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# taz.de -- Die Wahrheit: Crashkurs mit Teufelsmalen
> Wissenschaftliche Anleitung für eine Hexenjagd auf linksradikale
> Richterinnen und ähnliches versifftes Geschmeiß. Eine Visite in Potsdam.
Bild: Die Zeichen und die Hexen sind einfach überall
„Schauen Sie genau hin!“, flüstert die Kursleiterin und weist auf eine
Szene im kleinen Park gegenüber, die weniger sensibilisierten Betrachtern
vielleicht als bürgerliche Idylle erscheinen würde. Eine junge Mutter
steckt ihrem Sohn Apfelschnitze in den Mund. Der Dreikäsehoch verzieht das
Gesicht, wackelt zum nächsten Busch und spuckt den Mundinhalt ins Gestrüpp,
wo ein kleiner Hund ihn aufleckt, bis er von seinem Herrchen
zurückgepfiffen wird. „So werden konspirativ linke Bazillen verbreitet“,
behauptet Johanna-Maria von Sonnenstein.
Jeden Sonntagnachmittag lädt die adelige Extremismusforscherin und
Lebensschützerin politisch Interessierte zur Feindbeobachtung in eine
eigens angemietete Beletagewohnung im Holländischen Viertel der
brandenburgischen Landeshauptstadt, um Linksextreme auf freier Wildbahn zu
beobachten.
„Das hier ist der Fortgeschrittenenkurs“, erklärt Sonnenstein. „Wir spü…
versteckte Radikalmarxisten auf, die sich bürgerliche Tarnexistenzen
aufgebaut haben. Etwa als Hochschullehrerin für öffentliches Recht in
Potsdam, nur mal als rein zufällig gewähltes Beispiel.“
Denn wo der naive Konservative die Mitte der Gesellschaft durch einen
durchgentrifizierten Bezirk flanieren sieht, identifiziert die Expertin mit
sicherem Blick woke Terrorbestien und kulturmarxistische Schläferzellen.
## Verächtliches Augenrollen
„Aber die Frau sieht doch ganz adrett aus, und der Herr mit Hund hat gerade
noch die FAZ gelesen“, wendet eine Teilnehmerin ein, für die Kursleiterin
Sonnenstein nur verächtliches Augenrollen übrig hat. „Typisch
Merkelianerin“, schnaubt sie. „Auf dem linken Auge betriebsblind.“
„Das stimmt wohl“, gibt die CDU-Bundestagsabgeordnete kleinlaut zu. „Ich
hatte zunächst auch nicht erkannt, dass Frauke Brosius-Gersdorf eine
linksradikale Aktivistin ist, als sie zur Wahl für das
Bundesverfassungsgericht vorgeschlagen wurde. Ich hielt sie für eine
anerkannte Rechtswissenschaftlerin mit eher liberalen Positionen, bis ich
täglich 37.000 besorgte Hass-E-Mails bekam. Die Frau sieht ja auch total
bürgerlich aus. Wie hätte ich da ihre extremistische Disposition erkennen
können? Geäußert hat sie die ja nie.“
„An der Schädelform!“, triumphiert Kraniometrikerin Sonnenstein, die von
ihrem Großvater eine beachtliche Schädelsammlung geerbt hat, die sie aus
rechtlichen Gründen nicht öffentlich zeigen kann. Deswegen behilft sie sich
mit einem Porträt der Kandidatin Brosius-Gersdorf.
„Das abgeflachte Schädeldach weist auf progressiven Schwachsinn hin, die
gewölbten Schläfenknochen auf emanzipative Idiotie. Der typische Schädel
einer fanatischen Kindsmörderin“, erklärt die freiberufliche
Erbgesundheitsberaterin. „Achten Sie einmal selbst auf typische Merkmale.“
Hinter den Scheiben richten die Teilnehmer ihre Ferngläser wieder auf die
Passanten und füllen Beobachtungsbögen aus. Neben der CDU-Abgeordneten, die
von ihrer Fraktion zur ideologischen Nachschulung bei Sonnenstein geschickt
wurde, nehmen an dem Workshop auch verunsicherte Journalisten teil, die
sich die wissenschaftlichen Grundlagen für den rechtsautoritären
Kulturkampf ihrer ehemals konservativen Medienhäuser draufschaffen wollen.
Neben dem Crashkurs in Schädelkunde gibt die Extremismusforscherin auch
Einblick in die theologischen Hilfswissenschaften, die zur Klassifizierung
von Linken entwickelt wurden. Dazu hat sie ein Schaubild mitgebracht, das
sauber zwischen globalistischen Inkuben und sozialistischen Sukkuben
unterscheidet. Ferner werden Fotos von Teufelsmalen herumgereicht – die
Hamartome von Linksextremen ähneln oft Che Guevara, Heidi Reichinnek oder
einem abgetriebenen Fötus, hat Sonnenstein herausgefunden.
## Amtierender Antichrist
„Ist Habeck noch amtierender Antichrist, oder ist er jetzt von Frau
Brosius-Gersdorf abgelöst worden?“, will ein Nachrichtenredakteur wissen.
„Oder muss man in dem Fall Antichristin schreiben?“ Der Mann findet sich
geteert und gefedert am Schandpfahl im Separee wieder.
„Stimmt es, dass man Abtreibungsbefürworter am Schwefelgeruch erkennen
kann?“, will der Vertreter einer katholischer Organisation wissen, der für
den Bamberger Erzbischof Abweichler in den eigene Reihen aufstöbern und –
wenn verfassungsrechtlich möglich – verbrennen soll.
„Nur in geschlossenen Räumen“, hilft Extremistenaustreiberin Sonnenstein
mit ihrer Expertise aus. „Aber Linksradikale werden nass, wenn man sie mit
Weihwasser besprengt. Das ist ein untrügliches Zeichen.“
Nachdem genug radikale Elemente im Stadtbild anhand von Schädelform,
Gangbild und Vogelflug bestimmt sind, bricht die Truppe zu einer Exkursion
auf. Im Feldversuch soll das erworbene Wissen angewandt werden. Einige
Teilnehmer legen FFP2-Masken an, um sich vor der Ansteckung mit linken
Bazillen zu schützen, doch die meisten lehnen Maulkörbe als Symbole des
linken Staatsterrors ab und behelfen sich mit Knoblauchkränzen, Amuletten
und frommen Gesängen.
Der Weg führt die Expeditionsteilnehmer und ihre einheimischen Träger über
die Grenzen der Potsdamer Zivilisation hinaus in die verlotterte
Bundeshauptstadt, wo angeblich noch immer riesige Herden von Linksextremen
durch die überfremdeten Straßen marodieren.
„Dort!“, ruft Johanna-Maria von Sonnenstein, nun standesgemäß im
Safaridress, und reckt die Elefantenbüchse. Schnell ist am Ufer des
Berliner Landwehrkanals eine potenzielle Linksradikale anhand einer vagen
Ahnung und einer Pigmentstörung in Form eines Gendersternchens
identifiziert. Helfer trennen das Exemplar von der Herde und bringen es mit
dem Wurfholz zu Fall. Auch wenn die Frau betont, eine unbescholtene
Touristin aus dem Hessischen zu sein, wird sie an Händen und Füßen gebunden
und der Gerichtsbarkeit zugeführt.
„Kommen wir nun zur Wasserprobe!“, erklärt die Kursleiterin den streng
wissenschaftlichen Prozess. „Wenn die Angeklagte schwimmt, ist sie eine
Linksextreme, geht sie unter, ist dem demokratischen Diskurs Genüge getan.
Dann suchen wir eben eine neue Kandidatin und wiederholen den Prozess.“
21 Jul 2025
## AUTOREN
Christian Bartel
## TAGS
Hexenverfolgung
Frauke Brosius-Gersdorf
Konservative
Volkswagen
Freibad
Kolumne Die Wahrheit
Schattenwirtschaft
Grönland
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