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# taz.de -- Depressionen im Alter: Den Blick nach vorne richten
> Seelisches Leid findet oft im Verborgenen statt, insbesondere im Alter.
> Wie das Älterwerden die Psyche verändert und was den Betroffenen geholfen
> hat.
Bild: „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt Margarete Nienaber über sich. …
taz | Zwei- bis dreimal die Woche packt Margarete Nienaber Badeanzug,
Schwimmbrille und Handtuch in ihre Tasche und setzt sich in die
Straßenbahn. Im Sommer steuert sie das Freibad an, „bei Wind und Wetter“,
wie die 76-Jährige sagt. Jetzt, im Herbst, fährt sie wieder ins Hallenbad.
Nienaber braucht das Schwimmen. Weil sie fit bleiben will. Aber auch, weil
die Depression in den Hintergrund rückt, wenn sie ihre Bahnen zieht und das
kalte Wasser auf der Haut spürt. „Wenn ich schwimmen gehe, weiß ich, dass
es mir danach besser geht, dass ich wenigstens das geschafft habe“, sagt
sie, als sie an einem Donnerstagnachmittag in einem Frankfurter Bistro
sitzt.
Vor sechs Jahren zog die ehemalige Englisch- und Politiklehrerin in die
hessische Großstadt. Um ihre Tochter mit den Kindern zu unterstützen und
weil sie auch ein bisschen Lust auf Veränderung hatte. Nienaber kommt aus
Nienburg an der Weser, einer Kleinstadt in Niedersachsen. Wenn sie von
ihrer Heimat erzählt, spricht sie aber nur vom „Norden“, wo alles ein
bisschen ruhiger zugeht und wohin sie sich ab und zu zurücksehnt, wenn
Frankfurt ihr zu viel wird.
## „Man geht sich auf die Nerven“
Bis vor wenigen Tagen noch war Nienaber mit einer Freundin auf der
Nordseeinsel Borkum unterwegs. Ein Urlaub, den die beiden Frauen regelmäßig
zusammen machen. „Da geht man sich natürlich auch mal auf die Nerven“,
erzählt Nienaber und lacht. „Aber wir kennen uns seit 50 Jahren“, da sei
das kein Problem.
Den Umzug in die Großstadt hat Nienaber mehr oder weniger allein gestemmt.
Transporter organisiert, Kisten rein und los. 400 Kilometer Richtung Süden,
mit 69 Jahren. „Ich bin kein ängstlicher Typ“, sagt sie. „Ich habe nicht
einmal Höhenangst.“ Doch wenn sie in einer depressiven Phase sei, dann habe
sie vor allem Angst, vor dem Tag, der vor ihr liege, vor dem ganzen Leben.
Seitdem sie 18 ist, lebt Nienaber mit Depressionen, schon ihre Mutter war
daran erkrankt. Das Alter empfindet die Seniorin als einen Verstärker ihrer
Depressionen. Vor allem durch die Einsamkeit. Ihre Töchter und ihre Enkel
seien inzwischen groß, da werde sie nicht mehr gebraucht. Freundinnen
würden krank, gemeinsame Treffen immer seltener. Hinzu kommt das Gefühl, im
Alter von der Gesellschaft übersehen zu werden. Das merke sie schon, wenn
sie in Frankfurt über die Straßen laufe – dass die Menschen ihr keinen
Platz machten.
Und dann ist da noch der Faktor Zeit: „Manchmal denke ich, ich verliere so
viele Tage und Wochen mit der Depression“, sagt Nienaber. „Und dieses
Gefühl wird im Alter schlimmer, weil die Zeit, die mir bleibt, ja immer
weniger wird.“
## Verstecktes seelisches Leid
Nun kommen schwere Depressionen den meisten Studien zufolge im Alter nicht
grundsätzlich öfter vor als in jüngeren Jahren. [1][Allerdings leiden
Senior*innen zwei bis drei Mal so häufig an leichteren Depressionen]
oder solchen, bei denen nicht alle Symptome vorliegen. Zudem steigt mit dem
Alter das Risiko für einen Suizidversuch, dem häufig eine Depression
vorausgeht. So war im Jahr 2023 ein Mensch, der sich in Deutschland das
Leben genommen hat, im Schnitt [2][61,5 Jahre alt]. Besonders für Männer
steigt das Risiko. Aber auch jede zweite durch Selbsttötung verstorbene
Frau ist älter als 60, wie aus den [3][aktuellen Zahlen des Nationalen
Suizidpräventionsprogramms (NASPRO)] hervorgeht.
Seelisches Leid findet oft im Verborgenen statt, insbesondere im Alter.
Doch woran liegt das? Was macht es mit der Psyche, wenn das Lebensende
näher rückt? Wie kann älteren Menschen mit Depression geholfen werden? Und
vor allem: Welche Rolle spielt dabei die Gesellschaft und ihr Umgang mit
den Themen Alter und Tod?
Margarete Nienaber ist ihr ganzes Leben lang offen mit den Depressionen
umgegangen. Als sie einmal länger krankgeschrieben war, verfasste sie für
ihre Lehrkolleg*innen einen Brief, in dem sie von ihren Depressionen
erzählte. Und wies darauf hin, wie viele Menschen ihr Schicksal teilten.
Inzwischen nimmt Nienaber eine gewisse Enttabuisierung von Depressionen
wahr. Doch von einer wirklichen Anerkennung könne noch keine Rede sein. Das
merke sie daran, dass um sie herum mit körperlich erkrankten
Senior*innen anders umgegangen werde als mit psychisch Erkrankten. „Wenn
es um eine Herzkrankheit geht, wird sich gekümmert“ sagt Nienaber. Geht es
um Depressionen, beobachte sie häufig Verunsicherung, unpassende Ratschläge
oder Schweigen – was sicher auch daran liege, dass man die Erkrankung
Betroffenen nicht ansehe.
Helmut Stein hat sich zur Aufgabe gemacht, dieses Schweigen zu bekämpfen,
ein Vierteljahrhundert schon. Seitdem leitet der 82-Jährige eine
Selbsthilfegruppe im Auftrag des Leipziger Bündnisses gegen Depression, zu
dessen Gründungsmitgliedern er gehört. Das Angebot richtet sich an Menschen
mit Depressionen, Ängsten und Schlafstörungen. Die meisten Mitglieder sind
älter als 65.
Stein, der seit seinem 59. Lebensjahr an Depressionen leidet, ist heute zu
Fuß gekommen, seine Wohnung liegt nur ein paar Hundert Meter vom
Seniorenbüro Südost entfernt. Eigentlich fahre er gerne Fahrrad, erzählt
der ehemalige Pädagoge und Heilerziehungspfleger, als er im Seniorenbüro
angekommen ist. Doch je älter er werde, desto weniger traue er sich. „Nicht
nur der Körper, auch die Seele wird alt“, sagt er. Nur werde darüber
bislang zu wenig gesprochen.
## Was bedeutet Älterwerden?
Den wenigsten sei klar, was Älterwerden wirklich bedeute: das Gedächtnis
lasse nach, eine Ruhelosigkeit breite sich aus, Unsicherheiten und Ängste
nähmen zu. Das liege vor allem auch am körperlichen Abbau. „Wenn plötzlich
alles nur noch in Zeitlupe geht, dann macht das was mit einem.“ In einer
Viertelstunde geht das Treffen los. Der Gruppenleiter schiebt Tische
zusammen, füllt eine Karaffe mit Wasser auf, holt Gläser aus der Küche. Ein
festes Skript für die Gruppentreffen habe er nicht. Es gehe darum, dass
jeder seine Probleme auf den Tisch packen könne, um im Austausch mit den
anderen einen Umgang mit der Depression zu finden. Er sei wie „der
Moderator im Fernsehen“, der dafür sorge, dass alle zu Wort kommen.
„Wie geht es uns heute?“, fragt Stein in die Runde. Sechs
Teilnehmer*innen sind an diesem Montag ins Seniorenbüro gekommen: zwei
Männer, vier Frauen.
Gudrun, gelbes T-Shirt, kurze Haare, fängt an. Ihre ersten beiden Jahre
Rente habe sie genossen, erzählt die 69-Jährige, deren Name wie bei allen
anderen Gruppenmitgliedern in diesem Text geändert wurde. Doch dann starb
ihr Partner. Die Angst vor dem Alleinsein lähmte sie. Sie habe lange
gebraucht, um sich bei Helmut Stein zu melden. Inzwischen sei sie froh,
einen Ort zu haben, an dem sie sich mit Menschen in ihrem Alter über ihre
Depression austauschen kann.
Steins Blick wandert zu Karin, blauer Strickpulli, Rollator, ehemalige
Handballerin. Viel erzählt die 84-Jährige heute nicht. Nur, dass sie sich
so weit ganz gut fühle, aber auch ein bisschen allein.
Ein Gefühl, das auch Hannelore kennt. Ihr Sohn habe sich eben bei ihr
gemeldet, berichtet die 80-Jährige, die eine Föhnfrisur trägt und viele
goldene Ringe an den Fingern. Er sei wieder gut in Deutschland angekommen
nach dem Türkei-Urlaub. Tränen der Erleichterung laufen Hannelore übers
Gesicht – und werden zu Tränen der Trauer. Sie erzählt von ihrem Mann, der
vor zwei Jahren gestorben ist. Fast hätten sie 60 Jahre Ehe geschafft.
Trotzdem: Mit ihrem Partner habe sie nie über ihre Depression sprechen
können. „Der hat das nicht verstanden.
## Depressionen und Scham
Der sagte immer nur, wir haben doch alles, wir können uns doch alles
leisten.“ Also schloss sie sich der Gruppe von Helmut Stein an. Seit dem
ersten Treffen der Gruppe ist Hannelore dabei. Andere Mitglieder hätten die
Gruppe in der Zwischenzeit wieder verlassen, weil sie ihre Depression
überwunden hätten, sagt Helmut Stein. „Veteranen“ nennt er sie. Andere
seien ins Pflegeheim gezogen, manche auch gestorben.
Wie Hannelore meldeten sich viele bei ihm, weil sie mit ihren Angehörigen
nicht über ihre Depression sprechen könnten. Manche verheimlichten ihre
Erkrankung über Jahre. Gerade Männern falle es schwer, sich zu öffnen. „Die
ziehen sich eher zurück oder spielen nur Skat miteinander. Da spielt sicher
auch ein gewisses Schamgefühl eine Rolle“, sagt Stein. Umso mehr Ermutigung
brauchten die Männer, sich Hilfe zu holen.
So wie Peter. Seine Frau habe die Selbsthilfegruppe vor drei Jahren für ihn
ausfindig gemacht, erzählt der Senior mit Schnauzbart. Was ihm die
regelmäßigen Treffen geben? „Ich bin hier unter Gleichgesinnten. Das heißt,
ich werde nicht bedauert, so wie ich es oft bei Angehörigen erlebe. Das
zieht mich meist nur noch mehr runter.“
Dass das Älterwerden für die Psyche herausfordernd sein kann, weiß auch
Alexandra Wuttke. Die 37-Jährige ist Professorin für Klinische Psychologie
und Psychotherapie des höheren Lebensalters an der Uni Konstanz. „Das Alter
per se ist kein Risikofaktor für eine Depression, die meisten Menschen
finden einen guten Umgang mit dem Älterwerden“, sagt sie. „Aber es gibt
altersspezifische Faktoren, die das Risiko einer psychischen Störung und
damit auch einer Depression erhöhen können.“ Dazu zählen zum Beispiel der
Renteneintritt, der nicht selten eine ganz neue Lebensspanne einläutet, das
Auftreten von Erkrankungen, Pflegebedürftigkeit oder der Verlust von
sozialen Kontakten.
Obwohl das weitgehend bekannt ist, sei die Versorgungslage für ältere
Menschen mit Depressionen in Deutschland prekär, kritisiert Wuttke. Das
fange bereits bei der Diagnostik an. „Meist werden nur die Hauptsymptome
wie gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit und verminderter Antrieb abgefragt,
aber bei älteren Menschen zeigt sich eine Depression häufig vor allem
körperlich, in Form von Konzentrationsstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen
oder Schlafproblemen.“ Das führe oft dazu, dass die Erkrankung übersehen
werde. In der Folge seien die meisten Zahlen zum Vorkommen von Depressionen
im Alter nur bedingt aussagekräftig.
In der Selbsthilfegruppe fragt Helmut Stein nun Peter, wie es ihm heute
gehe. Peter erzählt von seinen Rückenschmerzen, wegen derer er bald einen
Termin in einer Klinik habe. Er leide bereits an Parkinson und Diabetes.
„Die Krankheiten werden immer mehr“, sagt er. Aus der Depression finde er
auch deshalb zur Zeit kaum heraus.
## Gemeinschaft gegen Trauer
Was bei Peter die Rückenschmerzen sind, ist bei Sandra die Arthritis, sind
bei Gudrun die zittrigen Hände. Die Menschen, die heute im Seniorenbüro
zusammensitzen, verbindet nicht nur die Diagnose Depression, sondern auch
die Erfahrung des Alterns. Deshalb geht es heute neben Ängsten und Trauer
auch um Pflegestufen und Pflegekosten, Rollatoren, altersgerechte Ausflüge
und Hockergymnastik – und die Apotheke, die neulich im Leipziger Stadtteil
Stötteritz eröffnete, nachdem drei Apotheken nacheinander geschlossen
hatten.
Aber auch Themen, die nichts mit dem Alter zu tun haben, werden hier
besprochen. Hannelore berichtet von der Rolle Kunstrasen, die noch auf
ihrem Balkon verlegt werden will, Peter von seinem Handyvertrag, den er
kündigen möchte und Bernd von seinem Pflaumenkuchen-Erfolg. Das erste Mal,
dass er überhaupt was gebacken habe, erzählt er. Sonst habe das ja immer
seine Frau gemacht. „Warum hast du denn nichts mitgebracht?“, fragt
Hannelore. Die Runde lacht.
Zum Schluss ist der Gruppenleiter selbst dran. Seine Rückenschmerzen
machten ihm zu schaffen, erzählt Helmut Stein. Er merke, wie seine Kräfte
nachließen und auch seinen Tag zu strukturieren, falle ihm immer schwerer.
Wehmut klingt aus seinen Worten heraus. Doch er will weiter machen mit
seiner Gruppe, solange er kann. Sie sei schließlich nicht nur Hobby für
ihn, sondern Lebensinhalt. Mit ihr habe er nicht nur anderen Betroffenen
geholfen, sondern vor allem auch sich selbst.
Psychologin Alexandra Wuttke kritisiert nicht nur die diagnostischen
Fehlschlüsse bei Patient*innen im höheren Lebensalter, sondern auch,
dass bei ihnen viel zu häufig nur zu Psychopharmaka gegriffen werde,
anstatt auch mit einer Therapie zu behandeln. Zwar gelten die Leitlinien
zur Behandlung von Depressionen altersübergreifend und empfehlen je nach
Schweregrad Psychotherapie und/oder medikamentöse Therapie. Allerdings
liege der Anteil älterer Menschen in der Psychotherapie aktuell bei unter
drei Prozent, bei hochaltrigen beinahe bei null. Gleichzeitig würden immer
mehr Psychopharmaka verschrieben. „Das ist dramatisch“, sagt die Expertin.
Vor allem in Pflegeheimen würden oft nur Antidepressiva gegeben anstatt
Psychotherapeut*innen hinzuzuziehen.
Doch woran liegt das? Einerseits beobachtet Wuttke Vorbehalte unter
Behandelnden gegenüber älteren Patient*innen: „Viele denken, sie seien
nicht kompetent genug für das Thema oder sie spielen es herunter, nach dem
Motto, depressive Symptome sind ja normal im Alter.“ Andererseits sei das
Bewusstsein für die Themen psychische Gesundheit und Psychotherapie bei
Patient*innen aus der Nachkriegsgeneration mitunter wenig ausgeprägt.
Bei jüngeren Senior*innen hingegen sieht die Dozentin eine zunehmende
Offenheit.
## Psychotherapie hilft auch Ältern
Glücklicherweise, schließlich könne Psychotherapie älteren Menschen genauso
gut helfen wie jüngeren – anders als es Sigmund Freud behauptete. Der
Begründer der Psychoanalyse ging davon aus, dass Menschen mit zunehmendem
Alter geistig unbeweglich werden und eine Therapie aufgrund der vielen zu
verarbeitenden Lebenserfahrung zu zeitaufwändig ist.
Psychotherapie könne im Alter genauso ablaufen wie in jüngeren Jahren, sagt
Wuttke. Alles orientiere sich an den Bedürfnissen des*der Patient*in. Ist
jemand kognitiv eingeschränkt, könne sie als Therapeutin ihre Inhalte
vereinfachen. Ist jemand nicht mehr so mobil, könne sie über eine Therapie
zu Hause nachdenken. Der Fokus lasse sich auf die Zukunft richten, genauso
wie auf die Vergangenheit, durch Biografiearbeit oder konkrete
Interventionen im Hier und Jetzt. „Wir therapieren nicht das Alter“, betont
Wuttke, „sondern die Depression“.
Im Juli dieses Jahres ging dazu ein prominenter Fall durch die Medien.
Ex-Trigema-Chef Wolfgang Grupp hatte seine Depressionen und einen
Suizidversuch öffentlich gemacht. In einem [4][Brief an seine ehemaligen
Mitarbeitenden] schrieb der 84-Jährige, er habe sich zuletzt gefragt, ob er
überhaupt noch gebraucht werde.
Besonders hoch ist die Suizidgefahr laut Statistik in der Gruppe der
Über-80-Jährigen. Da das Statistische Bundesamt keine gesonderten Zahlen
für assistierte Selbsttötungen herausgibt, bleibt allerdings unklar, wie
hoch der Anteil dieser in den einzelnen Altersgruppen ist. Laut NASPRO sind
Suizide in Deutschland zunehmend ein Phänomen der Älteren.
In vielen Medienberichten war nach dem Suizidversuch des ehemaligen
Trigema-Chefs immer wieder von „Altersdepression“ die Rede. Ein Begriff,
mit dem Laura Pacios Prado ihre Probleme hat. „Er bedient das Stereotyp,
dass das Alter depressiv macht. Wir sagen ja auch nicht Jugenddepression“,
kritisiert die 36-Jährige, die in Frankfurt Menschen ab 65 zu Hause
psychologisch berät. Zwei bis drei Klient*innen besucht Pacios Prado am
Tag. Rund 100 haben sie und ihre Kollegin seit Beginn des Pilotprojekts,
das in der Krisen- und Lebensberatungsstelle des katholischen Sozialträgers
Haus der Volksarbeit initiiert wurde, betreut.
„Vor allem in den Städten gibt es viele Angebote für Senioren, aber
diejenigen, die das Haus nicht oder nur schwer verlassen können, sind oft
ausgeschlossen“, sagt Pacios Prado, die sich um eben solche Menschen
kümmert. 85 Prozent ihrer Klient*innen seien Frauen. Nicht weil es
Männern besser gehe, sondern weil Frauen sich eher Hilfe suchten. Viele
Gespräche drehten sich um Einsamkeit, den Verlust des Partners oder den
bevorstehenden Umzug ins Pflegeheim. „Viele erzählen mir, dass sie bei mir
zum ersten Mal diese Themen ansprechen können“, sagt Pacios Prado.
## Dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert
Nicht selten trennen sie und ihre Klient*innen ein halbes Jahrhundert.
Doch ältere Menschen hätten sie schon immer auf eine besondere Weise
berührt, erzählt die Psychotherapeutin. Und in ihr vor allem eine Neugier
geweckt: Was hat diese Personen erlebt, was hat sie geprägt? Um die
psychische Gesundheit von Rentner*innen zu schützen, wünscht sich Pacios
Prado mehr Wertschätzung und Respekt für deren Lebensleistung.
Etwas, was ihrer Erfahrung nach in ihrer zweiten Heimat Spanien stärker
praktiziert werde als in Deutschland. „In Spanien sind alte Menschen noch
eher in die Gesellschaft eingebunden und im Stadtbild präsent, und wenn es
nur bedeutet, dass sie sich auf die Bank vor dem Haus setzen, um sich mit
ihren Nachbarn zu treffen. Auch in der Familie spielen die Großeltern noch
eine größere Rolle.“
Um die Einsamkeit derer abzufangen, die nicht mehr eingebunden sind,
braucht es Pacios Prados Meinung nach mehr aufsuchende Beratungsangebote
wie ihres in Frankfurt – auch um zu intervenieren, bevor eine
Psychotherapie notwendig wird.
Für Hartmut Sonntag wäre dieses Angebot vielleicht genau das richtige
gewesen. Insbesondere in der Zeit, als er es kaum noch vor die Tür
schaffte. Acht Jahre sind seitdem vergangen, doch der 66-Jährige erinnert
sich noch, als wäre es gestern: Sonntag ist damals Dozent bei einem
Unternehmen, das Weiterbildungen für Erwachsene anbietet. Er leitet die
Leipziger Niederlassung. Die Arbeit bedeutet ihm viel, durch sie fühlt er
sich gebraucht. Doch die Firma muss schließen. Monatelang ist Sonntag damit
beschäftigt, das Geschäft in Leipzig abzuwickeln. Obwohl er schon lange
eine enorme Erschöpfung spürt, gibt er 100 Prozent, schiebt alle Gefühle
beiseite. So erzählt es der Rentner, als er an einem Vormittag im
Spätsommer auf seinem Balkon im Leipziger Osten sitzt, wo die roten
Geranien ihre letzten Blüten in diesem Jahr tragen.
Wie einen Schlag habe es ihn dann getroffen, als er am letzten Arbeitstag
seinen Firmenschlüssel abgeben musste. „Ich saß zu Hause auf dem Sofa und
habe nur noch geheult. Ich dachte, jetzt bin ich Ende 50 und stehe vor dem
Nichts“, erzählt Sonntag, während er immer wieder auf die Zettel schaut,
die neben seiner Kaffeetasse auf dem Balkontisch liegen. Am Computer hat er
sich zuvor Notizen fürs Interview gemacht, alles aufgeschrieben, was seit
der Depression passiert ist, die sein Leben heute in ein „Vorher und
Nachher“ teile.
Sonntag fällt damals in ein tiefes Loch. Eine Mischung aus Erschöpfung,
Angst und Gleichgültigkeit lähmt ihn. Seine Wohnung verlässt er nur, um
sich etwas zu Essen zu kaufen. „Nichts sehen, nichts hören“, wie er sagt.
Er verliert sich in einem Strom aus Grübeleien und Selbstvorwürfen.
Erst als seine Vermittlerin in der Agentur für Arbeit ihm dazu rät, geht
Hartmut Sonntag zu seinem Hausarzt. Die Diagnose: Depression. Ein Schock.
Depression? Er? „Ich dachte immer, wer depressiv ist, der bildet sich das
alles nur ein, der ist einfach nur zu faul und braucht ein bisschen Druck,
dann geht es schon wieder“, erinnert er sich. Doch bei ihm geht im Herbst
2017 gar nichts mehr. Selbst den Hörer in die Hand nehmen, um die Liste der
Psychotherapeut*innen abzutelefonieren, die ihm sein Hausarzt
mitgegeben hat: zu viel.
Mehrere Monate vergehen so. Dann schafft es Sonntag, sich Hilfe zu holen.
Er beginnt eine Gruppentherapie und wird Teil einer Theatergruppe, in der
Menschen mit Depressionen zusammenkommen. Das gibt ihm wieder Kraft.
## Älterwerden als Krankheitsverstärker
Doch für den Wiedereinstieg in den Beruf reicht sie nicht. Ein Zustand, den
er damals nur schwer aushält. Was auch daran liegt, wie er die Wende 1989
erlebt hat. Der Mauerfall bedeutete für Sonntag, zu der Zeit Berufssoldat,
zunächst vor allem Arbeitslosigkeit. Eine Erfahrung, die sich schmerzhaft
bei ihm einbrennt.
Ähnlich wie Margarete Nienaber, nimmt auch Hartmut Sonntag das Älterwerden
als Verstärker seiner Erkrankung wahr. „Man hat ja weniger Ablenkung durch
den Alltag und somit mehr Zeit zum Grübeln“, sagt er. Es habe Jahre
gedauert, bis er einen guten Umgang mit der Depression gefunden habe.
Inzwischen sei er in der Lage, die Warnsignale zu erkennen. Wenn er abends
im Bett liege und nicht einschlafen könne, weil er sich wieder in
Gedankenschleifen verliere, dann stehe er wieder auf. Dann wandere er durch
seine Wohnung, erledige Dinge im Haushalt, schaue Fernsehen, mache sich
eine heiße Milch mit Honig – oder eben Frühstück, „auch wenn es erst 3 U…
ist“.
Eine Lohnarbeit hatte Sonntag seit seiner Diagnose 2017 nicht mehr. Die
ersten Jahre bezog er Erwerbsminderungsrente, seit einem Jahr erhält er
Altersrente. Oft habe er sich seitdem schlecht gefühlt, „ich dachte immer,
ich lungere ja den ganzen Tag nur herum.“ Doch dann habe er an einer Studie
zu Depressionen im Alter teilgenommen, bei der er gebeten worden sei, über
ein paar Wochen alles zu notieren, was er den Tag lang macht, vom Gießen
der Geranien bis zum Gang zum Supermarkt. „Da habe ich auf einmal gemerkt,
ich mache ja doch etwas und zwar gar nicht so wenig“, erzählt Sonntag. „Das
hat meinem Selbstbild gut getan.“
Vor allem aber der Austausch mit anderen Betroffenen habe ihm geholfen.
„Die Depression verschwindet nicht, wenn man offen über sie spricht“ sagt
er, „aber man merkt, dass man mit der Erkrankung nicht allein ist“.
Seit seiner Diagnose hat Sonntag es sich zur Aufgabe gemacht, von
Depression Betroffenen eine Stimme zu geben. Deshalb hat er sich vor sieben
Jahren, wie Helmut Stein, dem Leipziger Bündnis gegen Depressionen
angeschlossen. Er gründete eine Selbsthilfegruppe, nahm an Ehrenamtstreffen
teil, klärte bei Veranstaltungen am Infostand des Bündnisses auf. Vor zwei
Wochen unterstützte er sogar einen Workshop in einer Schule, um für
Depressionen zu sensibilisieren, erzählt Sonntag, dessen Gesichtsausdruck
sich plötzlich erhellt. Die Arbeit mit den Jugendlichen habe ihm Spaß
gemacht, sagt er und hört sich dabei auch ein bisschen stolz an.
Arbeit, von der es noch viel mehr braucht, wenn es nach Alexandra Wuttke
von der Uni Konstanz geht. Denn um Menschen im Alter vor psychischen
Erkrankungen zu schützen, müsse viel mehr Aufklärung stattfinden,
bestenfalls schon in jungen Jahren. Darüber, wie sich psychische Störungen
im Alter bemerkbar machen können, wie Psychotherapie helfen kann und welche
präventive Wirkung soziale Kontakte und Bewegung haben können. Wuttke
fordert eine „Entstigmatisierung des Alters“. Das bedeute auch, den Fokus
anstatt auf die Defizite auf die Ressourcen zu legen, die das Alter mit
sich bringen könne: Lebenserfahrung, Weisheit, Gelassenheit.
Wenn das gelingt, ist sie sich sicher, ließen sich nicht nur Depressionen
verhindern. Das Alter würde auch nicht mehr so bedrohlich wirken. „Viele
denken bis heute, ab der Rente werde man automatisch gebrechlich und
einsam“, sagt die Professorin. „Aber das stimmt nicht.“
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche
und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste
psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter
112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter
[5][taz.de/suizidgedanken] im Internet.
25 Oct 2025
## LINKS
[1] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depress…
[2] https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf
[3] https://www.naspro.de/dl/Suizidzahlen2023.pdf
[4] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/grupp-brief-100.html
[5] /Hilfsangebote-bei-suizidalen-Gedanken/!6009869
## AUTOREN
Laura Catoni
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