| # taz.de -- Ex-Bundesverfassungsrichterin: „Vielfalt führt zu besserer Recht… | |
| > Susanne Baer war zwölf Jahre Richterin am Bundesverfassungsgericht. Ein | |
| > Gespräch über Konsenssuche und das Scheitern von Frauke Brosius-Gersdorf. | |
| Bild: „Karlsruhe ist kein Ort für Egos“: Die ehemalige Verfassungsrichteri… | |
| taz: Vor der Sommerpause wurde die Wahl von zwei Richterinnen und einem | |
| Richter für das Bundesverfassungsgericht im Bundestag von der Tagesordnung | |
| gesetzt. Teile der Union waren nicht bereit, für Frauke Brosius-Gersdorf zu | |
| stimmen, obwohl dies fest zugesagt war. Jetzt steht ein neuer Anlauf mit | |
| der Bundesverwaltungsrichterin Sigrid Emmenegger als neuer Kandidatin an. | |
| Meinen Sie, diesmal geht alles glatt? | |
| Baer: Ich hoffe doch sehr, dass alle Beteiligten aus dem Fiasko gelernt | |
| haben und so etwas nicht noch einmal passiert. | |
| taz: Hatten Sie erwartet, dass die Wahl von Brosius-Gersdorf [1][ein | |
| Problem] werden könnte? | |
| Susanne Baer: Nein. Ich habe darauf vertraut, dass es wie in den | |
| Jahrzehnten vorher funktioniert. Bisher waren sich diejenigen, die dafür | |
| Verantwortung tragen, vor allem einig, mit der erforderlichen – und | |
| wichtigen – Zweidrittelmehrheit auch Personen mitzuwählen, die man selbst | |
| nie vorschlagen würde, weil das Gericht von unterschiedlichen Positionen | |
| lebt, die dann zusammenkommen müssen. | |
| taz: Was haben Sie an jenem Freitag Anfang Juli gedacht, als die Wahl | |
| abgesetzt wurde? | |
| Baer: Ich war beunruhigt und verärgert. Ärgerlich ist die schlichte | |
| Frauenfeindlichkeit, die da auch eine Rolle spielte. Beunruhigt war ich | |
| aber wegen der Fahrlässigkeit der Verantwortlichen. Und weil die | |
| Hetzkampagne, die Diffamierung, die Fehlinformationen in sehr | |
| organisierter, massiver Form so verfangen haben. Von denen, die als | |
| Abgeordnete Verantwortung tragen, müssen wir doch erwarten können, dass sie | |
| mit so etwas umgehen. | |
| taz: Hat das Bundesverfassungsgericht, dem Sie selbst auf Vorschlag der | |
| Grünen [2][zwölf Jahre lang angehört] haben, durch die Diskussion der | |
| vergangenen Wochen Schaden genommen? | |
| Baer: Ich sehe bislang keine Anzeichen dafür. Vielmehr hoffe ich eben, dass | |
| man so fahrlässig nicht mehr mit solchen Vorgängen rund um das Gericht | |
| umgehen wird. Dafür spricht, dass sich Ende letzten Jahres ja große | |
| Mehrheiten im Bundestag gefunden haben, um die Resilienz des | |
| Verfassungsgerichts zu stärken. | |
| taz: Können Sie verstehen, wenn Unionsabgeordnete sagen, sie konnten aus | |
| einer Gewissensentscheidung heraus nicht für Brosius-Gersdorf stimmen – | |
| wegen deren Haltung zur Abtreibung? | |
| Baer: Dass eine Partei sagt, eure Kandidatin akzeptieren wir nicht, weil | |
| sie an bestimmten Stellen, die für uns wichtig sind, zu weit geht – das gab | |
| es immer und das ist legitim. Hier irritiert der späte Zeitpunkt; das muss | |
| man viel früher klären. Problematisch ist aber auch, eine Richterwahl als | |
| Gewissensentscheidung zu bezeichnen. Hier geht es um eine | |
| Personalentscheidung für ein hohes Amt in diesem Staat, nicht weniger, aber | |
| auch nicht mehr. | |
| taz: Gegen Frauke Brosius-Gersdorf wurde auch vorgebracht, dass ihre | |
| Haltung zur Abtreibung nicht vereinbar sei mit der geltenden Rechtsprechung | |
| des Bundesverfassungsgerichts. Ist das ein Argument, das Sie gelten lassen? | |
| Baer: Nein. Wenn das ein Kriterium wäre, dann wären viele berühmt gewordene | |
| Richter und Richterinnen nie gewählt worden. Sie hätten dann auch | |
| wissenschaftlich kaum kritisch gearbeitet, denn kritische Reflexion und | |
| innovative Ideen zeichnen ja Forschung aus. Und ein Verfassungsgericht ist | |
| dafür da, die Verfassung in der Zeit zu verstehen. Da sich Dinge stetig | |
| ändern, ist doch völlig klar, dass sich auch das Gericht immer wieder neu | |
| über bereits entschiedene Fragen beugt. | |
| taz: Sie schreiben in Ihrem Buch „Rote Linien“, für ausgewogene | |
| Entscheidungen sei Vielfalt bei der Zusammensetzung sehr wichtig. Warum ist | |
| das so? | |
| Baer: Vielfalt ist immer eine gute Idee, aber das gilt in besonderer Weise | |
| für das Bundesverfassungsgericht, wo wichtige Weichen für die gesamte | |
| Gesellschaft gestellt werden. In den beiden Senaten sitzen je acht Richter | |
| und Richterinnen, und sie haben ganz unterschiedliche Erfahrungen, kommen | |
| aus der Wissenschaft, von den Bundesgerichten oder aus der Anwaltschaft, | |
| oder auch aus der Politik. Es sind Männer und Frauen, sie haben | |
| unterschiedliche Erfahrungen, manche sind die ersten Akademiker in ihrer | |
| Familie. So können sie unterschiedliches Wissen einbringen und finden | |
| unterschiedliche Dinge „normal“. Das hilft, um möglichst viele Aspekte zu | |
| sehen, die für die Entscheidung eines Falles wichtig sind. | |
| taz: Auch mit sehr diversen acht Personen in einem Senat kann man aber | |
| nicht die ganze Vielfalt der Gesellschaft einfangen. | |
| Baer: Zum einen ist da natürlich Luft nach oben. Zum anderen sorgt das | |
| Verfassungsgericht aber auf vielen Wegen dafür, möglichst gut zu verstehen, | |
| worüber es zu entscheiden hat. Dazu gehört die umfangreiche Arbeit hinter | |
| den Kulissen – und die Vielfalt der Richter und Richterinnen sorgt | |
| natürlich auch für eine größere Vielfalt bei der Einladung von | |
| Sachverständigen, die dann gezielt Auskunft geben können. | |
| taz: Die pluralistische Zusammensetzung des Gerichts ist also nicht nur für | |
| die Akzeptanz der Urteile wichtig? | |
| Baer: Vielfalt trägt auch darüber hinaus. Sie führt auch zu besserer | |
| Rechtsprechung. Denn die langen Diskussionen zu acht im Beratungszimmer | |
| leben gerade von der Unterschiedlichkeit, um dann einen Konsens zu finden. | |
| Sogar wenn sich eine Mehrheit abzeichnete, wurde im Senat deshalb weiter | |
| beraten, bis eine Lösung gefunden war, die alle mittragen können. Deshalb | |
| ist die abweichende Meinung bestenfalls selten. Der Ausgleich ist wichtig. | |
| taz: Ist das nicht etwas idealisiert? | |
| Baer: Als kritische Rechtswissenschaftlerin hätte ich das vor meiner Zeit | |
| in Karlsruhe auch gefragt. Umso eindrücklicher ist die Erfahrung dieser | |
| zwölf Jahre. Und ein Kronzeuge ist Jürgen Habermas, der bei seinem Besuch | |
| im Gericht wenn auch ein wenig scherzhaft sagte, es gebe wenig Orte, die | |
| seiner Vorstellung von kommunikativer Deliberation so nahe kämen wie das | |
| Bundesverfassungsgericht. | |
| taz: Es gab aber auch Phasen, in denen das Verfassungsgericht oft mit | |
| knappen 5- zu-3-Mehrheiten entschieden hat. | |
| Baer: Ich hatte wohl auch Glück. Aber ich habe das Verfassungsgericht als | |
| Ort erlebt, in dem alles getan wird für den Konsens. Er ist für die | |
| Akzeptanz wichtig. Und auch der Wille, zu einem Ausgleich zu kommen, gehört | |
| bei den Richterinnen und Richtern dazu. | |
| taz: Muss bei der Wahl von Verfassungsrichter:innen also auch darauf | |
| geachtet werden, dass sie kompromissfähig sind? | |
| Baer: Unbedingt. Manches gibt der Gesetzgeber vor, wie das Mindestalter und | |
| die Qualifikation, aber daneben sind mehrere Sekundärtugenden wichtig. | |
| Karlsruhe ist kein Ort für Egos oder für Glamour. Das Amt bedeutet zwölf | |
| Jahre Kärrnerarbeit und die Bereitschaft zuzuhören, die anderen verstehen | |
| zu wollen, immer im Gespräch zu bleiben. | |
| taz: Wie war das bei Ihnen, als Sie 2010 von den Grünen vorgeschlagen | |
| worden sind? | |
| Baer: Ich nehme an, ich bin wie andere auch über einen längeren Zeitraum | |
| beobachtet worden und über mich wurden Erkundigungen eingezogen. Dann kam | |
| der berühmte Anruf, dann Berichte in den Medien, dann die Wahl. | |
| taz: Und es gab Vorgespräche, auch mit einem Teil der Unionsfraktion. | |
| Baer: Ja, da waren auch viele Skeptiker dabei und sehr gut vorbereitet. Es | |
| ging unter anderem um die Frage, ob die Ehe eine rein heterosexuelle | |
| Veranstaltung sein muss und auch um mein Verhältnis zur Religion. | |
| taz: Auch um den Paragrafen 218? | |
| Baer: Nein. Damals war das nicht hoch auf der Agenda, nicht absehbar, dass | |
| dazu eine Frage anhängig werden würde, und wenn dann nicht im Senat, für | |
| den ich zu wählen war. | |
| taz: Bei der Homo-Ehe hatten Sie vermutlich eine andere Einschätzung als | |
| die meisten Abgeordneten der Union. Warum sind Sie am Ende doch gewählt | |
| worden – mit deren Stimmen? | |
| Baer: Da müssen Sie die Abgeordneten fragen. Später hat mir jemand erzählt, | |
| dass sie die Offenheit, mit der ich auf schwierige Fragen geantwortet | |
| hatte, glaubwürdig fanden, und sie hätten meine Achtung vor der Politik | |
| gespürt, vor dem Parlament. Es erschien ihnen vertretbar, mich mit zu | |
| wählen. Ihnen war wohl klar, dass es nicht um die eigene Präferenz geht, | |
| sondern eben um die Vielfalt der Personen, manche progressiv und manche | |
| konservativ. Allerdings war die Stimmung vor 15 Jahren in Sachen | |
| Gleichberechtigung, Frauen, Diversität und sexueller Orientierung auch eine | |
| andere als heute. | |
| taz: Meinen Sie, Sie würden heute noch mal gewählt? | |
| Baer: Ich hoffe jedenfalls, dass das damals nicht nur ein glücklicher | |
| Ausnahmemoment war. | |
| taz: Als lesbische Frau, als Feministin, als Gender-Studies-Professorin | |
| wären Sie heute vermutlich ein Ziel für eine Kampagne, wie es sie auch bei | |
| Brosius-Gersdorf gegeben hat. Würden Sie dieses Risiko überhaupt eingehen? | |
| Baer: Die Risiken unterscheiden sich, und es ist wichtig, genau hinzusehen. | |
| Eine Genderverschwörung im Bundesverfassungsgericht wurde ja auch schon | |
| behauptet, und als Verfassungsrichterin bin ich auch persönlich angegangen | |
| worden. Aber es ist ein großartiges Amt. Ich würde das also tun. | |
| taz: Ist es überhaupt richtig, dass die Politik über die Besetzung des | |
| Bundesverfassungsgerichts entscheidet? | |
| Baer: Ich kenne keine bessere Alternative. Ein Verfassungsgericht, das | |
| juristisch entscheidet, aber doch in die Politik interveniert, braucht | |
| politische Rückendeckung. Es wäre sonst schwächer legitimiert. Und wie das | |
| deutsche Verfassungsgericht gebaut ist und funktioniert, genießt ja auch | |
| weltweit einen guten Ruf. | |
| 15 Sep 2025 | |
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