# taz.de -- Menschliches Wohlbefinden: Natur auf Rezept | |
> Dass Zeit im Grünen sich positiv auf die Psyche auswirkt, ist | |
> wissenschaftlich belegt. Deshalb wird sie in manchen Ländern von | |
> Ärzt*innen verschrieben. | |
Bild: Man muss den Baum nicht gleich umarmen. Es reicht schon, durch den Wald z… | |
Montagmorgen in einer deutschen Hausarztpraxis: Das Wartezimmer ist voll, | |
hier und da ein Husten, die meisten Patient*innen wollen einfach nur | |
eine Krankschreibung. Einer von ihnen ist der 42-jährige Postbote Paul, dem | |
seine Arbeit gerade zu viel ist. Er fühlt sich ausgebrannt und hat | |
gleichzeitig Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, was seine angespannte | |
finanzielle Situation noch verschlimmern würde. Seine Hausärztin glaubt, | |
dass eine Krankschreibung Paul nicht viel helfen wird. Aber sie hat auch | |
keine andere Möglichkeit. Außerdem wartet schon der nächste Patient im | |
Nachbarzimmer. | |
Paul gibt es nicht wirklich. Das Szenario wurde von Hendrik Napierala, | |
Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin | |
der Charité, und seinen Kollegen in einem 2024 [1][veröffentlichten | |
Artikel] entworfen, um zu erklären, wie naturbasierte Verschreibungen das | |
deutsche Gesundheitssystem revolutionieren könnten. Das Prinzip dahinter | |
ist einfach: Menschen mit psychischen Beschwerden oder chronischen | |
Erkrankungen werden [2][gezielt soziale Aktivitäten in der Natur] | |
verschrieben. Das können zum Beispiel eine Wanderung, Kunst im Freien, | |
aktiver Naturschutz oder die Arbeit in einem Gemeinschaftsgarten sein. | |
In der Wissenschaft finden sich zahlreiche Belege für die heilsame Kraft | |
der Natur. So sinkt im Grünen messbar der Cortisolspiegel, einer der | |
verlässlichsten hormonellen Marker von Stress. Das parasympathische | |
Nervensystem wird aktiviert – das ist der Teil unseres Nervensystems, der | |
mit Ruhezuständen in Verbindung gebracht wird. Umgekehrt ist die Aktivität | |
in der Amygdala, dem Angstzentrum unseres Gehirns, nach einem rund | |
60-minütigen Spaziergang [3][deutlich reduziert]. | |
Studien [4][belegen außerdem], dass regelmäßige Naturaufenthalte | |
Schlafqualität, Konzentrationsfähigkeit und allgemeines Wohlbefinden | |
verbessern können. Besonders deutlich zeigen sich diese Effekte bei | |
Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. | |
In anderen Ländern sind Naturaufenthalte längst Teil von Prävention und | |
Therapie. In Japan gilt Shinrin-Yoku, zu Deutsch: Waldbaden, bereits seit | |
den 1980er-Jahren als anerkannte Methode zur Verbesserung der Gesundheit. | |
Japanische Kliniken bieten Waldbesuche sogar ergänzend zu Krebstherapien | |
an. | |
## Großbritannien ist europäischer Vorreiter | |
Auch in Europa wächst das therapeutische Interesse an der Natur. Doch | |
bislang fehlt es an Langzeitdaten. Ein Vorreiter ist Großbritannien. Dort | |
können Ärzt*innen oder andere Fachkräfte das sogenannte Green Social | |
Prescribing nutzen, um ihre Patient*innen an lokale Angebote in der | |
Natur zu vermitteln. Neben grünen gibt es auch „blaue Aktivitäten“ rund u… | |
Wasser, dazu zählen etwa Kanufahren oder Vogelbeobachtungen an Seen. | |
Die Fachkräfte, an die britische Ärzt*innen ihre Patient*innen | |
verweisen können, heißen Linkworker. In der deutschen Forschung werden sie | |
Brückenbauer genannt. Meist kommen sie aus den Sozial- oder | |
Gesundheitswissenschaften, manchmal sind es auch ehrenamtliche Freiwillige | |
aus der Nachbarschaft. Die Linkworker sollen sich genug Zeit nehmen, um die | |
individuellen Bedürfnisse der Patient*innen zu verstehen. Zeit, die es | |
in Arztpraxen oft nicht gibt. | |
Wie groß das gesundheitspolitische Potenzial ist, zeigt eine Studie aus | |
Großbritannien. Über einen Zeitraum von vier Jahren untersuchte sie seit | |
2021 die Wirkung von Green Social Prescribing auf die psychische | |
Gesundheit. 8.300 Menschen nahmen an dem Programm teil, mehr als die Hälfte | |
der Teilnehmer*innen kamen aus sozioökonomisch benachteiligten Regionen | |
Großbritanniens. Ihre Lebenszufriedenheit stieg im Durchschnitt von 4,7 auf | |
6,8 Punkte, gemessen auf einer Skala von 0 bis 10. Gleichzeitig sank das | |
Angstniveau deutlich. | |
Auch auf europäischer Ebene laufen Forschungsprojekte. Das Projekt Recetas | |
etwa, das mit fünf Millionen Euro aus EU-Mitteln gefördert wird, testet | |
derzeit in sechs Städten in Europa, Lateinamerika und Australien, wie sich | |
Naturaufenthalte auf soziale Kontakte, Einsamkeit und psychisches | |
Wohlbefinden auswirken. | |
„Solche Programme kommen vor allem Menschen zugute, die in irgendeiner Form | |
benachteiligt sind“, sagt Hendrik Napierala. Er meint damit körperlich oder | |
psychisch beeinträchtigte Menschen oder Leute, die in prekären Stadtteilen | |
wohnen und nicht genug Geld haben, um sich ein Auto oder einen Urlaub im | |
Grünen zu finanzieren. „Und das Paradoxe ist: Die, die am meisten davon | |
profitieren würden, haben den schlechtesten Zugang zu Grünflächen.“ | |
Auch sind Menschen mit geringerem Einkommen häufiger gesundheitlich | |
eingeschränkt und nehmen ärztliche Vorsorgeleistungen weniger in Anspruch, | |
[5][wie Studien zeigen]. Soziale oder naturbasierte Verschreibungen könnten | |
die Lebenszufriedenheit dieser Menschen steigern und sie aus der sozialen | |
Isolation holen. | |
Das wiederum könnte zu weniger Krankschreibungen, weniger Einnahmen von | |
Medikamenten und weniger stationären Aufenthalten führen. [6][Britischen | |
Daten] zufolge könnte mit Social Prescribing jährlich ein hoher | |
Millionenbetrag eingespart werden, da teuren Therapien präventiv vorgebeugt | |
werden könnten. | |
## In Deutschland noch nicht verbreitet | |
Dass Naturverschreibungen nicht so in die deutsche Regelversorgung | |
integriert sind wie Medikamente oder Psychotherapien, liegt vor allem an | |
den starren Strukturen des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems. Zum | |
einen werden medizinische und soziale Leistungen in unterschiedlichen | |
Sozialgesetzbüchern organisiert. Krankenkassen sind somit formal nicht für | |
soziale Probleme zuständig. Strenge Datenschutzgesetze und die ärztliche | |
Schweigepflicht erschweren zudem den Informationsaustausch zwischen Sozial- | |
und Gesundheitswesen. | |
Zum anderen werden wichtige gesundheitspolitische Entscheidungen nicht von | |
der Bundesregierung getroffen. Meist sind die Bundesländer und ihre | |
Gesundheitsämter verantwortlich, teils auch selbstverwaltete Gremien, in | |
denen Ärzt*innen, Krankenhäuser und Versicherungen jeweils ihre eigenen | |
Interessen vertreten. | |
Radikale Reformen bundesweit umzusetzen, ist daher schwierig. Das wurde | |
zuletzt durch das Projekt „Gesundheitskiosk“ des ehemaligen | |
Gesundheitsministers Karl Lauterbach deutlich. Die [7][flächendeckende | |
Einführung scheiterte] an Fragen der Zuständigkeit und Finanzierbarkeit. | |
Trotzdem gibt es in Deutschland Pilotprojekte, die sich mit der | |
medizinischen Wirkung von Natur beschäftigen. In Berlin und Brandenburg | |
untersucht ein Team um den Charité-Forscher Hendrik Napierala | |
beispielsweise, ob Aufenthalte in der Natur Stress so reduzieren können, | |
dass Betroffene wieder arbeitsfähig werden und seltener wegen psychischer | |
Ausnahmezustände ins Krankenhaus müssen. Erste Ergebnisse werden noch | |
erwartet. | |
## Es gibt bereits eine Kur- und Kneipptradition | |
Bereits abgeschlossen ist ein Projekt in Freiburg. Im Rahmen einer | |
Kooperation zwischen der Universität und der Stadt Freiburg hatten | |
Hausärzt*innen 2024 die Möglichkeit, ihren Patient*innen kostenlose | |
Baumpatenschaften zu verschreiben. Ziel war es, das Wohlbefinden der | |
Patient*innen zu fördern und gleichzeitig die städtische Biodiversität | |
zu stärken. | |
Doch weil es aDn ausreichendem Interesse und Unterstützung durch | |
Hausärzt*innen mangelte, wurde die Idee nach Projektende nicht | |
weiterverfolgt, sagt Projektleiterin Kelly Baldwin Heid, Geobotanikerin an | |
der Uni Freiburg. „Ich hoffe aber, das Projekt in Zukunft wieder | |
aufzunehmen. Das Thema hat in Deutschland enormes Potenzial.“ | |
„Wir müssen in der Medizin stärker präventiv denken“, sagt Hendrik | |
Napierala. „Gerade im Bereich psychischer Gesundheit könnte man vielen | |
Problemen vorbeugen.“ Deutschland habe mit Kuren, Kneipp-Anwendungen oder | |
Heilbädern eine Tradition, an die sich anknüpfen ließe. Immer mehr | |
Rehakliniken und psychosomatische Kliniken integrieren naturtherapeutische | |
Angebote in ihre Behandlungen. | |
Um Green Social Prescribing dauerhaft zu etablieren, müssten jedoch groß | |
angelegte randomisierte Studien die positiven Effekte auf die Gesundheit | |
belegen. Auf dieser Grundlage könnte der Gemeinsame Bundesausschuss neue | |
Leistungen definieren, die von den Krankenkassen übernommen werden. | |
31 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-52106-5 | |
[2] /Verschreibung-von-Naturaufenthalten/!5934399 | |
[3] https://www.mpg.de/19168412/0905-bild-how-does-nature-nurture-the-brain-149… | |
[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36864583/ | |
[5] https://www.oecd.org/en/topics/sub-issues/health-inequalities.html?utm_sour… | |
[6] https://www.wildlifetrusts.org/sites/default/files/2023-07/23JUN_Health_Rep… | |
[7] /Gesundheitsversorgung-in-armen-Gebieten/!6016840 | |
## AUTOREN | |
Katharina Federl | |
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