Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Vom Kinderbuch zum Erwachsensein: Frederick, ADHS oder man nennt es…
> Die Mutter unserer Autorin setzte Hoffnungen in Leo Lionnis Geschichte
> der Kreativmaus Frederick. Aber kann sie tatsächlich helfen im
> Kapitalismus?
Bild: Den Sonnenschein einfangen kann nicht jeder
Als ich klein war, hatte meine Mutter eine Phase, da empfahl sie allen um
sich herum das Bilderbuch [1][„Frederick“ von Leo Lionni]. Sie selbst hatte
es nicht gelesen, aber man hatte ihr davon erzählt, und die Message war
genau die, die sie spreaden wollte. Die Geschichte erinnert zunächst an die
Fabel von der Grille und der Ameise: Den ganzen Sommer über hängt die Maus
Frederick auf der faulen Haut herum und denkt gar nicht daran, mit den
anderen Vorräte zu sammeln. Doch anders als bei der Grille, die am Ende mit
dem Hungertod dafür bestraft wird, dass sie nur feiern war, lassen die
anderen Frederick nicht hängen, sondern teilen ihre Vorräte solidarisch mit
ihm.
Aber jetzt kommt’s: Als es draußen am kältesten ist, das Korn zur Neige
geht und die Mäuse kurz vor der Winterdepression sind, da fängt Frederick
an, von den Farben des Sommers zu erzählen, die er beim Chillen in sich
aufgenommen hat. Und die Mäuse wärmen sich an seinen Geschichten über die
Sonnenstrahlen und überstehen so am Ende den Winter auch dank Frederick.
Meine Mutter fand in der Geschichte Trost und wollte wohl auch mich damit
trösten: Auch ich würde, selbst wenn man es noch nicht absehen könne, eines
Tages [2][zu etwas nutze sein].
Meine Mutter hat ADHS und fühlte lange den typischen gesellschaftlichen
Anpassungsdruck, bis sie sich im Alter in einen Zustand jenseits von Gute
und Böse flüchtete. Davor gab sie mir aber implizit noch den Auftrag mit:
„Streng dich an, anders zu sein, damit sie dich akzeptieren!“ – ein
Auftrag, den sie selbst nie hatte ausführen können. Aber Selbstverleugnung
schien der beste Weg, um im konformitätsgeilen Hurra-Kapitalismus der Ära
Kohl nicht aufzufallen. Und überzeugend war letztlich auch für sie die
marktwirtschaftlich unterfütterte Logik, dass Chaos nutzlos, weil
ineffizient sei.
Nonkonformes Verhalten wurde deshalb von Lehrerinnen, Sporttrainern, Eltern
und selbst von Kindern mit den Mitteln moralischer Ächtung bestraft. Ich
war zu egoistisch, um pünktlich zu sein. Zu faul, um gescheit für die
Schule zu lernen. Zu unachtsam, um meine Sachen nicht zu verlieren. Zu
unhöflich, um andere ausreden zu lassen.
## Flexibel auf Neues reagieren
Heute weiß man: Das Gehirn von AD(H)Slern funktioniert schlicht anders. Es
hat die Gabe – und das Problem –, so ziemlich jeden Reiz wahrzunehmen, der
auch nur annähernd in Sicht- und Hörweite ist. Und zwar gleichzeitig.
Das macht uns extrem ablenkbar, hilft aber, flexibel auf Neues reagieren
und in Sekundenschnelle relativ sinnvolle Entscheidungen treffen zu können.
Man nennt es auch Intuition. Die hilft auch im Zwischenmenschlichen. Es
heißt, AD(H)Sler kommen in einen Raum und spüren sofort, wie es jeder
einzelnen Person darin geht. Zugleich aber kann für uns selbst ein einziges
falsches Wort, eine winzige Nuance im Tonfall, die nur wir bemerken, dazu
führen, dass alte Muster der Abwertung kicken und wir uns als nutzlose
Grille, die den Hungertod verdient hat, abgelehnt fühlen.
Das Problem ist nicht AD(H)S. Sondern dass das, was wir beitragen, von
[3][neurotypischen] Leuten oft nicht bemerkt wird. Und es deshalb auf der
Rechnung am Ende nicht auftaucht. Und wir müssen dann weiterhin hoffen,
dass die anderen Mäuse uns aus purer Güte mitessen lassen.
Ich glaube, meine Mutter hatte gehofft, dass durch Fredericks Geschichte
auch meine unsichtbaren Fähigkeiten erkannt und anerkannt würden. Denn den
Sonnenschein einfangen kann ja auch nicht jeder.
19 Oct 2025
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Frederick_(Buch)
[2] /ADHS-im-Erwachsenenalter/!6111346
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Neurotypisch
## AUTOREN
Sunny Riedel
## TAGS
Kolumne Dopaminimum
ADHS
Kinderbuch
Social-Auswahl
Reden wir darüber
Serien-Guide
Schwerpunkt Meta
Kolumne Dopaminimum
Psyche
## ARTIKEL ZUM THEMA
Paris Hilton Serie über ADHS: Exklusive Inklusivität
Paris Hiltons neueste Selbstverwertung bietet Inneneinrichtungstipps für
Menschen mit ADHS. Auch bietet sie verdammt viel Ragebait.
Therapie bei TikTok: Heile dich selbst
Auf Social Media boomt Psycho-Content. Warum ist das so – und welches Bild
von psychischem Wohlbefinden entsteht dabei? Eine Spurensuche.
ADHS im Erwachsenenalter: Die Zeit des ADHS-Shamings ist nun endlich vorbei!
ADHS galt früher als Makel. Heute feiert die jüngere Generation ihre
Eigenarten und bricht mit alten Klischees.
Therapeutin über psychische Gesundheit: „Verbindung findet im Alltag so weni…
Brynja, das „Fitnessstudio für die Psyche“ in Bremen lädt zum zweiten Mal
zur Reihe „Mental Tracks“, ein Festival der psychischen Gesundheit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.