| # taz.de -- Medien in Zeiten der Krisen: Raus aus der Erregungsfalle | |
| > Nicht nur „die Politik“ muss in angespannten Zeiten liefern, auch Medien | |
| > sollten das tun. Sechs Ideen für einen konstruktiven Journalismus. | |
| Bild: Fotojournalisten nehmen Friedrich Merz (CDU) bei seiner ersten Pressekonf… | |
| Es kann nur noch besser werden, oder? Nach einem auch politisch verregneten | |
| Sommer scheint die Koalition mit dieser Resthoffnung in den „Herbst der | |
| Reformen“ zu gehen. Unter Journalistinnen, Analysten, Intellektuellen, die | |
| den Raum der öffentlichen Meinung per se kritisch bespielen, zeigen viele | |
| mittlerweile fast schon Beißhemmungen. Was, wenn es dieser Truppe um | |
| Bundeskanzler Friedrich Merz nicht gelingt? Gleichzeitig wird man den | |
| Verdacht nicht los, dass manch einer eine klammheimliche Freude über das | |
| nächste Scheitern verspürt. „Streit in der Koalition“ ist eine Schlagzeil… | |
| die immer geht. Aber geht da nicht mehr? | |
| Journalisten müssen diese Frage an alle richten: an eine Regierung, die | |
| handwerklich besser werden darf und konzeptionell liefern muss. An | |
| Interessengruppen, die überprüfen sollten, wie viel Egoismus in einer | |
| auseinanderdriftenden Gesellschaft noch geboten ist. An die „Menschen im | |
| Lande“, denen wahlweise mehr Bereitschaft zu Veränderungen abverlangt oder | |
| das Recht auf Unzufriedenheit zugesprochen wird. | |
| Was ist eigentlich mit uns selbst, der Presse? Begleiten wir Journalisten, | |
| allen voran jene, die aus der Hauptstadt berichten, die politischen | |
| Debatten so, dass daraus Lust auf mehr erwächst? Oder eher aufs Abschalten? | |
| Tappen nicht auch wir sehr regelmäßig in die Polarisierungs- und | |
| Empörungsfallen, die aus kleinen Problemen scheinbar unlösbare machen und | |
| die jene bestens verteilt haben, die nichts Gutes im Schilde führen mit der | |
| Demokratie? Es gab Zeiten, da erschien Politik so alternativlos, dass jede | |
| mediale Zuspitzung, jede scharfe Schlagzeile wie ein dringend benötigter | |
| Debattenbeschleuniger wahrgenommen wurde. | |
| Heute stehen wir vor der umgekehrten Herausforderung: Eine ordentliche | |
| Portion Kulturkampf, befeuert durch eine in weiten Teilen dysfunktionale | |
| digitale Debatteninfrastruktur, hat die gesellschaftliche | |
| Auseinandersetzungen derart angeheizt, dass die „Profis“ in den Redaktionen | |
| den kühleren Kopf behalten sollten. Medien sind zwar längst nicht mehr die | |
| Gatekeeper über das, was überhaupt in die Öffentlichkeit gelangt. In einer | |
| Zeit, in denen vielen immer klarer wird, wie Insta, X und Tiktok den | |
| Diskurs vergiften, haben sie aber mehr denn je eine neue Aufgabe: Ton und | |
| Fokus von Debatten zu prägen. Kann das gelingen? | |
| Zuallererst braucht es ein neues Selbstbewusstsein, sich von | |
| Themenkonjunkturen zu emanzipieren. Lemminghaft laufen viele in eine | |
| Richtung und leuchten die bestens angestrahlten Probleme weiter aus. Die | |
| Migration ist die Mutter aller Beispiele. Gerade wenn Bots, Fakes und | |
| gezielte Kampagnen wie im Fall der [1][SPD-Kandidatin für das | |
| Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf], Themen laut machen, | |
| braucht es nicht noch die publizistische Verstärkung, sondern antizyklische | |
| Urteilskraft. Journalismus hat mehr denn je die Aufgabe, dahin zu leuchten, | |
| wo kein Licht ist. Das gilt einerseits für Themen. | |
| Es gilt aber – zweitens – auch für Positionen und Perspektiven: Warum | |
| passiert es uns immer wieder, Minderheitenpositionen so schwer zu ertragen? | |
| Diplomatie statt Waffen für die Ukraine? In den ersten Kriegsmonaten hatte | |
| diese Position den Status einer Dissidentenmeinung. Ähnlich verhielt es | |
| sich bei [2][Corona, als Kritiker der Freiheitseinschränkungen allzu | |
| schnell als Querdenker markiert] wurden. Wir brauchen mehr Mut, den | |
| Meinungsraum auch in den Ecken fair auszuleuchten, die unterbelichtet sind | |
| – und die sich anders im Schatten oft ungut weiterentwickeln. | |
| ## Mehr Sachfragen, weniger Machtfragen | |
| Drittens: Weniger Macht-, mehr Sachfragen wagen! Die Auseinandersetzung | |
| über die Sozialreformen lässt sich vielleicht einfacher erzählen, wenn | |
| daraus ein archetypischer Kampf zwischen [3][Friedrich „Gürtel enger | |
| schnallen“ Merz und Bärbel „Bullshit“ Bas] gemacht wird. Wer setzt sich | |
| durch, lautet allzu oft die Frage. | |
| Besser wäre: Was ist eigentlich das Ziel? Wenn Bürgergeld, Rente, | |
| Gesundheit reformiert werden, sollten wir grundsätzliche Fragen zulassen. | |
| Etwa, warum wir so viel Geld für Soziales ausgeben, die Schere in unserem | |
| Land dennoch immer weiter auseinandergeht? Wie spannend wäre es, wenn nicht | |
| reflexhaft die immer gleichen Argumente reinszeniert würden, sondern wir | |
| uns im Zweifel überraschen und überzeugen lassen? | |
| Viertens: Momente der Wahrhaftigkeit erkennen. Nicht alles ist Kalkül in | |
| der Politik, oft ist ein wahres Interesse dahinter, Dinge besser zu machen. | |
| Dies im Zynismus des Betriebs nicht zu vergessen und dabei gleichzeitig | |
| wachsam zu sein gegenüber den Blendkerzen der Symbolpolitik, ist ein | |
| Anspruch, dem am besten Fachjournalisten gerecht werden. Jene, die | |
| Gesetzentwürfe lesen und die langen Linien nachziehen können – und nicht | |
| den Markt der Instant-Kommentierung bedienen. | |
| Fünftens: Von der Perfektionserwartung verabschieden! Kann es Politik | |
| geben, die zugibt, noch nicht die abschließende Antwort zu haben? Eine | |
| Ministerin, die nicht den einen alternativlosen Gesetzentwurf vorstellt, | |
| sondern unterschiedliche Lösungsansätze? Darf ein Spitzenkandidat eine | |
| Debatte anregen über die Beteiligung von Kapitalerträgen an der | |
| Gesundheitsfinanzierung, ohne gleich Freibetragsgrenzen nennen zu können? | |
| Wer das heute wagt, gilt schnell als planlos. | |
| Dabei könnten wir Debatten- und Möglichkeitsräume öffnen, wenn wir uns aus | |
| dem etablierten Katz-und-Maus-Spiel verabschieden, in dem Politik | |
| suggeriert, perfekte Lösungen zu präsentieren, und es der Ehrgeiz von | |
| Journalisten ist, das Gegenteil zu beweisen. | |
| Schließlich: [4][Weniger Drama!] Auf eine Kanzlerwahl, die im ersten | |
| Wahlgang scheitert, folgt nicht das Ende der Demokratie, sondern erst | |
| einmal der zweite Wahlgang. Nicht jede Umfrage muss die Fieberkurve der | |
| Berichterstattung hochgehen lassen. Und nicht jede Krise braucht neue | |
| Superlative. Wenn wir den öffentlichen Raum dauerhaft so bespielen, dürfen | |
| wir uns nicht wundern, wenn es das gerne von Populisten geschürte | |
| Misstrauen stärkt: „Die“ können es nicht. Manchmal stimmt das. Aber so | |
| pauschal? Wir können das besser. | |
| 14 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Korbinian Frenzel | |
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