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# taz.de -- Künstliche Intelligenz: Wenn wir das Denken an die KI auslagern
> ChatGPT und Co. entlasten uns vom Selbstnachdenken. Das ist keine
> effiziente Modernisierung, sondern ein Angriff auf das, was uns
> wachsen lässt.
Bild: Selber denken und nicht alles an die KI auslagern: Ohne kritisches Denken…
Es beginnt mit einer scheinbar harmlosen Frage. „Was bedeutet
Bewusstsein?“, tippt eine Schülerin in ihr Smartphone. Sekunden später
spuckt ein Algorithmus eine wohlformulierte Antwort aus, garniert mit
Fachbegriffen, Querverweisen, überzeugender Struktur. Die Fragende lehnt
sich zufrieden zurück, nippt am Kaffee, nickt innerlich. Kein mühsames
Blättern in Büchern und Sammeln von Informationen, kein quälendes Grübeln,
kein Ringen mit Formulierungen, keine Hadern mit der Komplexität und
Vielschichtigkeit des Themas. Kein Zeitinvestment. Hausaufgaben werden
nebenbei erledigt, bevor der Kaffee kalt wird. Alles liegt servierfertig
auf dem digitalen Tablett. Warum also nicht einfach zugreifen? Doch während
wir auf diese Weise Zeit, Aufwand und Engagement sparen, passiert etwas mit
uns und in unserm Kopf. Grob gesagt: Wir verdummen.
Die Menschheit hat stets Werkzeuge geschaffen, um das Leben bequemer zu
gestalten. Die industrielle Revolution ersetze Muskelkraft durch Maschinen.
Die Digitalisierung und der Onlinehandel waren dann eine Daueroffensive in
Sachen Bequemlichkeit beim Konsum. Nun aber dringen wir in eine neue Sphäre
vor: Wir entlasten uns vom Denken. Wir setzen [1][künstliche Intelligenz]
im Alltag immer mehr für Aufgaben ein, für die wir kognitive Fähigkeiten
benötigen, und die uns, um es ein wenig pathetisch zu formulieren, als
Menschen ausmachen: Wir bitten KI um Übersetzungen, Analysen, kreative
Texte und Reiseplanungen. Wir lassen Briefe überarbeiten oder direkt
erstellen, Informationen recherchieren, Präsentation gestalten,
Hausarbeiten schreiben. Selbst komplexe Entscheidungsprozesse delegieren
wir an lernende Systeme.
[2][Selbst denken ist schwer und voraussetzungsvoll]. Es braucht Ruhe,
Zeit, Konzentration, Ausdauer und die Lust, seine kognitiven Fähigkeiten
weiterzuentwickeln. In einer Gesellschaft, in der diese Bedingungen immer
mehr zur Mangelware werden, verwundert es nicht, mit welcher Schnelligkeit
ChatGPT und andere kostenlose KI-Anwendungen [3][Einzug in den Lebensalltag
vieler Menschen gehalten haben]. Wer möchte sich schon quälen mit
komplizierten Überlegungen, wenn ein digitales Orakel über das Smartphone
ein permanent verfügbarer Begleiter ist. Die Versuchung ist groß, sich dem
inneren Widerstand selbst zu denken, einfach zu ergeben. Und es entspricht
nicht nur der menschlichen Schwäche für den einfachen Weg, sondern auch der
Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert.
Unser Gehirn liebt Abkürzungen, mit denen es Zeit und Energie sparen kann.
Die Psychologie spricht von Heuristik, der Kunst, mit begrenztem Wissen und
wenig Zeit zu vergleichbar brauchbaren Lösungen zu kommen. Wir urteilen
schnell, denken selten gründlich und bis zu Ende, und überlassen vieles
Bewertungs- und Verhaltensroutinen, die aus vielfach erprobten und deshalb
fest abgespeicherten Denk- und Reaktionsmustern bestehen. Einen Großteil
der Zeit arbeitet unser Gehirn im Modus Autopilot. Die Evolution hat für
diese Effizienzmechanismen gesorgt, weil Denken sehr energieaufwendig ist.
## Das Gehirn lässt sich trainieren – oder es verkümmert
KI ist die Technologie, die diese neuronalen Energiesparprogramme in
unserem Gehirn weiter perfektioniert, indem wir Gelegenheiten, in denen wir
bislang selbst gedacht haben, immer mehr ungenutzt lassen, und das mit
gravierenden Folgen. Das Gehirn reagiert wie ein Muskel. Wenn es nicht
benötigt wird, verkümmert es. Zu den spannendsten neurowissenschaftlichen
Entdeckungen gehört die neuronale Plastizität. Diese beschreibt die
lebenslange Fähigkeit des Gehirns, sich zu verändern, indem neue neuronale
Verbindungen geschaffen werden. Und wodurch entstehen diese? Durch den
aktiven Gebrauch des Gehirns.
Wir können unser Gehirn tatsächlich trainieren, indem wir uns mit neuen
Themen beschäftigen, Raum für neue Erfahrungen schaffen, neue Aufgaben
übernehmen. Aber dieser Prozess geht auch in die Gegenrichtung. Geistige
Bequemlichkeit führt zu einer technologisch induzierten kognitiven
Regression. Kognitive Regression bedeutet nicht, dass wir über Nacht dümmer
werden. Es ist ein subtiler und schleichender Prozess: Wir verlernen,
komplexe Sachverhalte selbstständig zu strukturieren, zu durchdringen und
in Worte zu fassen. Wir verlernen, Widersprüche auszuhalten. Wir verlernen,
schöpferisch zu denken.
Ein Forscherteam am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das sich
mit den Folgen der Nutzung von KI auf das menschliche Gehirn beschäftigt,
spricht von „kognitiven Schulden“, die wir mit jeder Verwendung externer
KI-Anwendungen machen. „Kognitive Schulden verschieben mentale Anstrengung
kurzfristig, führen aber zu langfristigen Konsequenzen wie verringertem
kritischem Denken, erhöhter Anfälligkeit für Manipulation und verringerter
Kreativität.“
Dies wird stark dadurch befördert, dass Nutzer leicht einer
Kompetenzillusion erliegen. Die Sprachgewandtheit und Schnelligkeit von
KI-Anwendungen verführt zu blindem Vertrauen in das, was geliefert wird.
Wenn der Text glänzt, der Vortrag sitzt, die Idee clever klingt – wozu dann
noch die Mühen der Reflexion, des Zweifelns, des Hinterfragens? Langsam,
fast unmerklich, gleiten wir ab in eine Komfortzone geistiger Trägheit.
## Die Machdemonstration der Maschine
Wenn KI unser Gehirn entlastet, zahlen wir noch einen weiteren Preis. Den
Verlust von Ambition und Selbstwertgefühl. Chatbots schreiben Bewerbungen,
generieren wissenschaftliche Abstracts, liefern kreative Ideen für
Werbebotschaften oder komponieren Gedichte, und die Ergebnisse sind
deutlich besser als das, was viele Menschen zu schaffen in der Lage wären,
selbst wenn sie sich wirklich bemühen und sich viel Zeit nehmen würden.
Es ist eine beschämende Machtdemonstration der Maschine, wieder und wieder
und wieder. Eine wahrscheinliche Folge: Diese Erfahrung entmutigt
zunehmend, es doch selbst zu versuchen. Zudem entwertet KI zwangsläufig das
eigene Wissen sowie die eigenen Denk- und Artikulationsfähigkeiten. Denn
wenn das künstliche Denkergebnis so gut ist, warum noch selbst denken?
Zumal, wenn andere mittels KI viel bessere Ergebnisse erzielen als man
selbst mit Selbstgedachtem.
Wenn man nun doch KI nutzen möchte, wie vermeidet man, dass das
Selbstwertgefühl dadurch Schaden nimmt? Indem das kognitive Vermögen als
Bestandteil der eigenen Identität aufgegeben oder in seiner Bedeutung
reduziert wird, um möglichen Störgefühlen jede Grundlage zu entziehen. Wir
dürfen uns nicht mit künstlicher Intelligenz messen. Es kommt nicht mehr so
sehr darauf an, zu wissen und selbst zu denken, sondern auf das Ergebnis,
das ich mit Hilfe der KI erziele.
KI ist daher das ideale Tool für Menschen, die nach dem Prinzip leben,
möglichst hohe Erwartungen an das Umfeld zu stellen, ohne dafür selbst viel
Einsatz zu bringen. Mit dieser Einstellung kann man sich auch über eine
gute Zensur freuen, selbst wenn sie durch die Nutzung von KI ermogelt
wurde, statt durch den mühevollen und zeitintensiven Einsatz der eigenen
Fähigkeiten. Der kurzfristige Erfolg in der Außenwelt gilt dann mehr als
die eigene Entwicklung und Leistung. Gedankliche Arbeit wird zum einfachen
Konsumgut, zu einer Anstrengung, die sich leicht vermeiden lässt.
## Nicht die KI macht uns dumm
Es gibt grundsätzlich zwei Arten, KI zu nutzen: Entweder, sich von ihr
unterstützen und sich Rohmaterial bereitstellen zu lassen, das dann
zunächst kritisch geprüft, aus anderen Quellen ergänzt und schließlich von
einem selbst weiterverarbeitet wird. Oder die KI-generierten [4][Inhalte
als das Bestmögliche, Richtige und Wahre zu übernehmen,] ohne es selbst
versucht zu haben, ohne eigene Bemühungen einzubringen, ohne zu
hinterfragen und eigene Quellen zu recherchieren. Und ohne die Mühen,
Inhalte zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.
Gewissermaßen der Ansatz Selbstwirksamkeit gegen den Ansatz
Selbstentmündigung.
Nur, wo liegt eine klar erkennbare und handlungsleitende Grenze zwischen
beiden Ansätzen? Wie mit der Ambivalenz zwischen „Selbst denken“ und „an…
delegieren“ umgehen? Künstliche Intelligenz spinnt ein weitreichendes Netz
der Bequemlichkeit für jeden von uns. Und das Risiko, sich darin zu
verfangen, wächst mit der alltäglichen Normalität, künstliche Intelligenz
zu nutzen. Alle machen es. Jeden Tag erfährt man aus dem Freundeskreis
einen neuen Anwendungsfall für künstliche Intelligenz, und man spürt den
Stolz des Anwenders. Und wir leisten gerne Kompetenzverzicht im Angesicht
der technischen Überlegenheit.
Daraus wird aber auch deutlich, dass nicht KI dumm macht und einen
regressiven Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung haben kann,
sondern unsere – zumeist unbewusst getroffene – Wahl, sie gedankenlos,
unreflektiert und viel zu häufig zu benutzen. Neue Technologien zu
entwickeln ist eine Herausforderung. Die weit größere Herausforderung für
uns Menschen besteht jedoch in der Regel darin, technische Innovationen
sinnvoll zu nutzen, was nicht zuletzt auch bedeutet, sich der Nutzung zu
widersetzen und klare Grenzen dafür zu ziehen. Wie schlecht wir darin sind,
zeigen unzählige Beispiele, welchen weitreichenden negativen Effekte
digitale Technologien für einzelne Nutzer wie die Gesellschaft als Ganze
haben kann.
Das Outsourcing des Denkens ist keine effiziente Modernisierung, sondern
ein Angriff auf das, was uns innerlich wachsen lässt. Dabei ist das Denken
kein rein neurologischer Vorgang, bei dem Nervenzellen elektronische
Impulse versenden. Es ist eng verwoben mit unserer
Persönlichkeitsentwicklung. Die Fähigkeit zu zweifeln, zu irren, neu zu
justieren – all das formt nicht nur unseren Verstand, sondern auch unseren
Charakter.
So wie soziale Plattformen hochoptimierte Zeit- und Aufmerksamkeitsräuber
sind, nehmen wir uns mit jedem Rückgriff auf künstliche Intelligenz Raum
für das, was Hannah Arendt „Denktätigkeit“ nannte: das unablässige
Hinterfragen, das produktive Zweifeln, das Aushalten von Unsicherheit und
Widersprüchen. Doch gerade darin liegt die Essenz des Menschseins.
Ohne kritisches Denken verkommen wir zu Konsumenten vorgefertigter
Meinungen und kuratierter Informationen, werden empfänglicher für
Beeinflussung und immer abhängiger von externen Entscheidungshilfen. Wer
das Denken auslagert, lagert seine eigene Entwicklung und Identität in
Teilen gleich mit aus und macht sich zum Zuschauer der eigenen
Entmündigung.
13 Sep 2025
## LINKS
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[3] /KI-und-der-Gedankenstrich/!6105651
[4] /Die-KI-als-freundlicher-Zensor/!6103971
## AUTOREN
Udo Kords
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Kolumne Feed Interrupted
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