Introduction
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# taz.de -- Therapie bei TikTok: Heile dich selbst
> Auf Social Media boomt Psycho-Content. Warum ist das so – und welches
> Bild von psychischem Wohlbefinden entsteht dabei? Eine Spurensuche.
Bild: Hilfsangebote für die mentale Gesundheit gibt es im Internet zuhauf
Es ist später Nachmittag und ich sitze mit meiner Freundin Doro am Rhein.
Sie erzählt mir von ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin. „Letztens
musste ich meine Patientin erst mal fragen, was sie mit ‚Maladaptive
Daydreaming‘ meint“, sagt sie und lacht. So etwas höre ich in letzter Zeit
öfter. Denn neben Doro sind noch weitere Therapeut*innen in meinem
Freundeskreis. Und auch sie erzählen mir, dass sie es seit einiger Zeit
vermehrt mit Patient*innen zu tun haben, die schon im Erstgespräch über
mindestens genauso viel Fachwissen verfügen wie sie selbst.
Kein Wunder, denn im Alltag vieler Menschen wimmelt es heute nur so von
psychologischen Themen, besonders auf Social Media. Menschen verschiedener
Altersgruppen, oft cis-weiblich, weiß, gebildet und irgendwie gutaussehend,
teilen bei Instagram, Youtube oder Tiktok Strategien gegen People-Pleasing
und Anxiety oder berichten von Lebenskrisen.
Auch ich habe mal Psychologie studiert, mich dann aber für die
Sozialphilosophie entschieden. In meiner Rolle als Wissenschaftlerin frage
ich mich, warum gerade eigentlich immer mehr Menschen zu
Psycho-Expert*innen werden? Welches Bild zeichnet Social Media von
psychischem Wohlbefinden? Und was sagt all das über unser soziales
Miteinander aus?
Meine Erkundungen beginne ich dort, wo ich mich berufsbedingt am besten
auskenne: bei den soziologischen Analysen von Eva Illouz. Seit vielen
Jahren schon forscht Illouz zu Gefühlen im Kapitalismus und fragt danach,
wie psychologisches Wissen unsere Lebenswirklichkeit verändert und in
unserem Alltag Macht auf uns ausübt. Denn auch wenn es aus heutiger Sicht
nur schwer vorstellbar ist: Menschen interessieren sich noch gar nicht so
lange für inneres Wachstum.
[1][Entscheidend dafür war laut Illouz die Abkehr von Disziplin und
Gehorsam hin zu Selbstverwirklichung und Soft Skills in der Arbeitswelt].
Sie vollzog sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Erfindung der
Personalabteilungen, heute Human Resources. Seitdem arbeiten in fast jedem
Unternehmen Psycholog*innen, deren Aufgabe es ist, die individuelle
Einstellung von Angestellten zu testen, ihre Kommunikation zu verbessern
und die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern.
Der Zweck des Ganzen: Arbeiter*innen sollen ihre Arbeit möglichst super
und wichtig finden. Einerseits, weil sie dadurch produktiver werden. Aber
auch, damit sie sich nicht politisch gegen zu lange Arbeitszeiten oder eine
ungerechte Entlohnung organisieren.
Aus diesem neuen Verständnis von Arbeit hat sich laut Illouz eine
universelle Lebensphilosophie entwickelt: Nur wer auf seine emotionale
Gesundheit achtet und sich selbst verwirklicht, kann erfolgreich seine
Interessen durchsetzen, so die allgemeine Annahme. Dies erklärt auch, warum
sich heute so viele Menschen so viel Stress mit ihrer Work-Life-Balance
machen. Ihren Schlaf tracken, ihre Anxiety managen oder bewusst auf Reize
verzichten, um ihr Belohnungssystem zu regulieren. Ganz ohne Zwang von
außen – wachsen will schließlich jede*r.
Dabei wird gerne vergessen, dass der Mensch im Kapitalismus stets auch
Kapital ist – „Humankapital“. Und als solches stehen wir im ständigen
Wettbewerb miteinander – sei es um Arbeit, Wohnraum, Liebe oder eine gute
Ausbildung. Um nicht unterzugehen, müssen wir permanent in unsere
Fähigkeiten und Beziehung investieren. Das psychologische
Selbstverwirklichungsmantra verkauft uns diesen Dauerstress als Selfcare.
Folgt man Illouz Argumentation, ist Psychologie in neoliberalen
Gesellschaften damit immer ein Machtinstrument. Sie bringt Menschen dazu,
produktiver und anpassungsfähiger sein zu wollen.
## Die psychologische Brille, eine von vielen
Dass viele Menschen die Welt heute eher durch eine psychologische Brille
sehen als durch eine religiöse oder politische, ist sozial gewachsen. Zumal
Psycholog*innen besonders gut darin sind, alle Probleme in der Welt als
„psychologische Probleme“ zu formulieren: Hat mein hibbeliges Gegenüber
ADHS? Erfüllt mich meine Arbeit? Und verhält sich Donald Trump so, weil er
ein Narzisst ist?
Indem plötzlich jeder denkbare Missstand psychologisiert wird, erschafft
sich das Fachgebiet seine eigene Nachfrage. Dies kann aber dazu führen,
dass strukturelle Ursachen vernachlässigt werden. So argumentiert etwa die
österreichische Soziologin Laura Wiesböck, deren neuestes Buch
[2][„Digitale Diagnosen“] sich mit den Schattenseiten der gegenwärtigen
Psycho-Diskurse in der Onlinewelt beschäftigt.
Wiesböck ist der Auffassung: Wenn immer mehr Jugendliche die schulischen
Anforderungen nicht mehr erfüllen können, sollte man lieber über die
Lehrmethoden und Bewertungsmaßstäbe sprechen als über die Psyche von
Jugendlichen. Stattdessen werde aber immer öfter das Verhalten von
Jugendlichen als individuelles Problem abgetan und mithilfe von
Fachbegriffen wie „Aufmerksamkeitsstörung“ oder „mangelnde Impulskontrol…
pathologisiert. Wiesböck will damit nicht sagen, dass ADHS im Jugendalter
eine Fehldiagnose ist, oder dass Kindern dadurch Gewalt angetan wird – auch
wenn das sicher vorkommt.
Die Soziologin betont in ihrem Buch sogar, dass sie findet, dass Diagnosen
das Erleben und Verhalten von Menschen treffend beschreiben und ihnen
Zugang zu Hilfeleistungen verschaffen können. Ihr Anwachsen zeige aber eben
auch, dass wir lieber am Individuum herumschrauben, statt unsere sozialen
und materiellen Lebensbedingungen zu hinterfragen.
Die kritischen Sichtweisen von Illouz und Wiesböck stellen mich vor die
Frage, ob jede Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben automatisch
bedeutet, dass wir uns depolitisieren und neoliberalen Idealen unterwerfen.
Kann die Beschäftigung mit der eigenen Psyche nicht auch hilfreich und
befreiend sein?
## Drei Dinge gegen Narzissmus
Bei meiner Suche nach einer Antwort tauche ich zuerst in den Kosmos der
kommerziellen Ratgeber-Accounts bei Instagram ein. Zwischen all den
Influencer*innen, die hier ihr Wissen und ihre Strategien zur Verbesserung
des Seelenlebens zur Verfügung stellen, fällt mir eine Frau besonders auf.
[3][Sie heißt mit richtigem Namen Eli Harwood, nennt sich „attachmentnerd“
und hat mit ihren 738.000 Follower*innen eine ziemlich große
Reichweite.]
Harwood selbst beschreibt sich als „Therapeutin“, „Mama“ und
„Bestseller-Autorin“. Ihr Account kreist um das Thema „Erziehung“ mit d…
Fokus auf einer sicheren Eltern-Kind-Bindung.Und für die ist laut Harwood
die Arbeit an den eigenen Bindungserfahrungen, die Emotionsregulation und
eine harmonische Partnerschaft nötig. Denn: „Your kids feel what you don’t
heal“ – deine Kinder fühlen, was du nicht heilst, sagt sie. Dazu liefert
sie psychologische Erklärungen und Erziehungsstrategien, die allesamt
vermitteln: Elternschaft ist handelbar, wenn man sich nur genug anstrengt.
Schon die Ästhetik des Coaching-Accounts erweckt den Eindruck von sanfter
Kontrolle. Harwood ist eine normschöne, weiße Frau um die vierzig, die
modisch-legere Outfits und gelegentlich knallige Ohrringe trägt. Parallel
zu ihren psychologischen Alltagstipps führt sie oft häusliche Tätigkeiten
aus. Mal richtet sie beim Nachdenken über eine gesunde
Eltern-Kind-Beziehung einen Obstsalat an, mal sitzt sie am Steuer ihres
Familienautos.
Ihr Auftreten legt nahe: Ich habe mein Leben im Griff, hier hinter meiner
polierten Kücheninsel wachsen wohltemperierte, gesunde und geliebte Kinder
heran. Entsprechend rezeptförmig sind auch viele ihrer Beiträge: „Drei
Dinge, auf die ich achte, damit meine Kinder keine narzisstischen Tendenzen
ausbilden“ usw. Dadurch erweckt die Influencerin den Eindruck, dass mit ein
bisschen Anstrengung nahezu jeder Familienkonflikt unschädlich gemacht
werden kann, wenn man ihre Tipps beherzigt.
Die These von Eva Illouz scheint sich hier zu bestätigen. Die Inhalte und
ihre ästhetische Darstellung auf Social Media verlagern die Verantwortung
für die Kindererziehung ganz ins Innere der Eltern. Mehr noch: Sie erklären
Elternschaft zu einem Projekt, für das man sich durch die permanente Arbeit
am Selbst qualifizieren muss – dafür kann man auf dem Account von Harwood
übrigens diverse Arbeitsmaterialien erwerben.
Dies wirkt nicht nur depolitisierend, weil es die strukturellen
Erschwernisse von Elternschaft verdeckt. Die Kehrseite von Verheißungen wie
„Mit diesem einfachen Ritual erneuerst du deine Paarbeziehung von Grund
auf“ ist, dass sie dem einzelnen Menschen die Schuld für alles aufladen,
was schiefgeht. Wenn die Arbeit am eigenen Selbst das Rezept für intakte
familiäre Beziehungen und gemäßigte kindliche Gemüter ist, dann sind im
Umkehrschluss Vertrauensbrüche und Ausraster ein Zeichen dafür, dass die
Eltern zu wenig an sich arbeiten.
Diese Schuldlast entlädt sich mit Vorliebe auf Mütter, die nicht grundlos
die bevorzugte Zielgruppe von Influencerin Eli Harwood sind. Insbesondere
Mütter aus akademischen Milieus, die laut der Soziologin Laura Wiesböck
unter dem hohen moralischen Druck stehen, ein erfülltes Berufsleben mit
liebevollen familiären Beziehungen und körperlicher Attraktivität zu
kombinieren. Andere Milieus fallen ohnehin von vornherein heraus aus der
Selbstarbeit, etwa weil Menschen ihre ganze Kraft in die anstrengende, oft
unterbezahlte Lohnarbeit stecken müssen.
Das Kontrollversprechen von Harwood scheint mir aber auch noch eine andere
Schattenseite zu haben. Es kühlt die Emotionen von Menschen herunter und
vereindeutigt komplexe Zustände. So benennt die Influencerin zum Beispiel
Wut, Besitzansprüche und Ängste lächelnd zu „growth areas“, sprich
Wachstumsgebieten um. Zu „produktiven“ Gefühlen wie Trauer ermutigt sie
ihre Follower*innen, von Verzweiflung rät sie eher ab: zu chaotisch. Damit
vermittelt sie, dass Beziehungen immer harmonisch, eindeutig und jederzeit
steuerbar sein sollten.
Das ist natürlich falsch. In Nahbeziehungen, noch dazu in familiären, sind
wir voneinander abhängig. Das kann schmerzhaft sein, weil wir das Fühlen
und Handeln unserer Bezugspersonen nicht vollständig kontrollieren können.
Wie hilflos und verletzlich uns das machen kann, blenden Instagram-Coaches
wie Harwood aus. Heftige, widerstreitende Gefühle und innere Abgründe
lächeln sie weg mit dem neoliberalen Versprechen, dass stabile Beziehungen
eine Frage der Entscheidung sind und durch Wissen erlernt werden können.
Psychoanalytiker*innen nennen das Rationalisierung. Was hinter dem
Rationalisieren und Vereindeutigen steckt, [4][kann man bei dem Soziologen
und Psychoanalytiker Alain Ehrenberg nachlesen.] Er untersucht schon seit
den 1990er Jahren, wie in unserer Gesellschaft über die Psyche gesprochen
wird.
Laut Ehrenberg dominiert heute vielerorts ein „Reparaturmodell“. Symptome
sind demnach Defizite, die man wegtrainieren sollte, um im Alltag möglichst
reibungslos zu funktionieren. Dabei wird die Auseinandersetzung mit den
psychischen Konflikten vernachlässigt, die hinter diesen Symptomen stecken.
Genau die braucht es aus Ehrenbergs Sicht aber, wenn wir uns selbst und
anderen nicht mit Disziplin und Kontrolle, sondern mit Verständnis begegnen
wollen.
Um sich von nagenden Selbstzweifeln oder unsicheren Beziehungserfahrungen
zu befreien, sei es wichtig, deren Ursachen nachzuspüren. Die können in der
Vergangenheit der einzelnen Person liegen, aber auch in gesellschaftlichen
Umständen. Ehrenberg glaubt zum Beispiel, dass Depressionen heute oft eine
Erschöpfungsreaktion darauf sind, dass Menschen immerzu wachsen und die
Initiative für das eigene Leben ergreifen sollen.
Bei der Suche nach Ursachen geht es aus psychoanalytischer Sicht nicht nur
um Selbsterkenntnis, sondern auch darum, dass wir uns mit unseren eigenen
Grenzen versöhnen. Dafür müssen wir uns eingestehen, dass wir im
Zusammenleben mit anderen manchmal Verluste und Verletzungen erfahren,
denen kein noch so gewiefter Psychoratgeber restlos vorbeugen oder sie
auffangen kann.
Ich finde, dass dieses Eingeständnis nicht nur von dem Druck befreit, immer
alles im Griff haben zu müssen. Es kann auch solidarisierend wirken. Denn
wenn die Erfahrung, abhängig und verletzbar zu sein, zum menschlichen
Zusammenleben dazugehört, dann verbindet uns das untereinander. Und kann
uns dazu motivieren, uns für den Schutz anderer einzusetzen. Könnte Social
Media nicht auch dafür einen Raum bieten?
## Alternative Angebote zum Kommerz
Ich mache mich auf die Suche nach digitalen Hilfeleistungen, die über die
Selbstverbesserung hinausgehen und werde beim Bundesverband der Angehörigen
psychisch erkrankter Menschen [5][(BApK)] fündig. Ich verabrede mich mit
einer der Social-Media-Beauftragten des Verbandes am Telefon. Julia Paar
erzählt mir, das der BApK eine Plattform für all jene sein soll, die einen
psychisch erkrankten Menschen versorgen und intensiv mit dem Leid ihrer
Eltern, Geschwister und Freund*innen konfrontiert sind. All das führe oft
auch zu eigenem psychischem Leid, so die Beauftragte. Und darüber werde
noch viel zu wenig gesprochen.
Während ich Paar zuhöre, wird mir klar, dass der Social-Media-Auftritt des
BApK sich grundlegend von dem Auftritt unterscheidet, der mir bei Eli
Harwood alias „attachmentnerd“ begegnet ist. Das liegt vor allem daran,
dass der Verband kein kommerzieller Akteur ist, sondern eine
zivilgesellschaftliche Organisation. Es geht also nicht um eine möglichst
konsumierbare, gewinnorientierte Performance, sondern um die Vermittlung
von Inhalten. [6][Die Kacheln wirken vielleicht etwas weniger hipp, dafür
sachlicher.]
„Beim BApK steht die strukturelle Verbesserung der Situation von
Betroffenen im Vordergrund und nicht die individuelle Arbeit am Selbst“,
betont Julia Paar. Entsprechend vermittelt der Verband auf Social Media
niederschwellige Hilfsangebote wie das Beratungstelefon und vernetzt
Betroffene in Selbsthilfegruppen oder Workshops. Außerdem klärt er über
psychische Krankheitsbilder auf, zum Beispiel mithilfe persönlicher
Erfahrungsberichte auf Youtube.
Die Betroffenenperspektive sichtbar zu machen, ist Paar zufolge sehr
wichtig, denn Menschen könnten nur dann um Unterstützung bitten, wenn sie
Worte für ihre Situation haben und sich dazu ermutigt fühlen, mit anderen
Menschen darüber zu sprechen.
Paar steht der Präsenz von psychischen Erkrankungen auf Social Media
deshalb eher positiv gegenüber. Sie mache es für ihren Verband leichter,
mit seiner Arbeit durchzudringen. Dennoch beobachtet sie, dass der
gesellschaftliche Umgang mit psychischem Leid je nach Diagnose immer noch
stark variiert. So hätten die Ressentiments gegenüber depressiven Episoden
oder Angsterkrankungen zwar abgenommen. Schizophrenie oder
Suchterkrankungen, die vielen Menschen unvertraut oder sogar unheimlich
sind, würden aber weiterhin zu wenig thematisiert, sodass die Betroffenen
nach wie vor unter Ausgrenzung und Vorurteilen litten.
Was Social Media angeht, könnte das natürlich auch daran liegen, dass eine
akute wahnhafte Phase oder ein Rückfall in den Alkoholrausch sich schlecht
in konsumierbare, ästhetische Häppchen verpacken lassen. Bilder von
extremem Kontrollverlust zu sehen, kann Ekel oder tiefes Befremden
auslösen und taugt daher wenig zur digitalen Vermarktung.
Ich muss außerdem an parlamentarische Debatten denken, in denen
Politiker*innen die staatliche Registrierung von psychisch erkrankten
Menschen fordern – vermeintlich zur Gefahrenprävention. Oder die Kürzung
von Bürgergeld für sogenannte erwerbsfähige Personen, die aber oft durch
schwere psychische Erkrankungen eingeschränkt sind. Menschen scheinen vor
allem dann weiterhin für ihr psychisches Leid stigmatisiert zu werden, wenn
sie auf Dauer weniger leistungsfähig oder besonders unkontrollierbar
erscheinen.
## Genesung zum Anschauen
Eine Art, mit Stigmatisierung umzugehen, begegnet mir auf den sogenannten
„Recovery Accounts“, sprich Genesungs-Accounts. Bei [7][„lindaslife“] e…
können Nutzer*innen unter dem Stichwort #DepressionRecovery eine junge
Frau durch ihren „Alltag mit Depressionen“ begleiten. Laut Linda, die ihren
Nachnamen nicht angegeben hat, soll der Account einen Raum bieten, „wo du
dich gesehen & verstanden fühlst“. Denn für andere sei es oft „nicht
nachvollziehbar und unverständlich, was wir durchmachen“, sagt die
Influencerin. Viele Kommentare drücken Bestärkung für ihre Posts aus, durch
Herz-Emojis oder Komplimente zu ihrem Aussehen.
Recovery Accounts gibt es unzählige auf Instagram, und zu fast jeder
Diagnose. [8][Die psychologische Sozialforscherin Julia Degenhardt]
schreibt deshalb ihre Doktorarbeit darüber. Aus ihrer Sicht zeigt deren
enorme Verbreitung, dass sich Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend
selbst um ihre Gesundheit kümmern müssen. Weil Optimierungsdiskurse sie
dazu drängen. Aber auch, weil es zu wenige Therapieplätze gibt.
Gleichzeitig suchen Nutzer*innen über die Accounts nach Verständnis,
Zugehörigkeit und Fürsorge, so die Wissenschaftlerin.
Ich frage mich dennoch, warum Menschen sich lieber in einem anonymen,
körperlosen und weitgehend rechtsfreien Raum über ihre Leidenserfahrungen
austauschen als in ihrem sozialen Umfeld oder einer professionellen
Einrichtung. Dafür scheint es unterschiedliche Erklärungen zu geben. Zum
einen weisen Linda und Co darauf hin, wie schwierig es ist, Verständnis
oder Fürsorge von Mitmenschen zu erfahren, wenn man sich dauerhaft mit
Alltagstätigkeiten schwertut, niedergeschlagen ist oder Schmerzen hat.
Außerdem finden Betroffene digitale Begegnungen oft kontrollierbarer, sagen
sie.
Auf der praktischen Ebene leuchtet mir das ein: Linda kann den
Nutzer*innen sorgsam inszenierte Ausschnitte aus ihrem Alltag zeigen,
unliebsame Kommentare löschen oder ihren Account für privat erklären. Für
Julia Degenhardt sind das Strategien, um sich nicht nur den Reaktionen
anderer Menschen, sondern auch dem eigenen Leiden weniger ausgeliefert zu
fühlen. Aus ihrer Sicht ist das jedoch nicht immer hilfreich, denn es
bedeute auch, Gefühle von Verletzlichkeit und Ohnmacht zu verdrängen.
Ähnlich wie der Soziologe und Psychoanalytiker Alain Ehrenberg findet
Degenhardt die Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen und mit deren Gründen
für die Heilung wichtig.
Aber wie sollen Menschen ihre Hilflosigkeit zulassen und zu ihren Grenzen
stehen, wenn sie doch immerzu wachsen und selbstwirksam sein müssen, frage
ich mich.
Dass Betroffene den digitalen Raum als kontrollierbar empfinden, kommt mir
trotzdem schräg vor: Denn die Spielregeln der Recovery Communities werden
von gewinnorientierten Tech-Konzernen geschrieben. Die interessiert an dem
psychischen Leiden der Nutzer*innen nur der Marktwert. Somit ist nicht
nur der Umgang mit ihren Daten alles andere als kontrollierbar. Bei der
Vermarktung der eigenen Psyche wird außerdem unterschwellig Einfluss auf
Nutzer*innen ausgeübt.
## Werbung und Psycho-Merch
Laura Wiesböck beschreibt in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“, wie das
Anliegen der Entstigmatisierung schon seit Jahren von ökonomischen
Interessen unterwandert wird: Fröhlich ermutigen Pharmaunternehmen die
Nutzer*innen von Tiktok zur Einnahme von Medikamenten wie Ritalin oder
Vyvanse – wofür man zuerst eine ADHS-Diagnose benötigt.
Influencer*innen bewerben in bezahlter Zusammenarbeit zweifelhafte
Onlinetherapieformate. Und ein explodierender Markt an Produkten, die man
zynisch als „Psycho-Merch“ bezeichnen könnte, vertreibt unter dem Stichwort
„Own your stigma“ T-Shirts und Schmuck mit Diagnoseslogans.
Kann es trotzdem heilsam sein, Verständnis und Unterstützung in einem
Kosmos zu suchen, der so klar von Konsumprinzipien getrieben ist? Ja, das
kann es, wird mir klar, als ich mich auf eine Limo mit Hannuh Frings
treffe. Frings ist Psychologiestudent*in und hat sich vor fünf Jahren
nach einer intensiven Recherche über Reddit selbst Autismus diagnostiziert.
Schon immer sei da die Gewissheit gewesen, irgendwie anders zu sein. In
Kliniken und Psychotherapien habe Frings aber keine hilfreichen Erklärungen
bekommen, sondern sich eher pathologisiert gefühlt, wenn
Therapeut*innen von Persönlichkeitsstörungen und „emotionalen
Widerständen“ sprachen.
Als in einer Netflix-Serie plötzlich das Schlagwort „Autismus“ gefallen
sei, habe Frings begonnen, sich über Erfahrungsberichte und
wissenschaftliche Forschung eigenständig darüber zu informieren – mit
lebensverändernder Wirkung: „Ich glaube, dass man das einfach nicht
verstehen kann, wenn man es nicht selber erlebt hat. Das ist einfach ein
Moment, wo du merkst, dass alles mehr Sinn ergibt als vorher, alles besser
funktioniert als vorher. Es erklärt deine Probleme und es erklärt auch
deine Talente – es erklärt einfach alles.“
Das grundlegende Gefühl, nicht reinzupassen, beschäftige viele
Autist*innen, sagt Frings: „Das ist keine Metapher, wir fühlen uns wie
Aliens. Punkt.“ Frings berichtet von dem Druck, starre und eindeutige
Diagnosekriterien erfüllen zu müssen, um Unterstützung im Alltag zu
bekommen, auch wenn sie das eigene Erleben gar nicht abbilden. Und von
selbst geschriebenen Erinnerungslisten für den Umgang mit „Neurotypischen“
wie mir, die oft pikiert reagierten, wenn Frings nicht über ihre Witze
lacht oder sich nicht bedankt.
Hinter solchen Vorkehrungen – Autist*innen sprechen von „Masking“ –
liegt die einschneidende Erfahrung, dass man die Welt und andere Menschen
grundlegend anders wahrnimmt und dafür abgewertet und pathologisiert wird.
Bei vielen Betroffenen erzeugt das nicht nur Einsamkeit, sondern auch Wut.
Sie kritisieren, dass man in unserer Gesellschaft nur dann jemand ist, wenn
man sozial geschmeidig agiert, sich schnell anpassen kann und ein positives
Mindset hat.
## Endlich nicht mehr allein
Weil die Autismusdiagnose institutionell nie bestätigt wurde, bekommt
Frings immer noch keine professionelle Unterstützung im Alltag. Dafür
greift Frings auf die Stadtteilgewerkschaft Kalk Solidarisch zurück, eine
zivilgesellschaftliche Gruppe, die auch ohne Diagnose bei
Sozialhilfeanträgen oder Unieinschreibungen hilft. Was sich aber
grundlegend verändert hat: Frings fühlt sich nicht mehr einsam. Und zwar
dank einer digitalen Selbsthilfegruppe für FLINTA*-Autist*innen, deren
Mitglieder sich einmal pro Woche per Zoom treffen, um sich über ihr Erleben
auszutauschen.
Frings Erfahrung nach ist es schwierig, solche Gruppen im analogen Raum zu
finden, vor allem, wenn man wegen Reizüberflutung oft zu Hause bleiben
muss. Bei einem digitalen Treffen könne man sich außerdem leichter mal
rausziehen, zum Beispiel indem man die Kamera ausschaltet. Ein besonderer
Pluspunkt an der digitalen Selbsthilfegruppe ist für Frings ihre
internationale Zusammensetzung, weil sie den Austausch vielfältiger macht.
Frings betont immer wieder, wie wichtig es für Autist*innen sei, Worte
für das eigene Anderssein zu haben, um dem Empfinden eine Realität zu
verleihen und sich untereinander zu solidarisieren. Für Frings ist Autismus
deshalb eine ermächtigende Selbstbezeichnung, keine Pathologisierung.
Auch in anderen Social-Media-Communitys haben Diagnosen eine enorm wichtige
Bedeutung. Oft lese ich Sätze wie: Eine Depression „ist keine Phase, die
von selbst wieder vergeht. Sie bleibt! Sie tut weh, sie verändert mich,
mein Denken, mein Handeln! Sie ist immer da!“ Anscheinend können Diagnosen
also auch eine Art von Widerstand bedeuten – gegen Schuldzuweisungen oder
unangenehme Rollenzuschreibungen.
Eine Depressionsdiagnose ermöglicht es zu sagen: Ich bin halt so, lasst
mich endlich mit euren Ansprüchen in Ruhe. Ich finde das verständlich, denn
man muss sich ja tatsächlich oft dafür rechtfertigen, wenn die persönliche
Wachstumskurve stagniert oder man auf die Fürsorge anderer angewiesen ist.
Mir bereitet es aber auch Unbehagen, wenn Langsamkeit, Trübsal oder Trotz
immer öfter mit psychologischen Diagnosen erklärt werden. Denn es spricht
dafür, dass in unserer Gesellschaft die Unterschiedlichkeit und die
Verletzlichkeit von Menschen schnell als behandlungswürdig wahrgenommen
werden.
Kein Wunder, denn im Neoliberalismus stören Abweichungen die Produktivität,
das Bedürfnis nach Zuwendung gilt als Schwäche. Letzteres ist nicht nur
ungerecht, sondern auch falsch, denn niemand handelt ganz aus sich selbst
heraus. Wir alle sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, abhängig von
anderen Menschen und Umständen. Ich finde, das sollten wir stärker
anerkennen, statt es in die individuelle Psyche auszulagern.
7 Oct 2025
## LINKS
[1] https://www.suhrkamp.de/buch/eva-illouz-die-errettung-der-modernen-seele-t-…
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## AUTOREN
Fanny Mertens
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