| # taz.de -- Therapie bei TikTok: Heile dich selbst | |
| > Auf Social Media boomt Psycho-Content. Warum ist das so – und welches | |
| > Bild von psychischem Wohlbefinden entsteht dabei? Eine Spurensuche. | |
| Bild: Hilfsangebote für die mentale Gesundheit gibt es im Internet zuhauf | |
| Es ist später Nachmittag und ich sitze mit meiner Freundin Doro am Rhein. | |
| Sie erzählt mir von ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin. „Letztens | |
| musste ich meine Patientin erst mal fragen, was sie mit ‚Maladaptive | |
| Daydreaming‘ meint“, sagt sie und lacht. So etwas höre ich in letzter Zeit | |
| öfter. Denn neben Doro sind noch weitere Therapeut*innen in meinem | |
| Freundeskreis. Und auch sie erzählen mir, dass sie es seit einiger Zeit | |
| vermehrt mit Patient*innen zu tun haben, die schon im Erstgespräch über | |
| mindestens genauso viel Fachwissen verfügen wie sie selbst. | |
| Kein Wunder, denn im Alltag vieler Menschen wimmelt es heute nur so von | |
| psychologischen Themen, besonders auf Social Media. Menschen verschiedener | |
| Altersgruppen, oft cis-weiblich, weiß, gebildet und irgendwie gutaussehend, | |
| teilen bei Instagram, Youtube oder Tiktok Strategien gegen People-Pleasing | |
| und Anxiety oder berichten von Lebenskrisen. | |
| Auch ich habe mal Psychologie studiert, mich dann aber für die | |
| Sozialphilosophie entschieden. In meiner Rolle als Wissenschaftlerin frage | |
| ich mich, warum gerade eigentlich immer mehr Menschen zu | |
| Psycho-Expert*innen werden? Welches Bild zeichnet Social Media von | |
| psychischem Wohlbefinden? Und was sagt all das über unser soziales | |
| Miteinander aus? | |
| Meine Erkundungen beginne ich dort, wo ich mich berufsbedingt am besten | |
| auskenne: bei den soziologischen Analysen von Eva Illouz. Seit vielen | |
| Jahren schon forscht Illouz zu Gefühlen im Kapitalismus und fragt danach, | |
| wie psychologisches Wissen unsere Lebenswirklichkeit verändert und in | |
| unserem Alltag Macht auf uns ausübt. Denn auch wenn es aus heutiger Sicht | |
| nur schwer vorstellbar ist: Menschen interessieren sich noch gar nicht so | |
| lange für inneres Wachstum. | |
| [1][Entscheidend dafür war laut Illouz die Abkehr von Disziplin und | |
| Gehorsam hin zu Selbstverwirklichung und Soft Skills in der Arbeitswelt]. | |
| Sie vollzog sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Erfindung der | |
| Personalabteilungen, heute Human Resources. Seitdem arbeiten in fast jedem | |
| Unternehmen Psycholog*innen, deren Aufgabe es ist, die individuelle | |
| Einstellung von Angestellten zu testen, ihre Kommunikation zu verbessern | |
| und die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. | |
| Der Zweck des Ganzen: Arbeiter*innen sollen ihre Arbeit möglichst super | |
| und wichtig finden. Einerseits, weil sie dadurch produktiver werden. Aber | |
| auch, damit sie sich nicht politisch gegen zu lange Arbeitszeiten oder eine | |
| ungerechte Entlohnung organisieren. | |
| Aus diesem neuen Verständnis von Arbeit hat sich laut Illouz eine | |
| universelle Lebensphilosophie entwickelt: Nur wer auf seine emotionale | |
| Gesundheit achtet und sich selbst verwirklicht, kann erfolgreich seine | |
| Interessen durchsetzen, so die allgemeine Annahme. Dies erklärt auch, warum | |
| sich heute so viele Menschen so viel Stress mit ihrer Work-Life-Balance | |
| machen. Ihren Schlaf tracken, ihre Anxiety managen oder bewusst auf Reize | |
| verzichten, um ihr Belohnungssystem zu regulieren. Ganz ohne Zwang von | |
| außen – wachsen will schließlich jede*r. | |
| Dabei wird gerne vergessen, dass der Mensch im Kapitalismus stets auch | |
| Kapital ist – „Humankapital“. Und als solches stehen wir im ständigen | |
| Wettbewerb miteinander – sei es um Arbeit, Wohnraum, Liebe oder eine gute | |
| Ausbildung. Um nicht unterzugehen, müssen wir permanent in unsere | |
| Fähigkeiten und Beziehung investieren. Das psychologische | |
| Selbstverwirklichungsmantra verkauft uns diesen Dauerstress als Selfcare. | |
| Folgt man Illouz Argumentation, ist Psychologie in neoliberalen | |
| Gesellschaften damit immer ein Machtinstrument. Sie bringt Menschen dazu, | |
| produktiver und anpassungsfähiger sein zu wollen. | |
| ## Die psychologische Brille, eine von vielen | |
| Dass viele Menschen die Welt heute eher durch eine psychologische Brille | |
| sehen als durch eine religiöse oder politische, ist sozial gewachsen. Zumal | |
| Psycholog*innen besonders gut darin sind, alle Probleme in der Welt als | |
| „psychologische Probleme“ zu formulieren: Hat mein hibbeliges Gegenüber | |
| ADHS? Erfüllt mich meine Arbeit? Und verhält sich Donald Trump so, weil er | |
| ein Narzisst ist? | |
| Indem plötzlich jeder denkbare Missstand psychologisiert wird, erschafft | |
| sich das Fachgebiet seine eigene Nachfrage. Dies kann aber dazu führen, | |
| dass strukturelle Ursachen vernachlässigt werden. So argumentiert etwa die | |
| österreichische Soziologin Laura Wiesböck, deren neuestes Buch | |
| [2][„Digitale Diagnosen“] sich mit den Schattenseiten der gegenwärtigen | |
| Psycho-Diskurse in der Onlinewelt beschäftigt. | |
| Wiesböck ist der Auffassung: Wenn immer mehr Jugendliche die schulischen | |
| Anforderungen nicht mehr erfüllen können, sollte man lieber über die | |
| Lehrmethoden und Bewertungsmaßstäbe sprechen als über die Psyche von | |
| Jugendlichen. Stattdessen werde aber immer öfter das Verhalten von | |
| Jugendlichen als individuelles Problem abgetan und mithilfe von | |
| Fachbegriffen wie „Aufmerksamkeitsstörung“ oder „mangelnde Impulskontrol… | |
| pathologisiert. Wiesböck will damit nicht sagen, dass ADHS im Jugendalter | |
| eine Fehldiagnose ist, oder dass Kindern dadurch Gewalt angetan wird – auch | |
| wenn das sicher vorkommt. | |
| Die Soziologin betont in ihrem Buch sogar, dass sie findet, dass Diagnosen | |
| das Erleben und Verhalten von Menschen treffend beschreiben und ihnen | |
| Zugang zu Hilfeleistungen verschaffen können. Ihr Anwachsen zeige aber eben | |
| auch, dass wir lieber am Individuum herumschrauben, statt unsere sozialen | |
| und materiellen Lebensbedingungen zu hinterfragen. | |
| Die kritischen Sichtweisen von Illouz und Wiesböck stellen mich vor die | |
| Frage, ob jede Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben automatisch | |
| bedeutet, dass wir uns depolitisieren und neoliberalen Idealen unterwerfen. | |
| Kann die Beschäftigung mit der eigenen Psyche nicht auch hilfreich und | |
| befreiend sein? | |
| ## Drei Dinge gegen Narzissmus | |
| Bei meiner Suche nach einer Antwort tauche ich zuerst in den Kosmos der | |
| kommerziellen Ratgeber-Accounts bei Instagram ein. Zwischen all den | |
| Influencer*innen, die hier ihr Wissen und ihre Strategien zur Verbesserung | |
| des Seelenlebens zur Verfügung stellen, fällt mir eine Frau besonders auf. | |
| [3][Sie heißt mit richtigem Namen Eli Harwood, nennt sich „attachmentnerd“ | |
| und hat mit ihren 738.000 Follower*innen eine ziemlich große | |
| Reichweite.] | |
| Harwood selbst beschreibt sich als „Therapeutin“, „Mama“ und | |
| „Bestseller-Autorin“. Ihr Account kreist um das Thema „Erziehung“ mit d… | |
| Fokus auf einer sicheren Eltern-Kind-Bindung.Und für die ist laut Harwood | |
| die Arbeit an den eigenen Bindungserfahrungen, die Emotionsregulation und | |
| eine harmonische Partnerschaft nötig. Denn: „Your kids feel what you don’t | |
| heal“ – deine Kinder fühlen, was du nicht heilst, sagt sie. Dazu liefert | |
| sie psychologische Erklärungen und Erziehungsstrategien, die allesamt | |
| vermitteln: Elternschaft ist handelbar, wenn man sich nur genug anstrengt. | |
| Schon die Ästhetik des Coaching-Accounts erweckt den Eindruck von sanfter | |
| Kontrolle. Harwood ist eine normschöne, weiße Frau um die vierzig, die | |
| modisch-legere Outfits und gelegentlich knallige Ohrringe trägt. Parallel | |
| zu ihren psychologischen Alltagstipps führt sie oft häusliche Tätigkeiten | |
| aus. Mal richtet sie beim Nachdenken über eine gesunde | |
| Eltern-Kind-Beziehung einen Obstsalat an, mal sitzt sie am Steuer ihres | |
| Familienautos. | |
| Ihr Auftreten legt nahe: Ich habe mein Leben im Griff, hier hinter meiner | |
| polierten Kücheninsel wachsen wohltemperierte, gesunde und geliebte Kinder | |
| heran. Entsprechend rezeptförmig sind auch viele ihrer Beiträge: „Drei | |
| Dinge, auf die ich achte, damit meine Kinder keine narzisstischen Tendenzen | |
| ausbilden“ usw. Dadurch erweckt die Influencerin den Eindruck, dass mit ein | |
| bisschen Anstrengung nahezu jeder Familienkonflikt unschädlich gemacht | |
| werden kann, wenn man ihre Tipps beherzigt. | |
| Die These von Eva Illouz scheint sich hier zu bestätigen. Die Inhalte und | |
| ihre ästhetische Darstellung auf Social Media verlagern die Verantwortung | |
| für die Kindererziehung ganz ins Innere der Eltern. Mehr noch: Sie erklären | |
| Elternschaft zu einem Projekt, für das man sich durch die permanente Arbeit | |
| am Selbst qualifizieren muss – dafür kann man auf dem Account von Harwood | |
| übrigens diverse Arbeitsmaterialien erwerben. | |
| Dies wirkt nicht nur depolitisierend, weil es die strukturellen | |
| Erschwernisse von Elternschaft verdeckt. Die Kehrseite von Verheißungen wie | |
| „Mit diesem einfachen Ritual erneuerst du deine Paarbeziehung von Grund | |
| auf“ ist, dass sie dem einzelnen Menschen die Schuld für alles aufladen, | |
| was schiefgeht. Wenn die Arbeit am eigenen Selbst das Rezept für intakte | |
| familiäre Beziehungen und gemäßigte kindliche Gemüter ist, dann sind im | |
| Umkehrschluss Vertrauensbrüche und Ausraster ein Zeichen dafür, dass die | |
| Eltern zu wenig an sich arbeiten. | |
| Diese Schuldlast entlädt sich mit Vorliebe auf Mütter, die nicht grundlos | |
| die bevorzugte Zielgruppe von Influencerin Eli Harwood sind. Insbesondere | |
| Mütter aus akademischen Milieus, die laut der Soziologin Laura Wiesböck | |
| unter dem hohen moralischen Druck stehen, ein erfülltes Berufsleben mit | |
| liebevollen familiären Beziehungen und körperlicher Attraktivität zu | |
| kombinieren. Andere Milieus fallen ohnehin von vornherein heraus aus der | |
| Selbstarbeit, etwa weil Menschen ihre ganze Kraft in die anstrengende, oft | |
| unterbezahlte Lohnarbeit stecken müssen. | |
| Das Kontrollversprechen von Harwood scheint mir aber auch noch eine andere | |
| Schattenseite zu haben. Es kühlt die Emotionen von Menschen herunter und | |
| vereindeutigt komplexe Zustände. So benennt die Influencerin zum Beispiel | |
| Wut, Besitzansprüche und Ängste lächelnd zu „growth areas“, sprich | |
| Wachstumsgebieten um. Zu „produktiven“ Gefühlen wie Trauer ermutigt sie | |
| ihre Follower*innen, von Verzweiflung rät sie eher ab: zu chaotisch. Damit | |
| vermittelt sie, dass Beziehungen immer harmonisch, eindeutig und jederzeit | |
| steuerbar sein sollten. | |
| Das ist natürlich falsch. In Nahbeziehungen, noch dazu in familiären, sind | |
| wir voneinander abhängig. Das kann schmerzhaft sein, weil wir das Fühlen | |
| und Handeln unserer Bezugspersonen nicht vollständig kontrollieren können. | |
| Wie hilflos und verletzlich uns das machen kann, blenden Instagram-Coaches | |
| wie Harwood aus. Heftige, widerstreitende Gefühle und innere Abgründe | |
| lächeln sie weg mit dem neoliberalen Versprechen, dass stabile Beziehungen | |
| eine Frage der Entscheidung sind und durch Wissen erlernt werden können. | |
| Psychoanalytiker*innen nennen das Rationalisierung. Was hinter dem | |
| Rationalisieren und Vereindeutigen steckt, [4][kann man bei dem Soziologen | |
| und Psychoanalytiker Alain Ehrenberg nachlesen.] Er untersucht schon seit | |
| den 1990er Jahren, wie in unserer Gesellschaft über die Psyche gesprochen | |
| wird. | |
| Laut Ehrenberg dominiert heute vielerorts ein „Reparaturmodell“. Symptome | |
| sind demnach Defizite, die man wegtrainieren sollte, um im Alltag möglichst | |
| reibungslos zu funktionieren. Dabei wird die Auseinandersetzung mit den | |
| psychischen Konflikten vernachlässigt, die hinter diesen Symptomen stecken. | |
| Genau die braucht es aus Ehrenbergs Sicht aber, wenn wir uns selbst und | |
| anderen nicht mit Disziplin und Kontrolle, sondern mit Verständnis begegnen | |
| wollen. | |
| Um sich von nagenden Selbstzweifeln oder unsicheren Beziehungserfahrungen | |
| zu befreien, sei es wichtig, deren Ursachen nachzuspüren. Die können in der | |
| Vergangenheit der einzelnen Person liegen, aber auch in gesellschaftlichen | |
| Umständen. Ehrenberg glaubt zum Beispiel, dass Depressionen heute oft eine | |
| Erschöpfungsreaktion darauf sind, dass Menschen immerzu wachsen und die | |
| Initiative für das eigene Leben ergreifen sollen. | |
| Bei der Suche nach Ursachen geht es aus psychoanalytischer Sicht nicht nur | |
| um Selbsterkenntnis, sondern auch darum, dass wir uns mit unseren eigenen | |
| Grenzen versöhnen. Dafür müssen wir uns eingestehen, dass wir im | |
| Zusammenleben mit anderen manchmal Verluste und Verletzungen erfahren, | |
| denen kein noch so gewiefter Psychoratgeber restlos vorbeugen oder sie | |
| auffangen kann. | |
| Ich finde, dass dieses Eingeständnis nicht nur von dem Druck befreit, immer | |
| alles im Griff haben zu müssen. Es kann auch solidarisierend wirken. Denn | |
| wenn die Erfahrung, abhängig und verletzbar zu sein, zum menschlichen | |
| Zusammenleben dazugehört, dann verbindet uns das untereinander. Und kann | |
| uns dazu motivieren, uns für den Schutz anderer einzusetzen. Könnte Social | |
| Media nicht auch dafür einen Raum bieten? | |
| ## Alternative Angebote zum Kommerz | |
| Ich mache mich auf die Suche nach digitalen Hilfeleistungen, die über die | |
| Selbstverbesserung hinausgehen und werde beim Bundesverband der Angehörigen | |
| psychisch erkrankter Menschen [5][(BApK)] fündig. Ich verabrede mich mit | |
| einer der Social-Media-Beauftragten des Verbandes am Telefon. Julia Paar | |
| erzählt mir, das der BApK eine Plattform für all jene sein soll, die einen | |
| psychisch erkrankten Menschen versorgen und intensiv mit dem Leid ihrer | |
| Eltern, Geschwister und Freund*innen konfrontiert sind. All das führe oft | |
| auch zu eigenem psychischem Leid, so die Beauftragte. Und darüber werde | |
| noch viel zu wenig gesprochen. | |
| Während ich Paar zuhöre, wird mir klar, dass der Social-Media-Auftritt des | |
| BApK sich grundlegend von dem Auftritt unterscheidet, der mir bei Eli | |
| Harwood alias „attachmentnerd“ begegnet ist. Das liegt vor allem daran, | |
| dass der Verband kein kommerzieller Akteur ist, sondern eine | |
| zivilgesellschaftliche Organisation. Es geht also nicht um eine möglichst | |
| konsumierbare, gewinnorientierte Performance, sondern um die Vermittlung | |
| von Inhalten. [6][Die Kacheln wirken vielleicht etwas weniger hipp, dafür | |
| sachlicher.] | |
| „Beim BApK steht die strukturelle Verbesserung der Situation von | |
| Betroffenen im Vordergrund und nicht die individuelle Arbeit am Selbst“, | |
| betont Julia Paar. Entsprechend vermittelt der Verband auf Social Media | |
| niederschwellige Hilfsangebote wie das Beratungstelefon und vernetzt | |
| Betroffene in Selbsthilfegruppen oder Workshops. Außerdem klärt er über | |
| psychische Krankheitsbilder auf, zum Beispiel mithilfe persönlicher | |
| Erfahrungsberichte auf Youtube. | |
| Die Betroffenenperspektive sichtbar zu machen, ist Paar zufolge sehr | |
| wichtig, denn Menschen könnten nur dann um Unterstützung bitten, wenn sie | |
| Worte für ihre Situation haben und sich dazu ermutigt fühlen, mit anderen | |
| Menschen darüber zu sprechen. | |
| Paar steht der Präsenz von psychischen Erkrankungen auf Social Media | |
| deshalb eher positiv gegenüber. Sie mache es für ihren Verband leichter, | |
| mit seiner Arbeit durchzudringen. Dennoch beobachtet sie, dass der | |
| gesellschaftliche Umgang mit psychischem Leid je nach Diagnose immer noch | |
| stark variiert. So hätten die Ressentiments gegenüber depressiven Episoden | |
| oder Angsterkrankungen zwar abgenommen. Schizophrenie oder | |
| Suchterkrankungen, die vielen Menschen unvertraut oder sogar unheimlich | |
| sind, würden aber weiterhin zu wenig thematisiert, sodass die Betroffenen | |
| nach wie vor unter Ausgrenzung und Vorurteilen litten. | |
| Was Social Media angeht, könnte das natürlich auch daran liegen, dass eine | |
| akute wahnhafte Phase oder ein Rückfall in den Alkoholrausch sich schlecht | |
| in konsumierbare, ästhetische Häppchen verpacken lassen. Bilder von | |
| extremem Kontrollverlust zu sehen, kann Ekel oder tiefes Befremden | |
| auslösen und taugt daher wenig zur digitalen Vermarktung. | |
| Ich muss außerdem an parlamentarische Debatten denken, in denen | |
| Politiker*innen die staatliche Registrierung von psychisch erkrankten | |
| Menschen fordern – vermeintlich zur Gefahrenprävention. Oder die Kürzung | |
| von Bürgergeld für sogenannte erwerbsfähige Personen, die aber oft durch | |
| schwere psychische Erkrankungen eingeschränkt sind. Menschen scheinen vor | |
| allem dann weiterhin für ihr psychisches Leid stigmatisiert zu werden, wenn | |
| sie auf Dauer weniger leistungsfähig oder besonders unkontrollierbar | |
| erscheinen. | |
| ## Genesung zum Anschauen | |
| Eine Art, mit Stigmatisierung umzugehen, begegnet mir auf den sogenannten | |
| „Recovery Accounts“, sprich Genesungs-Accounts. Bei [7][„lindaslife“] e… | |
| können Nutzer*innen unter dem Stichwort #DepressionRecovery eine junge | |
| Frau durch ihren „Alltag mit Depressionen“ begleiten. Laut Linda, die ihren | |
| Nachnamen nicht angegeben hat, soll der Account einen Raum bieten, „wo du | |
| dich gesehen & verstanden fühlst“. Denn für andere sei es oft „nicht | |
| nachvollziehbar und unverständlich, was wir durchmachen“, sagt die | |
| Influencerin. Viele Kommentare drücken Bestärkung für ihre Posts aus, durch | |
| Herz-Emojis oder Komplimente zu ihrem Aussehen. | |
| Recovery Accounts gibt es unzählige auf Instagram, und zu fast jeder | |
| Diagnose. [8][Die psychologische Sozialforscherin Julia Degenhardt] | |
| schreibt deshalb ihre Doktorarbeit darüber. Aus ihrer Sicht zeigt deren | |
| enorme Verbreitung, dass sich Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend | |
| selbst um ihre Gesundheit kümmern müssen. Weil Optimierungsdiskurse sie | |
| dazu drängen. Aber auch, weil es zu wenige Therapieplätze gibt. | |
| Gleichzeitig suchen Nutzer*innen über die Accounts nach Verständnis, | |
| Zugehörigkeit und Fürsorge, so die Wissenschaftlerin. | |
| Ich frage mich dennoch, warum Menschen sich lieber in einem anonymen, | |
| körperlosen und weitgehend rechtsfreien Raum über ihre Leidenserfahrungen | |
| austauschen als in ihrem sozialen Umfeld oder einer professionellen | |
| Einrichtung. Dafür scheint es unterschiedliche Erklärungen zu geben. Zum | |
| einen weisen Linda und Co darauf hin, wie schwierig es ist, Verständnis | |
| oder Fürsorge von Mitmenschen zu erfahren, wenn man sich dauerhaft mit | |
| Alltagstätigkeiten schwertut, niedergeschlagen ist oder Schmerzen hat. | |
| Außerdem finden Betroffene digitale Begegnungen oft kontrollierbarer, sagen | |
| sie. | |
| Auf der praktischen Ebene leuchtet mir das ein: Linda kann den | |
| Nutzer*innen sorgsam inszenierte Ausschnitte aus ihrem Alltag zeigen, | |
| unliebsame Kommentare löschen oder ihren Account für privat erklären. Für | |
| Julia Degenhardt sind das Strategien, um sich nicht nur den Reaktionen | |
| anderer Menschen, sondern auch dem eigenen Leiden weniger ausgeliefert zu | |
| fühlen. Aus ihrer Sicht ist das jedoch nicht immer hilfreich, denn es | |
| bedeute auch, Gefühle von Verletzlichkeit und Ohnmacht zu verdrängen. | |
| Ähnlich wie der Soziologe und Psychoanalytiker Alain Ehrenberg findet | |
| Degenhardt die Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen und mit deren Gründen | |
| für die Heilung wichtig. | |
| Aber wie sollen Menschen ihre Hilflosigkeit zulassen und zu ihren Grenzen | |
| stehen, wenn sie doch immerzu wachsen und selbstwirksam sein müssen, frage | |
| ich mich. | |
| Dass Betroffene den digitalen Raum als kontrollierbar empfinden, kommt mir | |
| trotzdem schräg vor: Denn die Spielregeln der Recovery Communities werden | |
| von gewinnorientierten Tech-Konzernen geschrieben. Die interessiert an dem | |
| psychischen Leiden der Nutzer*innen nur der Marktwert. Somit ist nicht | |
| nur der Umgang mit ihren Daten alles andere als kontrollierbar. Bei der | |
| Vermarktung der eigenen Psyche wird außerdem unterschwellig Einfluss auf | |
| Nutzer*innen ausgeübt. | |
| ## Werbung und Psycho-Merch | |
| Laura Wiesböck beschreibt in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“, wie das | |
| Anliegen der Entstigmatisierung schon seit Jahren von ökonomischen | |
| Interessen unterwandert wird: Fröhlich ermutigen Pharmaunternehmen die | |
| Nutzer*innen von Tiktok zur Einnahme von Medikamenten wie Ritalin oder | |
| Vyvanse – wofür man zuerst eine ADHS-Diagnose benötigt. | |
| Influencer*innen bewerben in bezahlter Zusammenarbeit zweifelhafte | |
| Onlinetherapieformate. Und ein explodierender Markt an Produkten, die man | |
| zynisch als „Psycho-Merch“ bezeichnen könnte, vertreibt unter dem Stichwort | |
| „Own your stigma“ T-Shirts und Schmuck mit Diagnoseslogans. | |
| Kann es trotzdem heilsam sein, Verständnis und Unterstützung in einem | |
| Kosmos zu suchen, der so klar von Konsumprinzipien getrieben ist? Ja, das | |
| kann es, wird mir klar, als ich mich auf eine Limo mit Hannuh Frings | |
| treffe. Frings ist Psychologiestudent*in und hat sich vor fünf Jahren | |
| nach einer intensiven Recherche über Reddit selbst Autismus diagnostiziert. | |
| Schon immer sei da die Gewissheit gewesen, irgendwie anders zu sein. In | |
| Kliniken und Psychotherapien habe Frings aber keine hilfreichen Erklärungen | |
| bekommen, sondern sich eher pathologisiert gefühlt, wenn | |
| Therapeut*innen von Persönlichkeitsstörungen und „emotionalen | |
| Widerständen“ sprachen. | |
| Als in einer Netflix-Serie plötzlich das Schlagwort „Autismus“ gefallen | |
| sei, habe Frings begonnen, sich über Erfahrungsberichte und | |
| wissenschaftliche Forschung eigenständig darüber zu informieren – mit | |
| lebensverändernder Wirkung: „Ich glaube, dass man das einfach nicht | |
| verstehen kann, wenn man es nicht selber erlebt hat. Das ist einfach ein | |
| Moment, wo du merkst, dass alles mehr Sinn ergibt als vorher, alles besser | |
| funktioniert als vorher. Es erklärt deine Probleme und es erklärt auch | |
| deine Talente – es erklärt einfach alles.“ | |
| Das grundlegende Gefühl, nicht reinzupassen, beschäftige viele | |
| Autist*innen, sagt Frings: „Das ist keine Metapher, wir fühlen uns wie | |
| Aliens. Punkt.“ Frings berichtet von dem Druck, starre und eindeutige | |
| Diagnosekriterien erfüllen zu müssen, um Unterstützung im Alltag zu | |
| bekommen, auch wenn sie das eigene Erleben gar nicht abbilden. Und von | |
| selbst geschriebenen Erinnerungslisten für den Umgang mit „Neurotypischen“ | |
| wie mir, die oft pikiert reagierten, wenn Frings nicht über ihre Witze | |
| lacht oder sich nicht bedankt. | |
| Hinter solchen Vorkehrungen – Autist*innen sprechen von „Masking“ – | |
| liegt die einschneidende Erfahrung, dass man die Welt und andere Menschen | |
| grundlegend anders wahrnimmt und dafür abgewertet und pathologisiert wird. | |
| Bei vielen Betroffenen erzeugt das nicht nur Einsamkeit, sondern auch Wut. | |
| Sie kritisieren, dass man in unserer Gesellschaft nur dann jemand ist, wenn | |
| man sozial geschmeidig agiert, sich schnell anpassen kann und ein positives | |
| Mindset hat. | |
| ## Endlich nicht mehr allein | |
| Weil die Autismusdiagnose institutionell nie bestätigt wurde, bekommt | |
| Frings immer noch keine professionelle Unterstützung im Alltag. Dafür | |
| greift Frings auf die Stadtteilgewerkschaft Kalk Solidarisch zurück, eine | |
| zivilgesellschaftliche Gruppe, die auch ohne Diagnose bei | |
| Sozialhilfeanträgen oder Unieinschreibungen hilft. Was sich aber | |
| grundlegend verändert hat: Frings fühlt sich nicht mehr einsam. Und zwar | |
| dank einer digitalen Selbsthilfegruppe für FLINTA*-Autist*innen, deren | |
| Mitglieder sich einmal pro Woche per Zoom treffen, um sich über ihr Erleben | |
| auszutauschen. | |
| Frings Erfahrung nach ist es schwierig, solche Gruppen im analogen Raum zu | |
| finden, vor allem, wenn man wegen Reizüberflutung oft zu Hause bleiben | |
| muss. Bei einem digitalen Treffen könne man sich außerdem leichter mal | |
| rausziehen, zum Beispiel indem man die Kamera ausschaltet. Ein besonderer | |
| Pluspunkt an der digitalen Selbsthilfegruppe ist für Frings ihre | |
| internationale Zusammensetzung, weil sie den Austausch vielfältiger macht. | |
| Frings betont immer wieder, wie wichtig es für Autist*innen sei, Worte | |
| für das eigene Anderssein zu haben, um dem Empfinden eine Realität zu | |
| verleihen und sich untereinander zu solidarisieren. Für Frings ist Autismus | |
| deshalb eine ermächtigende Selbstbezeichnung, keine Pathologisierung. | |
| Auch in anderen Social-Media-Communitys haben Diagnosen eine enorm wichtige | |
| Bedeutung. Oft lese ich Sätze wie: Eine Depression „ist keine Phase, die | |
| von selbst wieder vergeht. Sie bleibt! Sie tut weh, sie verändert mich, | |
| mein Denken, mein Handeln! Sie ist immer da!“ Anscheinend können Diagnosen | |
| also auch eine Art von Widerstand bedeuten – gegen Schuldzuweisungen oder | |
| unangenehme Rollenzuschreibungen. | |
| Eine Depressionsdiagnose ermöglicht es zu sagen: Ich bin halt so, lasst | |
| mich endlich mit euren Ansprüchen in Ruhe. Ich finde das verständlich, denn | |
| man muss sich ja tatsächlich oft dafür rechtfertigen, wenn die persönliche | |
| Wachstumskurve stagniert oder man auf die Fürsorge anderer angewiesen ist. | |
| Mir bereitet es aber auch Unbehagen, wenn Langsamkeit, Trübsal oder Trotz | |
| immer öfter mit psychologischen Diagnosen erklärt werden. Denn es spricht | |
| dafür, dass in unserer Gesellschaft die Unterschiedlichkeit und die | |
| Verletzlichkeit von Menschen schnell als behandlungswürdig wahrgenommen | |
| werden. | |
| Kein Wunder, denn im Neoliberalismus stören Abweichungen die Produktivität, | |
| das Bedürfnis nach Zuwendung gilt als Schwäche. Letzteres ist nicht nur | |
| ungerecht, sondern auch falsch, denn niemand handelt ganz aus sich selbst | |
| heraus. Wir alle sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße, abhängig von | |
| anderen Menschen und Umständen. Ich finde, das sollten wir stärker | |
| anerkennen, statt es in die individuelle Psyche auszulagern. | |
| 7 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.suhrkamp.de/buch/eva-illouz-die-errettung-der-modernen-seele-t-… | |
| [2] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/laura-wiesboeck-digitale-diagno… | |
| [3] https://www.instagram.com/attachmentnerd/ | |
| [4] https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/das_ers… | |
| [5] https://www.bapk.de/der-bapk.html | |
| [6] https://www.instagram.com/familienselbsthilfe_/ | |
| [7] https://www.instagram.com/__lindaslife__/ | |
| [8] https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/2100/3238-detail | |
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| Fanny Mertens | |
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