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# taz.de -- Die Wahrheit: Wolfsburger Steinzeitfantasie
> Endzeitstimmung bei den Volkswagenwerken: Wie der kürzlich verkündete
> Stellenabbau die Belegschaft beschäftigt und in alte Zeiten
> zurückversetzt.
Bild: Neuer Job für die Zukunft: Steinzeitwerkzeugmacher
„Uck! Uck!“, ruft Betriebsrätin Janina Müller den Werktätigen zu und rec…
einen kiloschweren Schraubenschlüssel in die Höhe. Manche der ehemaligen
VW-Mitarbeiter sind in die Felle eigenhändig erlegter Haustiere gehüllt,
andere stecken noch im zerschlissenen Blaumann, obwohl ihre Stellen im
Wolfsburger VW-Werk genau wie die Jobs von 51.000 anderen Kollegen in der
deutschen Automobilindustrie kürzlich gestrichen wurden.
Der Aderlass am Kfz-Produktionsstandort Deutschland ist enorm, eine
vollständige Deindustrialisierung des Landes kaum noch aufzuhalten. Auch
ein Innovationssprung in die E-Mobilität oder zu alternativen
Antriebstechniken wird hierzulande nicht gelingen: Deutschlands frustrierte
Ingenieure und Maschinenbauer haben längst umgeschult. Dem
industriepolitischen Retro-Trend der Bundesregierung folgend sind sie
Küfer, Köhler, Abdecker oder Wagner geworden. Zu Höherem dürfte das marode
Bildungssystem auch ihre Nachfolger kaum mehr qualifizieren.
Mercedes-Benz will künftig nur noch Planwagen herstellen, Porsche hat die
komplizierte Entwicklung eigener Batterien für E-Autos zugunsten der
wesentlich simpleren Entwicklung von Porsche-Sonnenbrillen aufgegeben, in
Wolfsburg liefen zuletzt nur noch Currywürste von den Bändern.
Vernichtet werden nicht nur berufliche Existenzen, eine ganze Zivilisation
droht zu verschwinden. Die Autostadt Wolfsburg, 1938 in die
menschenfeindliche Tundra Niedersachsens geklotzt, soll sogar ganz
zurückgebaut und der Natur zurückgeben werden.
„Die ganze Chose war ja ohnehin eine Nazi-Idee“, gibt CDU-Oberbürgermeister
Dennis Weilmann zu, während er seinen Ochsen an den allerletzten Käfer mit
Brezelfenster anschirrt. Ihm kommt die Aufgabe zu, die Zivilbevölkerung
Wolfsburgs vierzig Jahre durch die Lüneburger Heide zu führen, bis sie das
gelobte Land des Heide-Parks Soltau erreicht. Den automobilen
Fertigungszentren Zuffenhausen und Köln-Niehl drohen ähnliche Schicksale:
Das Porsche-Quartier in Stuttgart soll als Kalksteinbruch genutzt, die
heiligen Hallen der Ford-Werke als Rungholt des Industriezeitalters im
anschwellenden Rhein versinken.
## Wölfe statt Investoren
Unter dem Slogan „Wolfsburg muss wieder Wolfsburg werden“ werden in
Niedersachsen hungrige Wolfsrudel statt Investorenrudel aus dem Ausland
angeworben. Die Raubtiere sollen die riesigen Herden entlaufener Autowerker
dezimieren, bevor sie in einer Stampede die Palisaden der nahen
Landeshauptstadt Hannover überrennen können.
Doch noch findet sich die ausgewilderte VW-Belegschaft jeden Morgen an
ihrem ehemaligen Arbeitsplatz ein. Statt Mittelklassefahrzeuge an modernen
Fertigungsstraßen zusammenzuschrauben, fischen die hochqualifizierten
Facharbeiter im Mittellandkanal nach Plötzen oder versuchen, ein Rudel
Wildschweine durch den Dufttunnel des Künstlers Ólafur Elíasson ins „Audi
House of Progress“ zu jagen.
„Ucka-brah! Bröck-bröck!“, kollert Betriebsrätin Müller, als sie die
Jagdbeute nach strengem Proporz verteilt. „Im Namen der Belegschaft fordert
sie einen geordneten Übergang von der postindustriellen
Dienstleistungsgesellschaft zu einer Jäger-und-Sammler-Gesellschaft mit
Eintagewoche bei vollem Lohnausgleich“, übersetzt ihre Pressesprecherin,
die als Liaison zur überwundenen Industriemoderne dient. Zum
apricotfarbenen Kostüm tragt sie eine Kette aus blutigen Wolfszähnen, und
anders als die überzeugt Neo-Primitive Müller hat sie ihre Sprachfähigkeit
noch nicht endgültig eingebüßt.
„Chuärch! Chröchröchrö!“, verteidigt sich Mechatronikerin Müller, die …
dem dritten Bildungsweg Schamanismus und animistische Theologie studiert
hat.
## Steinzeit für die Umwelt
„Im Gegenteil. Subsistenzwirtschaft ist nicht nur gut für die Umwelt“,
übersetzt die Pressesprecherin. „Auch in Sachen Bürokratieabbau sind
illiterate Stammesgesellschaften ganz weit vorne. Außerdem haben wir
Patriarchat und Kapitalismus überwunden, als wir uns in einer Urabstimmung
gegen die Einführung von Ackerbau und Viehzucht entschieden haben. Und das
alles innerhalb einer einzigen Woche.“
Das gibt uns natürlich zu denken. War die neolithische Revolution
vielleicht doch ein Fehler? Haben uns Errungenschaften wie
Metallverarbeitung, Markus Lanz und Labubus wirklich weitergebracht?
Nach einem köstlichen Wildschweinmahl in der Versammlungshöhle werden wir
verabschiedet. Ein zurückgelassener Manager wird zu unseren Ehren geopfert,
Betriebsrätin Müller bietet uns gestenreich Festanstellungen als Lustknaben
oder Wolfsköder in ihrer Horde an, aber wir lehnen schweren Herzens ab.
Immerhin müssen wir der zivilisierten Welt von der Zeitenwende am
Industriestandort Deutschland berichten, bevor auch unsere Sprachfähigkeit
… Uck! Uck!
2 Sep 2025
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Volkswagen
Arbeitnehmer
Steinzeit
Freibad
Hexenverfolgung
Kolumne Die Wahrheit
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