# taz.de -- Porträt Jazzsaxofonistin Ingrid Laubrock: Musikalischer Freigeist … | |
> Die in New York lebende Saxofonistin Ingrid Laubrock hat den deutschen | |
> Jazzpreis 2025 erhalten. Unerschrocken setzt sie sich gegen Donald Trump | |
> ein. | |
Bild: Ingrid Laubrock an ihrem Signaturinstrument Tenorsaxofon | |
Kein gängiger Titel für ein Jazzalbum: „Contemporary Chaos Practices“, so | |
heißt ein Werk von Ingrid Laubrock, veröffentlicht 2016 – während des | |
äußerst umkämpften Wahlkampfs zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, | |
aus dem Trump damals erstmals siegreich als US-Präsident hervorging: | |
„Contemporary Chaos Practices“, zeitgenössische Chaospraktiken. | |
Auf der musikalischen Ebene drängen sich Strukturen in Laubrocks schnellen, | |
schwindelerregenden Saxofonläufen, laufen über- und gegeneinander, um im | |
nächsten Moment wieder zu zersplittern. Eine polyphone Kathedrale aus | |
scharfkantigen Klangfragmenten entsteht dabei, die die Künstlerin immer | |
wieder mit eleganter Leichtigkeit auffängt. Das Chaos bezeichnet | |
vollständige Unordnung, in der Physik die Unvorhersehbarkeit von Prozessen. | |
Der Musik von Ingrid Laubrock steht das Prozesshafte sehr gut. Die | |
Künstlerin, geboren 1970 in Deutschland und seit 2008 in New York lebend, | |
ist eine der derzeit spannendsten Improvisatorinnen des Jazz und der | |
musikalischen Avantgarde. Bevor sie nach New York ging, verbrachte Laubrock | |
fast dreißig Jahre in London, wo sie sich das Saxofonspiel autodidaktisch | |
beibrachte und über Jahre als Straßenmusikerin durchschlug. | |
## Versatile Künstlerin | |
Neben ihren Arbeiten für Orchester, Ensemble und Duo-Projekten ist Laubrock | |
auch eine gefragte Komponistin und Gastmusikerin. So ist sie etwa bei den | |
Ensembles von Anthony Braxton und [1][John Zorn] in Erscheinung getreten | |
und hat bei einem Quartett-Album [2][des US-Gitarristen Nels Cline (der | |
auch bei der Altrockband Wilco spielt)] mitgewirkt. | |
In Laubrocks Diskografie stehen weit über 30 Solo- und Duoalben, dazu Werke | |
für größere Ensembles. Für ihr rastloses künstlerischen Wirken wurde Ingrid | |
Laubrock in diesem Jahr zu Recht mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet. | |
In der aktuellen Ausgabe des renommierten US-Jazzmagazins Down Beat wird | |
sie gar als „Rising Star“ charakterisiert, als aufsteigender Stern. | |
Im Zoom-Interview bleibt sie erdverbunden im Arbeitszimmer ihrer Wohnung im | |
New Yorker Stadtbezirk Brooklyn. Bei ihr ist es zehn Uhr morgens. Später am | |
Tag will sie noch proben, abends wird sie ein Konzert im Brooklyner Club | |
Roulette geben. | |
## Das Klavier von Prince | |
Der Blick aus ihrem Studio geht in einen grünen Innenhof mit Bäumen, hinter | |
ihr steht ein Klavier, an dem sie komponiert, wenn sie zu Hause ist. Oft | |
jedoch, erzählt sie, gehe sie in das Aufnahmestudio eines Freundes, einen | |
Block die Straße hinunter. Brooklyn Recordings heißt es. Dort stehe ein | |
Flügel, der früher einmal dem Popstar Prince gehörte. An ihm könne sie | |
komponieren, bevor im Studio der Aufnahmebetrieb losgeht. Morgens zwischen | |
sieben und zehn. | |
In Brooklyn lebt Ingrid Laubrock mit ihrem Ehemann, dem US-Schlagzeuger Tom | |
Rainey. Mit Rainey hat sie bereits mehrere Duo-Alben aufgenommen. Es sind | |
intensive, forschende, sehr freie musikalische Dialoge. Zuletzt erschien | |
ihr siebtes gemeinsames Album „Brink“. | |
Hier ist Ingrid Laubrock anders zu hören: Ihr [3][Tenorsaxofon] hat einen | |
warmen, verdichteten Ton, weist eine klare Kontur auf, fließend wie eine | |
Erzählung. Ein weiteres Projekt ist ihr gerade erschienenes Album | |
„Purposing the Air“, eine Vertonung von 60 Koan-Gedichten der | |
afroamerikanischen Dichterin Erica Hunt, die ebenfalls in Brooklyn lebt. | |
## Vier verschiedene Duette | |
Dafür schrieb Laubrock die Musik für vier verschiedene Duette, darunter | |
eines mit der Sängerin Fay Victor, mit der Cellistin Mariel Roberts, dem | |
Gitarristen Ben Monder; mit dem deutschen, seit vielen Jahren in New York | |
lebenden Sänger Theo Bleckmann, mit der Mezzosopranistin Rachel Calloway | |
und mit dem Violinisten Ari Streisfeld. | |
Wie empfindet eine deutsche Künstlerin die aktuelle Situation in den USA? | |
Momentan sind Stiftungen und Stipendien besonders von Kürzungen bedroht, | |
darunter fallen etwa die Budgetkürzungen bei der staatlichen | |
Kulturfördereinrichtung NEA (National Endowment for the Arts), das 2026 | |
sogar vollständig aufgelöst werden soll. Wie nimmt die Jazzszene diese | |
Entwicklung auf? | |
## Fehlende Fördermittel | |
Dazu sagt Laubrock: „Alle sind betroffen. Obwohl die NEA ja eigentlich nur | |
ein schmales Budget hat, hilft sie sehr vielen kleinen Organisationen, die | |
wiederum Jazz fördern oder experimentelle Neue Musik unterstützen. Wenn | |
selbst diese Förderung auch noch wegfällt, müssen viele Initiativen | |
schließen.“ | |
Als Beispiele nennt sie das Brick Theater im Viertel Williamsburg von | |
Brooklyn und das New Yorker „Vision Festival“: „Dafür wurden nicht nur | |
Fördergelder gestrichen, sondern bereits genehmigte Geldsummen | |
zurückverlangt. Daraufhin mussten sie ihre Ticketpreise von 75 auf 100 | |
Dollar erhöhen und viele Plätze blieben leer.“ | |
[4][Auch Unterrichtsjobs für Musiker*innen werden aus ihrer Sicht durch | |
die Kürzungen wegfallen.] Sie selbst unterrichte gelegentlich an der New | |
School of Social Research einen Kompositionskurs und war zusätzlich im | |
Lehrkörper der Columbia University. „Das letzte Jahr verlief sehr | |
chaotisch. | |
Man kann jetzt nicht mehr in den Campus hinein, ohne sich vorher | |
auszuweisen. Alle sind äußerst vorsichtig, denn die Einwanderungsbehörde | |
ICE (United States Immigration and Customs Enforcement) durchkämmt auch das | |
Universitätsgelände, um Studierende mit Migrant*innen-Status aufzuspüren | |
und zu verhaften.“ | |
## Gesichtserkennung per Software | |
Ingrid Laubrock selbst nimmt unerschrocken an Demonstrationen in New York | |
gegen die repressive Politik der Trump-Regierung teil, zusammen mit | |
befreundeten Musiker*innen wie dem Bassisten William Parker. Die | |
54-Jährige kennt jedoch auch viele, die selbst friedliche Bürgerproteste | |
aktuell als zu gefährlich empfinden: „Eine ganze Reihe von meinen | |
Freundinnen und Freunden, die mit einem Künstlervisum oder mit einer Green | |
Card in den USA leben, demonstrieren wegen der Gesichtserkennung gar nicht | |
oder wenn, dann nur mit Maske. Trump geht uns wirklich an die Existenzen. | |
Das ist ja nicht nur Gerede bei ihm, sondern die Deportationen der ICE | |
können alle treffen.“ | |
Hat sie das Gefühl, dass sich die ungute aktuelle Stimmung bereits | |
musikalisch-künstlerisch ausgewirkt hat? „Es ist gerade eine allgemeine | |
Unruhe spürbar. Das merke ich auch bei mir selbst, dieses ohnmächtige | |
Gefühl, gegen die Repressionen machtlos zu sein. Das ist einfach wahnsinnig | |
deprimierend. Ein sehr wichtiger Teil von unserer Musik ist ja direkter | |
Ausdruck.“ Jedoch denkt Ingrid Laubrock nicht daran, die USA zu verlassen. | |
„Wir haben hier unsere Existenz aufgebaut, und im Gegenteil sehe ich es | |
auch jetzt gerade als die Zeit, in der man bleiben muss, um zu | |
demonstrieren und Zeichen gegen die Lage zu setzen.“ | |
Als Chaospraxis, als Strategie gegen das Unvorhersehbare. | |
28 Aug 2025 | |
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