| # taz.de -- Depressionen im Alter: Den Blick nach vorne richten | |
| > Seelisches Leid findet oft im Verborgenen statt, insbesondere im Alter. | |
| > Wie das Älterwerden die Psyche verändert und was den Betroffenen geholfen | |
| > hat. | |
| Bild: „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt Margarete Nienaber über sich. … | |
| taz | Zwei- bis dreimal die Woche packt Margarete Nienaber Badeanzug, | |
| Schwimmbrille und Handtuch in ihre Tasche und setzt sich in die | |
| Straßenbahn. Im Sommer steuert sie das Freibad an, „bei Wind und Wetter“, | |
| wie die 76-Jährige sagt. Jetzt, im Herbst, fährt sie wieder ins Hallenbad. | |
| Nienaber braucht das Schwimmen. Weil sie fit bleiben will. Aber auch, weil | |
| die Depression in den Hintergrund rückt, wenn sie ihre Bahnen zieht und das | |
| kalte Wasser auf der Haut spürt. „Wenn ich schwimmen gehe, weiß ich, dass | |
| es mir danach besser geht, dass ich wenigstens das geschafft habe“, sagt | |
| sie, als sie an einem Donnerstagnachmittag in einem Frankfurter Bistro | |
| sitzt. | |
| Vor sechs Jahren zog die ehemalige Englisch- und Politiklehrerin in die | |
| hessische Großstadt. Um ihre Tochter mit den Kindern zu unterstützen und | |
| weil sie auch ein bisschen Lust auf Veränderung hatte. Nienaber kommt aus | |
| Nienburg an der Weser, einer Kleinstadt in Niedersachsen. Wenn sie von | |
| ihrer Heimat erzählt, spricht sie aber nur vom „Norden“, wo alles ein | |
| bisschen ruhiger zugeht und wohin sie sich ab und zu zurücksehnt, wenn | |
| Frankfurt ihr zu viel wird. | |
| ## „Man geht sich auf die Nerven“ | |
| Bis vor wenigen Tagen noch war Nienaber mit einer Freundin auf der | |
| Nordseeinsel Borkum unterwegs. Ein Urlaub, den die beiden Frauen regelmäßig | |
| zusammen machen. „Da geht man sich natürlich auch mal auf die Nerven“, | |
| erzählt Nienaber und lacht. „Aber wir kennen uns seit 50 Jahren“, da sei | |
| das kein Problem. | |
| Den Umzug in die Großstadt hat Nienaber mehr oder weniger allein gestemmt. | |
| Transporter organisiert, Kisten rein und los. 400 Kilometer Richtung Süden, | |
| mit 69 Jahren. „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt sie. „Ich habe nicht | |
| einmal Höhenangst.“ Doch wenn sie in einer depressiven Phase sei, dann habe | |
| sie vor allem Angst, vor dem Tag, der vor ihr liege, vor dem ganzen Leben. | |
| Seitdem sie 18 ist, lebt Nienaber mit Depressionen, schon ihre Mutter war | |
| daran erkrankt. Das Alter empfindet die Seniorin als einen Verstärker ihrer | |
| Depressionen. Vor allem durch die Einsamkeit. Ihre Töchter und ihre Enkel | |
| seien inzwischen groß, da werde sie nicht mehr gebraucht. Freundinnen | |
| würden krank, gemeinsame Treffen immer seltener. Hinzu kommt das Gefühl, im | |
| Alter von der Gesellschaft übersehen zu werden. Das merke sie schon, wenn | |
| sie in Frankfurt über die Straßen laufe – dass die Menschen ihr keinen | |
| Platz machten. | |
| Und dann ist da noch der Faktor Zeit: „Manchmal denke ich, ich verliere so | |
| viele Tage und Wochen mit der Depression“, sagt Nienaber. „Und dieses | |
| Gefühl wird im Alter schlimmer, weil die Zeit, die mir bleibt, ja immer | |
| weniger wird.“ | |
| ## Verstecktes seelisches Leid | |
| Nun kommen schwere Depressionen den meisten Studien zufolge im Alter nicht | |
| grundsätzlich öfter vor als in jüngeren Jahren. [1][Allerdings leiden | |
| Senior*innen zwei bis drei Mal so häufig an leichteren Depressionen] | |
| oder solchen, bei denen nicht alle Symptome vorliegen. Zudem steigt mit dem | |
| Alter das Risiko für einen Suizidversuch, dem häufig eine Depression | |
| vorausgeht. So war im Jahr 2023 ein Mensch, der sich in Deutschland das | |
| Leben genommen hat, im Schnitt [2][61,5 Jahre alt]. Besonders für Männer | |
| steigt das Risiko. Aber auch jede zweite durch Selbsttötung verstorbene | |
| Frau ist älter als 60, wie aus den [3][aktuellen Zahlen des Nationalen | |
| Suizidpräventionsprogramms (NASPRO)] hervorgeht. | |
| Seelisches Leid findet oft im Verborgenen statt, insbesondere im Alter. | |
| Doch woran liegt das? Was macht es mit der Psyche, wenn das Lebensende | |
| näher rückt? Wie kann älteren Menschen mit Depression geholfen werden? Und | |
| vor allem: Welche Rolle spielt dabei die Gesellschaft und ihr Umgang mit | |
| den Themen Alter und Tod? | |
| Margarete Nienaber ist ihr ganzes Leben lang offen mit den Depressionen | |
| umgegangen. Als sie einmal länger krankgeschrieben war, verfasste sie für | |
| ihre Lehrkolleg*innen einen Brief, in dem sie von ihren Depressionen | |
| erzählte. Und wies darauf hin, wie viele Menschen ihr Schicksal teilten. | |
| Inzwischen nimmt Nienaber eine gewisse Enttabuisierung von Depressionen | |
| wahr. Doch von einer wirklichen Anerkennung könne noch keine Rede sein. Das | |
| merke sie daran, dass um sie herum mit körperlich erkrankten | |
| Senior*innen anders umgegangen werde als mit psychisch Erkrankten. „Wenn | |
| es um eine Herzkrankheit geht, wird sich gekümmert“ sagt Nienaber. Geht es | |
| um Depressionen, beobachte sie häufig Verunsicherung, unpassende Ratschläge | |
| oder Schweigen – was sicher auch daran liege, dass man die Erkrankung | |
| Betroffenen nicht ansehe. | |
| Helmut Stein hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Schweigen zu bekämpfen, | |
| ein Vierteljahrhundert schon. Seitdem leitet der 82-Jährige eine | |
| Selbsthilfegruppe im Auftrag des Leipziger Bündnisses gegen Depression, zu | |
| dessen Gründungsmitgliedern er gehört. Das Angebot richtet sich an Menschen | |
| mit Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen. Die meisten Mitglieder sind | |
| älter als 65. | |
| Stein, der seit seinem 59. Lebensjahr an Depressionen leidet, ist heute zu | |
| Fuß gekommen, seine Wohnung liegt nur ein paar Hundert Meter vom | |
| Seniorenbüro Südost entfernt. Eigentlich fahre er gerne Fahrrad, erzählt | |
| der ehemalige Pädagoge und Heilerziehungspfleger, als er im Seniorenbüro | |
| angekommen ist. Doch je älter er werde, desto weniger traue er sich. „Nicht | |
| nur der Körper, auch die Seele wird alt“, sagt er. Nur werde darüber | |
| bislang zu wenig gesprochen. | |
| ## Was bedeutet Älterwerden? | |
| Den wenigsten sei klar, was Älterwerden wirklich bedeute: das Gedächtnis | |
| lasse nach, eine Ruhelosigkeit breite sich aus, Unsicherheiten und Ängste | |
| nähmen zu. Das liege vor allem auch am körperlichen Abbau. „Wenn plötzlich | |
| alles nur noch in Zeitlupe geht, dann macht das was mit einem.“ In einer | |
| Viertelstunde geht das Treffen los. Der Gruppenleiter schiebt Tische | |
| zusammen, füllt eine Karaffe mit Wasser auf, holt Gläser aus der Küche. Ein | |
| festes Skript für die Gruppentreffen habe er nicht. Es gehe darum, dass | |
| jeder seine Probleme auf den Tisch packen könne, um im Austausch mit den | |
| anderen einen Umgang mit der Depression zu finden. Er sei wie „der | |
| Moderator im Fernsehen“, der dafür sorge, dass alle zu Wort kommen. | |
| „Wie geht es uns heute?“, fragt Stein in die Runde. Sechs | |
| Teilnehmer*innen sind an diesem Montag ins Seniorenbüro gekommen: zwei | |
| Männer, vier Frauen. | |
| Gudrun, gelbes T-Shirt, kurze Haare, fängt an. Ihre ersten beiden Jahre | |
| Rente habe sie genossen, erzählt die 69-Jährige, deren Name wie bei allen | |
| anderen Gruppenmitgliedern in diesem Text geändert wurde. Doch dann starb | |
| ihr Partner. Die Angst vor dem Alleinsein lähmte sie. Sie habe lange | |
| gebraucht, um sich bei Helmut Stein zu melden. Inzwischen sei sie froh, | |
| einen Ort zu haben, an dem sie sich mit Menschen in ihrem Alter über ihre | |
| Depression austauschen kann. | |
| Steins Blick wandert zu Karin, blauer Strickpulli, Rollator, ehemalige | |
| Handballerin. Viel erzählt die 84-Jährige heute nicht. Nur, dass sie sich | |
| so weit ganz gut fühle, aber auch ein bisschen allein. | |
| Ein Gefühl, das auch Hannelore kennt. Ihr Sohn habe sich eben bei ihr | |
| gemeldet, berichtet die 80-Jährige, die eine Föhnfrisur trägt und viele | |
| goldene Ringe an den Fingern. Er sei wieder gut in Deutschland angekommen | |
| nach dem Türkei-Urlaub. Tränen der Erleichterung laufen Hannelore übers | |
| Gesicht – und werden zu Tränen der Trauer. Sie erzählt von ihrem Mann, der | |
| vor zwei Jahren gestorben ist. Fast hätten sie 60 Jahre Ehe geschafft. | |
| Trotzdem: Mit ihrem Partner habe sie nie über ihre Depression sprechen | |
| können. „Der hat das nicht verstanden. | |
| ## Depressionen und Scham | |
| Der sagte immer nur, wir haben doch alles, wir können uns doch alles | |
| leisten.“ Also schloss sie sich der Gruppe von Helmut Stein an. Seit dem | |
| ersten Treffen der Gruppe ist Hannelore dabei. Andere Mitglieder hätten die | |
| Gruppe in der Zwischenzeit wieder verlassen, weil sie ihre Depression | |
| überwunden hätten, sagt Helmut Stein. „Veteranen“ nennt er sie. Andere | |
| seien ins Pflegeheim gezogen, manche auch gestorben. | |
| Wie Hannelore meldeten sich viele bei ihm, weil sie mit ihren Angehörigen | |
| nicht über ihre Depression sprechen könnten. Manche verheimlichten ihre | |
| Erkrankung über Jahre. Gerade Männern falle es schwer, sich zu öffnen. „Die | |
| ziehen sich eher zurück oder spielen nur Skat miteinander. Da spielt sicher | |
| auch ein gewisses Schamgefühl eine Rolle“, sagt Stein. Umso mehr Ermutigung | |
| brauchten die Männer, sich Hilfe zu holen. | |
| So wie Peter. Seine Frau habe die Selbsthilfegruppe vor drei Jahren für ihn | |
| ausfindig gemacht, erzählt der Senior mit Schnauzbart. Was ihm die | |
| regelmäßigen Treffen geben? „Ich bin hier unter Gleichgesinnten. Das heißt, | |
| ich werde nicht bedauert, so wie ich es oft bei Angehörigen erlebe. Das | |
| zieht mich meist nur noch mehr runter.“ | |
| Dass das Älterwerden für die Psyche herausfordernd sein kann, weiß auch | |
| Alexandra Wuttke. Die 37-Jährige ist Professorin für Klinische Psychologie | |
| und Psychotherapie des höheren Lebensalters an der Uni Konstanz. „Das Alter | |
| per se ist kein Risikofaktor für eine Depression, die meisten Menschen | |
| finden einen guten Umgang mit dem Älterwerden“, sagt sie. „Aber es gibt | |
| altersspezifische Faktoren, die das Risiko einer psychischen Störung und | |
| damit auch einer Depression erhöhen können.“ Dazu zählen zum Beispiel der | |
| Renteneintritt, der nicht selten eine ganz neue Lebensspanne einläutet, das | |
| Auftreten von Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder der Verlust von | |
| sozialen Kontakten. | |
| Obwohl das weitgehend bekannt ist, sei die Versorgungslage für ältere | |
| Menschen mit Depressionen in Deutschland prekär, kritisiert Wuttke. Das | |
| fange bereits bei der Diagnostik an. „Meist werden nur die Hauptsymptome | |
| wie gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und verminderter Antrieb abgefragt, | |
| aber bei älteren Menschen zeigt sich eine Depression häufig vor allem | |
| körperlich, in Form von Konzentrationsstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen | |
| oder Schlafproblemen.“ Das führe oft dazu, dass die Erkrankung übersehen | |
| werde. In der Folge seien die meisten Zahlen zum Vorkommen von Depressionen | |
| im Alter nur bedingt aussagekräftig. | |
| In der Selbsthilfegruppe fragt Helmut Stein nun Peter, wie es ihm heute | |
| gehe. Peter erzählt von seinen Rückenschmerzen, wegen derer er bald einen | |
| Termin in einer Klinik habe. Er leide bereits an Parkinson und Diabetes. | |
| „Die Krankheiten werden immer mehr“, sagt er. Aus der Depression finde er | |
| auch deshalb zur Zeit kaum heraus. | |
| ## Gemeinschaft gegen Trauer | |
| Was bei Peter die Rückenschmerzen sind, ist bei Sandra die Arthritis, sind | |
| bei Gudrun die zittrigen Hände. Die Menschen, die heute im Seniorenbüro | |
| zusammensitzen, verbindet nicht nur die Diagnose Depression, sondern auch | |
| die Erfahrung des Alterns. Deshalb geht es heute neben Ängsten und Trauer | |
| auch um Pflegestufen und Pflegekosten, Rollatoren, altersgerechte Ausflüge | |
| und Hockergymnastik – und die Apotheke, die neulich im Leipziger Stadtteil | |
| Stötteritz eröffnete, nachdem drei Apotheken nacheinander geschlossen | |
| hatten. | |
| Aber auch Themen, die nichts mit dem Alter zu tun haben, werden hier | |
| besprochen. Hannelore berichtet von der Rolle Kunstrasen, die noch auf | |
| ihrem Balkon verlegt werden will, Peter von seinem Handyvertrag, den er | |
| kündigen möchte und Bernd von seinem Pflaumenkuchen-Erfolg. Das erste Mal, | |
| dass er überhaupt was gebacken habe, erzählt er. Sonst habe das ja immer | |
| seine Frau gemacht. „Warum hast du denn nichts mitgebracht?“, fragt | |
| Hannelore. Die Runde lacht. | |
| Zum Schluss ist der Gruppenleiter selbst dran. Seine Rückenschmerzen | |
| machten ihm zu schaffen, erzählt Helmut Stein. Er merke, wie seine Kräfte | |
| nachließen und auch seinen Tag zu strukturieren, falle ihm immer schwerer. | |
| Wehmut klingt aus seinen Worten heraus. Doch er will weiter machen mit | |
| seiner Gruppe, solange er kann. Sie sei schließlich nicht nur Hobby für | |
| ihn, sondern Lebensinhalt. Mit ihr habe er nicht nur anderen Betroffenen | |
| geholfen, sondern vor allem auch sich selbst. | |
| Psychologin Alexandra Wuttke kritisiert nicht nur die diagnostischen | |
| Fehlschlüsse bei Patient*innen im höheren Lebensalter, sondern auch, | |
| dass bei ihnen viel zu häufig nur zu Psychopharmaka gegriffen werde, | |
| anstatt auch mit einer Therapie zu behandeln. Zwar gelten die Leitlinien | |
| zur Behandlung von Depressionen altersübergreifend und empfehlen je nach | |
| Schweregrad Psychotherapie und/oder medikamentöse Therapie. Allerdings | |
| liege der Anteil älterer Menschen in der Psychotherapie aktuell bei unter | |
| drei Prozent, bei hochaltrigen beinahe bei null. Gleichzeitig würden immer | |
| mehr Psychopharmaka verschrieben. „Das ist dramatisch“, sagt die Expertin. | |
| Vor allem in Pflegeheimen würden oft nur Antidepressiva gegeben anstatt | |
| Psychotherapeut*innen hinzuzuziehen. | |
| Doch woran liegt das? Einerseits beobachtet Wuttke Vorbehalte unter | |
| Behandelnden gegenüber älteren Patient*innen: „Viele denken, sie seien | |
| nicht kompetent genug für das Thema oder sie spielen es herunter, nach dem | |
| Motto, depressive Symptome sind ja normal im Alter.“ Andererseits sei das | |
| Bewusstsein für die Themen psychische Gesundheit und Psychotherapie bei | |
| Patient*innen aus der Nachkriegsgeneration mitunter wenig ausgeprägt. | |
| Bei jüngeren Senior*innen hingegen sieht die Dozentin eine zunehmende | |
| Offenheit. | |
| ## Psychotherapie hilft auch Ältern | |
| Glücklicherweise, schließlich könne Psychotherapie älteren Menschen genauso | |
| gut helfen wie jüngeren – anders als es Sigmund Freud behauptete. Der | |
| Begründer der Psychoanalyse ging davon aus, dass Menschen mit zunehmendem | |
| Alter geistig unbeweglich werden und eine Therapie aufgrund der vielen zu | |
| verarbeitenden Lebenserfahrung zu zeitaufwändig ist. | |
| Psychotherapie könne im Alter genauso ablaufen wie in jüngeren Jahren, sagt | |
| Wuttke. Alles orientiere sich an den Bedürfnissen des*der Patient*in. Ist | |
| jemand kognitiv eingeschränkt, könne sie als Therapeutin ihre Inhalte | |
| vereinfachen. Ist jemand nicht mehr so mobil, könne sie über eine Therapie | |
| zu Hause nachdenken. Der Fokus lasse sich auf die Zukunft richten, genauso | |
| wie auf die Vergangenheit, durch Biografiearbeit oder konkrete | |
| Interventionen im Hier und Jetzt. „Wir therapieren nicht das Alter“, betont | |
| Wuttke, „sondern die Depression“. | |
| Im Juli dieses Jahres ging dazu ein prominenter Fall durch die Medien. | |
| Ex-Trigema-Chef Wolfgang Grupp hatte seine Depressionen und einen | |
| Suizidversuch öffentlich gemacht. In einem [4][Brief an seine ehemaligen | |
| Mitarbeitenden] schrieb der 84-Jährige, er habe sich zuletzt gefragt, ob er | |
| überhaupt noch gebraucht werde. | |
| Besonders hoch ist die Suizidgefahr laut Statistik in der Gruppe der | |
| Über-80-Jährigen. Da das Statistische Bundesamt keine gesonderten Zahlen | |
| für assistierte Selbsttötungen herausgibt, bleibt allerdings unklar, wie | |
| hoch der Anteil dieser in den einzelnen Altersgruppen ist. Laut NASPRO sind | |
| Suizide in Deutschland zunehmend ein Phänomen der Älteren. | |
| In vielen Medienberichten war nach dem Suizidversuch des ehemaligen | |
| Trigema-Chefs immer wieder von „Altersdepression“ die Rede. Ein Begriff, | |
| mit dem Laura Pacios Prado ihre Probleme hat. „Er bedient das Stereotyp, | |
| dass das Alter depressiv macht. Wir sagen ja auch nicht Jugenddepression“, | |
| kritisiert die 36-Jährige, die in Frankfurt Menschen ab 65 zu Hause | |
| psychologisch berät. Zwei bis drei Klient*innen besucht Pacios Prado am | |
| Tag. Rund 100 haben sie und ihre Kollegin seit Beginn des Pilotprojekts, | |
| das in der Krisen- und Lebensberatungsstelle des katholischen Sozialträgers | |
| Haus der Volksarbeit initiiert wurde, betreut. | |
| „Vor allem in den Städten gibt es viele Angebote für Senioren, aber | |
| diejenigen, die das Haus nicht oder nur schwer verlassen können, sind oft | |
| ausgeschlossen“, sagt Pacios Prado, die sich um eben solche Menschen | |
| kümmert. 85 Prozent ihrer Klient*innen seien Frauen. Nicht weil es | |
| Männern besser gehe, sondern weil Frauen sich eher Hilfe suchten. Viele | |
| Gespräche drehten sich um Einsamkeit, den Verlust des Partners oder den | |
| bevorstehenden Umzug ins Pflegeheim. „Viele erzählen mir, dass sie bei mir | |
| zum ersten Mal diese Themen ansprechen können“, sagt Pacios Prado. | |
| ## Dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert | |
| Nicht selten trennen sie und ihre Klient*innen ein halbes Jahrhundert. | |
| Doch ältere Menschen hätten sie schon immer auf eine besondere Weise | |
| berührt, erzählt die Psychotherapeutin. Und in ihr vor allem eine Neugier | |
| geweckt: Was hat diese Personen erlebt, was hat sie geprägt? Um die | |
| psychische Gesundheit von Rentner*innen zu schützen, wünscht sich Pacios | |
| Prado mehr Wertschätzung und Respekt für deren Lebensleistung. | |
| Etwas, was ihrer Erfahrung nach in ihrer zweiten Heimat Spanien stärker | |
| praktiziert werde als in Deutschland. „In Spanien sind alte Menschen noch | |
| eher in die Gesellschaft eingebunden und im Stadtbild präsent, und wenn es | |
| nur bedeutet, dass sie sich auf die Bank vor dem Haus setzen, um sich mit | |
| ihren Nachbarn zu treffen. Auch in der Familie spielen die Großeltern noch | |
| eine größere Rolle.“ | |
| Um die Einsamkeit derer abzufangen, die nicht mehr eingebunden sind, | |
| braucht es Pacios Prados Meinung nach mehr aufsuchende Beratungsangebote | |
| wie ihres in Frankfurt – auch um zu intervenieren, bevor eine | |
| Psychotherapie notwendig wird. | |
| Für Hartmut Sonntag wäre dieses Angebot vielleicht genau das richtige | |
| gewesen. Insbesondere in der Zeit, als er es kaum noch vor die Tür | |
| schaffte. Acht Jahre sind seitdem vergangen, doch der 66-Jährige erinnert | |
| sich noch, als wäre es gestern: Sonntag ist damals Dozent bei einem | |
| Unternehmen, das Weiterbildungen für Erwachsene anbietet. Er leitet die | |
| Leipziger Niederlassung. Die Arbeit bedeutet ihm viel, durch sie fühlt er | |
| sich gebraucht. Doch die Firma muss schließen. Monatelang ist Sonntag damit | |
| beschäftigt, das Geschäft in Leipzig abzuwickeln. Obwohl er schon lange | |
| eine enorme Erschöpfung spürt, gibt er 100 Prozent, schiebt alle Gefühle | |
| beiseite. So erzählt es der Rentner, als er an einem Vormittag im | |
| Spätsommer auf seinem Balkon im Leipziger Osten sitzt, wo die roten | |
| Geranien ihre letzten Blüten in diesem Jahr tragen. | |
| Wie einen Schlag habe es ihn dann getroffen, als er am letzten Arbeitstag | |
| seinen Firmenschlüssel abgeben musste. „Ich saß zu Hause auf dem Sofa und | |
| habe nur noch geheult. Ich dachte, jetzt bin ich Ende 50 und stehe vor dem | |
| Nichts“, erzählt Sonntag, während er immer wieder auf die Zettel schaut, | |
| die neben seiner Kaffeetasse auf dem Balkontisch liegen. Am Computer hat er | |
| sich zuvor Notizen fürs Interview gemacht, alles aufgeschrieben, was seit | |
| der Depression passiert ist, die sein Leben heute in ein „Vorher und | |
| Nachher“ teile. | |
| Sonntag fällt damals in ein tiefes Loch. Eine Mischung aus Erschöpfung, | |
| Angst und Gleichgültigkeit lähmt ihn. Seine Wohnung verlässt er nur, um | |
| sich etwas zu Essen zu kaufen. „Nichts sehen, nichts hören“, wie er sagt. | |
| Er verliert sich in einem Strom aus Grübeleien und Selbstvorwürfen. | |
| Erst als seine Vermittlerin in der Agentur für Arbeit ihm dazu rät, geht | |
| Hartmut Sonntag zu seinem Hausarzt. Die Diagnose: Depression. Ein Schock. | |
| Depression? Er? „Ich dachte immer, wer depressiv ist, der bildet sich das | |
| alles nur ein, der ist einfach nur zu faul und braucht ein bisschen Druck, | |
| dann geht es schon wieder“, erinnert er sich. Doch bei ihm geht im Herbst | |
| 2017 gar nichts mehr. Selbst den Hörer in die Hand nehmen, um die Liste der | |
| Psychotherapeut*innen abzutelefonieren, die ihm sein Hausarzt | |
| mitgegeben hat: zu viel. | |
| Mehrere Monate vergehen so. Dann schafft es Sonntag, sich Hilfe zu holen. | |
| Er beginnt eine Gruppentherapie und wird Teil einer Theatergruppe, in der | |
| Menschen mit Depressionen zusammenkommen. Das gibt ihm wieder Kraft. | |
| ## Älterwerden als Krankheitsverstärker | |
| Doch für den Wiedereinstieg in den Beruf reicht sie nicht. Ein Zustand, den | |
| er damals nur schwer aushält. Was auch daran liegt, wie er die Wende 1989 | |
| erlebt hat. Der Mauerfall bedeutete für Sonntag, zu der Zeit Berufssoldat, | |
| zunächst vor allem Arbeitslosigkeit. Eine Erfahrung, die sich schmerzhaft | |
| bei ihm einbrennt. | |
| Ähnlich wie Margarete Nienaber, nimmt auch Hartmut Sonntag das Älterwerden | |
| als Verstärker seiner Erkrankung wahr. „Man hat ja weniger Ablenkung durch | |
| den Alltag und somit mehr Zeit zum Grübeln“, sagt er. Es habe Jahre | |
| gedauert, bis er einen guten Umgang mit der Depression gefunden habe. | |
| Inzwischen sei er in der Lage, die Warnsignale zu erkennen. Wenn er abends | |
| im Bett liege und nicht einschlafen könne, weil er sich wieder in | |
| Gedankenschleifen verliere, dann stehe er wieder auf. Dann wandere er durch | |
| seine Wohnung, erledige Dinge im Haushalt, schaue Fernsehen, mache sich | |
| eine heiße Milch mit Honig – oder eben Frühstück, „auch wenn es erst 3 U… | |
| ist“. | |
| Eine Lohnarbeit hatte Sonntag seit seiner Diagnose 2017 nicht mehr. Die | |
| ersten Jahre bezog er Erwerbsminderungsrente, seit einem Jahr erhält er | |
| Altersrente. Oft habe er sich seitdem schlecht gefühlt, „ich dachte immer, | |
| ich lungere ja den ganzen Tag nur herum.“ Doch dann habe er an einer Studie | |
| zu Depressionen im Alter teilgenommen, bei der er gebeten worden sei, über | |
| ein paar Wochen alles zu notieren, was er den Tag lang macht, vom Gießen | |
| der Geranien bis zum Gang zum Supermarkt. „Da habe ich auf einmal gemerkt, | |
| ich mache ja doch etwas und zwar gar nicht so wenig“, erzählt Sonntag. „Das | |
| hat meinem Selbstbild gut getan.“ | |
| Vor allem aber der Austausch mit anderen Betroffenen habe ihm geholfen. | |
| „Die Depression verschwindet nicht, wenn man offen über sie spricht“ sagt | |
| er, „aber man merkt, dass man mit der Erkrankung nicht allein ist“. | |
| Seit seiner Diagnose hat Sonntag es sich zur Aufgabe gemacht, von | |
| Depression Betroffenen eine Stimme zu geben. Deshalb hat er sich vor sieben | |
| Jahren, wie Helmut Stein, dem Leipziger Bündnis gegen Depressionen | |
| angeschlossen. Er gründete eine Selbsthilfegruppe, nahm an Ehrenamtstreffen | |
| teil, klärte bei Veranstaltungen am Infostand des Bündnisses auf. Vor zwei | |
| Wochen unterstützte er sogar einen Workshop in einer Schule, um für | |
| Depressionen zu sensibilisieren, erzählt Sonntag, dessen Gesichtsausdruck | |
| sich plötzlich erhellt. Die Arbeit mit den Jugendlichen habe ihm Spaß | |
| gemacht, sagt er und hört sich dabei auch ein bisschen stolz an. | |
| Arbeit, von der es noch viel mehr braucht, wenn es nach Alexandra Wuttke | |
| von der Uni Konstanz geht. Denn um Menschen im Alter vor psychischen | |
| Erkrankungen zu schützen, müsse viel mehr Aufklärung stattfinden, | |
| bestenfalls schon in jungen Jahren. Darüber, wie sich psychische Störungen | |
| im Alter bemerkbar machen können, wie Psychotherapie helfen kann und welche | |
| präventive Wirkung soziale Kontakte und Bewegung haben können. Wuttke | |
| fordert eine „Entstigmatisierung des Alters“. Das bedeute auch, den Fokus | |
| anstatt auf die Defizite auf die Ressourcen zu legen, die das Alter mit | |
| sich bringen könne: Lebenserfahrung, Weisheit, Gelassenheit. | |
| Wenn das gelingt, ist sie sich sicher, ließen sich nicht nur Depressionen | |
| verhindern. Das Alter würde auch nicht mehr so bedrohlich wirken. „Viele | |
| denken bis heute, ab der Rente werde man automatisch gebrechlich und | |
| einsam“, sagt die Professorin. „Aber das stimmt nicht.“ | |
| Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche | |
| und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste | |
| psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter | |
| 112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter | |
| [5][taz.de/suizidgedanken] im Internet. | |
| 25 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depress… | |
| [2] https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf | |
| [3] https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf | |
| [4] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/grupp-brief-100.html | |
| [5] /Hilfsangebote-bei-suizidalen-Gedanken/!6009869 | |
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| Laura Catoni | |
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