Psychische-Ges…
[18] /Therapeut-ueber-das-Reden-ueber-Psyche/!6074355
[19] https://www.zeit.de/2025/38/psychische-krankheiten-vererbung-eltern-leben-…
[20] https://www.nature.com/articles/s44184-025-00152-8.pdf
[21] https://innovationsfonds.g-ba.de/downloads/beschluss-dokumente/450/2023-10…
[22] https://www.bptk.de/pressemitteilungen/psychisch-kranke-warten-142-tage-au…
[23] https://www.dptv.de/fileadmin/Redaktion/Bilder_und_Dokumente/Wissensdatenb…
[24] http://www.ddpp.eu/persons/prof-dr-med-dorothea-von-haebler
[25] https://equityhealthj.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12939-017-0644-5
[26] https://www.cambridge.org/core/journals/european-psychiatry/article/change…
[27] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1047840X.2016.1082418
[28] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2666560324000318
[29] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0732118X2300003X?via%3D…
[30] https://link.springer.com/article/10.1007/s00103-018-2867-z
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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