# taz.de -- Psychologe über mentale Gesundheit: „Die Verantwortung wird schn… | |
> Das Bewusstsein für mentale Gesundheit ist inzwischen stark. Jedoch | |
> werden im Neoliberalismus Probleme oft individualisiert, meint Psychologe | |
> Wolz. | |
Bild: Allein mit Problemen? Lösungen finden sich häufig in der Gemeinschaft | |
Herr Wolz, als „psychologeluca“ geben Sie online Alltagstipps für die | |
psychische Gesundheit. Diese wollen Sie nicht nur als persönliches Thema, | |
sondern strukturell als System verstehen. Was bedeutet das? | |
Luca-Leander Wolz: Grundsätzlich möchte ich damit erstmal einen | |
Perspektivwechsel anregen, der in meinen Augen in der | |
Mainstream-Psychologie und Psychotherapie ein bisschen zu kurz kommt. Wenn | |
wir über psychische Erkrankungen reden, denken wir zwar immer schon an das | |
biopsychosoziale Modell, welches ein Erklärungsmodell für psychische | |
Erkrankungen darstellt. Die Idee dahinter ist, dass die Genese dieser | |
Erkrankungen durch biologische, psychische und soziale Faktoren mitbedingt | |
wird. | |
taz: Das klingt nach einem recht breiten Verständnis. | |
Wolz: Aus meiner Perspektive kommen dabei jedoch häufig soziale und | |
strukturelle Faktoren zu kurz. Die meisten Erkrankungen entstehen eben | |
nicht im luftleeren Raum, sondern sind auf vielfältige Art und Weise | |
strukturell mitbedingt. | |
taz: Was genau meinen Sie damit? | |
Wolz: Wir alle werden in bestimmten Gesellschaftsstrukturen sozialisiert | |
und nehmen dementsprechend auch bestimmte Perspektiven ein, internalisieren | |
Grundannahmen, die auf gesellschaftlich vorherrschenden Paradigmen | |
basieren. Ich thematisiere dabei vor allem neoliberale Narrative und deren | |
Wirkung auf unsere psychische Gesundheit. Also Leistungsdruck, | |
Selbstunternehmer*innentum und das Diktum der | |
Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich des eigenen „Funktionierens“ trotz | |
multipler Gesellschaftskrisen. | |
taz: Aber ist ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür nicht vorhanden? | |
Wolz: Diese Dinge werden nicht ausgeblendet, aber in meinen Augen doch | |
häufig nicht ausreichend berücksichtigt. Die Verantwortung für die eigene | |
psychische Gesundheit wird schnell auf das Individuum gelegt. Dann wird | |
gesagt: „Okay, dir geht es nicht gut, dann musst du jetzt an dir arbeiten, | |
dass es dir wieder besser geht.“ Entsprechende historisch gewachsene | |
Narrative und strukturelle Aspekte werden somit außer Acht gelassen. | |
taz: Das Denken, psychische Probleme seien individuelles Versagen, ist also | |
noch nicht überwunden? In den vergangenen Jahren hat sich hier doch viel | |
getan. | |
Wolz: Es hat auf jeden Fall eine teilweise Entindividualisierung und | |
Entstigmatisierung stattgefunden. Psychotherapie ist in vielen Milieus | |
mittlerweile normalisiert, viele sprechen offen darüber, der Diskurs hat | |
sich demnach in Teilen verändert. Je nach Milieu und auch in Bezug auf die | |
Generationen gibt es dabei natürlich aber auch Unterschiede. Es gibt auch | |
Milieus, in denen psychische Erkrankungen weiterhin stark stigmatisiert | |
werden. | |
taz: Was beeinflusst, wie wir über psychische Gesundheit denken? | |
Wolz: Ich beziehe mich gerne auf den Neoliberalismus, welcher zwar | |
vornehmlich eine Wirtschaftsform darstellt, aber eben auch bestimmte | |
Narrative befördert. Letztlich ist die Idee des Neoliberalismus ja eine | |
Entstaatlichung, freie Märkte, möglichst wenig sozialstaatliche Leistungen. | |
Das führt natürlich dazu, dass wir alle mehr auf uns selbst bedacht sind, | |
dass wir den Wettbewerb, auch untereinander, normalisieren. Der | |
Neoliberalismus prägt Narrative von Flexibilität und Effizienz. Bau dich | |
selbst als Marke auf. Sei Unternehmer*in deiner selbst. So das Framing. | |
Das hat natürlich einen riesigen Einfluss darauf, wie wir uns selbst und | |
andere wahrnehmen. | |
taz: Und zwar welchen? | |
Wolz: Es fördert ein Narrativ der Eigenverantwortung. Wenn du nicht | |
funktionierst beziehungsweise psychisch krank wirst, dann liegt das an dir | |
selbst. Vielleicht hast du nicht gut genug an dir selbst gearbeitet. Du | |
musst dich halt wieder zusammenreißen. Das führt zu einer ganz starken | |
Individualisierung von psychischen Problemen. | |
taz: Dient Psychotherapie im Kapitalismus nur dazu, Menschen wieder fit für | |
den ausbeuterischen Arbeitsmarkt zu machen? | |
Wolz: Ich würde behaupten, da ist zum Teil etwas dran, zum Teil nicht. | |
Natürlich bewegt sich auch die Psychotherapie innerhalb eines Systems. Und | |
wenn dieses nicht ausreichend reflektiert wird, kann es auch dazu | |
beitragen, dass strukturelle Ungleichheitsmechanismen weiterhin mitgetragen | |
werden. Insofern kann man diese Kritik natürlich durchaus äußern. | |
taz: Aber? | |
Wolz: Nichtsdestotrotz muss man ganz klar sagen, die reine Definition der | |
Psychotherapie ist ja die eines Heilungsverfahrens für Leid beziehungsweise | |
für [1][psychische Krankheit]. Das sollte man erst einmal losgelöst von | |
gesellschaftlichen Verhältnissen betrachten. Es geht bei Psychotherapie | |
nicht um gesellschaftliche Veränderungen, sondern darum, dem Individuum bei | |
individuellen Problemen zu helfen. Als Therapeut*in sollte man dennoch | |
reflektieren, welche Machtverhältnisse auch innerhalb der Therapie wirken | |
und wie man den Patient*innen am besten helfen kann, ihre | |
Handlungsspielräume trotz struktureller Ungleichheiten in der Gesellschaft | |
zu erweitern. | |
taz: Sie klären auf sozialen Medien aus kritischer Perspektive über | |
psychologische Themen auf. Mein Feed ist geflutet von Tipps für die | |
perfekte Morgenroutine oder Atemübungen gegen den Arbeitsstress. Alles geht | |
um Self-Care, Self-Love, Selbstoptimierung. Was bewirkt das bei uns? | |
Wolz: Neben der Selbstoptimierung ist das andere problematische Momentum, | |
dass soziale Medien die sozialen Vergleichsprozesse, die wir Menschen | |
durchgehend erleben, nochmal verstärken. Es findet ein permanenter sozialer | |
Aufwärtsvergleich statt. Wir sehen die ganze Zeit Self-Love- und | |
Selbstoptimierungstechniken, sehen, wie gut diese bei den anderen | |
funktionieren, wie wohl sie sich fühlen, wie zufrieden und glücklich sie | |
sind. Natürlich führt das dazu, dass wir die ganze Zeit das Gefühl haben, | |
uns ginge es irgendwie nicht so gut. Zudem reproduziert es den Glauben an | |
die eigene Selbstverantwortung. | |
taz: Sie selbst sind Mitte 20, haben einen Master in Psychologie, machen | |
Ihre therapeutische Ausbildung und schreiben an Ihrer Doktorarbeit. Das | |
klingt doch nach dem typischen Highperformer. | |
Wolz: Ja, das ist ein Paradoxon, welchem ich mir auch selbst bewusst bin. | |
Ich würde mich auf gar keinen Fall als Highperformer bezeichnen, weil ich | |
diesen Ausdruck nicht gerne mag. Ich bin eher in einer sehr privilegierten | |
Situation, dass ich die Ausbildung machen darf, dass ich eine | |
Promotionsstelle bekommen habe, dass ich auf Instagram Content für mehrere | |
zehntausend Menschen machen darf. Meine unterschiedlichen Tätigkeiten geben | |
mir das Gefühl von Selbstwirksamkeit, woraus ich sehr viel Energie ziehe | |
und was ich sehr wertzuschätzen weiß. Nichtdestotrotz versuche ich mich | |
auch bewusst bestimmter Leistungsnarrative zu entziehen und meinen Alltag | |
ganz bewusst zu entschleunigen. | |
taz: Ein wiederkehrendes Thema in Ihren Beiträgen ist das Thema | |
Freund*innenschaft. Warum kommen Sie so häufig zu dieser Form der Beziehung | |
zurück? | |
Wolz: Das hat vor allem auch den persönlichen Grund, dass ich | |
Freund*innenschaften für mich als total wichtig und wertvoll empfinde. | |
Meine Freund*innenschaften stellen eine große Ressource für mich dar. | |
Ich spreche auch darüber, um eine höhere kollektive Wertschätzung zu | |
generieren, weil innerhalb unserer Gesellschaft romantische Beziehungen | |
einen relativ hohen Stellenwert haben, während Freund*innenschaften | |
häufig weniger wertgeschätzt werden. | |
taz: Und was hat das mit psychischer Gesundheit zu tun? | |
Wolz: Statistiken zeigen, dass sich Menschen zunehmend einsam fühlen und | |
wir aufgrund des Abbaus kollektiver Begegnungsstätten zunehmend in | |
Vereinzelungsspiralen hineingezogen werden. Und ich glaube, dass | |
Freund*innenschaften da ein gutes Gegenmittel sein können, die unsere | |
psychische Gesundheit stärken. Ich würde es aber auch nicht auf | |
Freund*innenschaften reduzieren, sondern grundsätzlich auf | |
kollektiv-solidarische Methoden oder Lösungen ausweiten. Die Suche nach | |
gemeinsamen Lösungen, nach kollektivem Wohlergehen kann sehr ermächtigend | |
sein. | |
taz: Ich erkenne jetzt also all die strukturellen Ursachen meiner | |
psychischen Erkrankung. Was bringt mir das? Macht das eine Veränderung | |
nicht noch unerreichbarer? | |
Wolz: Das ist eine sehr legitime und valide Frage, letzten Endes ist es | |
auch eine sehr individuelle Frage. Ein Bewusstsein dafür, dass die eigenen | |
Probleme oder die Erkrankung nicht in einem persönlichen Versagen liegen, | |
kann für viele eine Erleichterung bieten. Es kann eine andere | |
Selbstwahrnehmung ermöglichen, welche die Verantwortung nicht nur bei einem | |
selbst verankert, sondern auch äußere Faktoren mit einbezieht. | |
taz: Aber es entlastet nicht alle. | |
Wolz: Es kann auch dazu führen, dass man [2][zunehmend ein Gefühl von | |
Ohnmacht bekommt], davon, sowieso nichts verändern zu können. Genau da | |
lohnt es sich dann, konkret anzusetzen und zu überlegen: Was gibt es für | |
Alternativen, was gibt es für weitere Handlungsspielräume, an denen man | |
ansetzen kann? | |
taz: Haben Sie dafür Beispiele? | |
Wolz: Ich schlage öfter vor, [3][sich kollektiv zu organisieren]. Da gibt | |
es bereits tolle Initiativen, wie das Polyklinik-Syndikat, welches | |
strukturelle Aspekte in der Gesundheit berücksichtigt. Oder der Ansatz der | |
kollektiven Selbstverständigung, welcher auf der kritischen Psychologie | |
fußt, und das Potenzial hat, neue individuelle und kollektive | |
Handlungsspielräume zu eröffnen. | |
taz: Welchen Effekt können solche kollektiven Momente haben? | |
Wolz: Es kann sehr kraftvoll sein, wenn man das Gefühl bekommt, etwas | |
verändern zu können, vor allem gemeinsam. Was hier auch eine wichtige Rolle | |
spielt, ist der Aspekt der Hoffnung. Vielleicht ist die Zuversicht, dass | |
sich die Verhältnisse ändern, nicht unbedingt hoch. Aber die Hoffnung kann | |
einen dazu befähigen, weiterzumachen und an guten Dingen zu arbeiten. Und | |
das kann, glaube ich, total gewinnbringend für einen selbst und für unsere | |
Gesellschaft als Ganzes sein. | |
19 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jonas Kähler | |
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