# taz.de -- Die Wahrheit: Grünspan im Eismeer | |
> Immer mehr Länder fordern geografische Anonymität und möchten mit | |
> sofortiger Wirkung von der international regulären Weltkarte gestrichen | |
> werden. | |
Grönland?“, fragt der dänische Außenminister Lars Løkke Rasmussen | |
demonstrativ verwundert. „Ich kenne keine arktische Landmasse dieses | |
Namens, da oben ist eigentlich nichts als Eismeer. Das sehen Sie doch | |
selber.“ | |
Der Politiker weist auf die brandneue Weltkarte an der Wand des | |
Sitzungssaals „Vitus Bering“ im Udenrigsministeriet in Kopenhagen. | |
Tatsächlich fehlt die größte Insel der Erde beinahe vollständig auf der | |
geografischen Darstellung der Welt, die der Außenminister heute im Namen | |
seiner Regierung internationalen Pressevertretern vorstellt. Lediglich ein | |
winziger Punkt erhebt sich aus dem Polarmeer zwischen Island und Kanadas | |
Norden, wo sich sonst auf handelsüblichen Karten das grönländische | |
Eisschild mit seinen 2,17 Millionen Quadratkilometern erstreckt. | |
Zuvor hatte Dänemark beim europäischen Patentgericht erfolgreich gegen die | |
Mercator-Projektion geklagt. Bei dieser bislang gebräuchlichen Methode | |
werden Regionen in Polnähe stark verzerrt, dass Grönland fast so groß | |
dargestellt wird wie der weitaus geräumigere Kontinent Afrika. Auf der | |
dänischen Darstellung wird die arktische Insel dagegen um das | |
Zweihundertfache verkleinert. | |
„Fake-Geografie weckt Begehrlichkeiten bei Räubern und Einbrechern“, | |
erklärt Minister Rasmussen und zwinkert den anwesenden US-Journalisten zu. | |
„Ein beinahe unbewohntes Eiland ohne strategische Bedeutung und | |
nennenswerte Bodenschätze wirkt auf den geopolitischen Laien dann plötzlich | |
wie eine lohnende Beute. Aber schon der Name Grönland führt in die Irre, da | |
ist ja kaum Land. Ab heute heißt es deswegen Grünspan-Inselchen. Ich hoffe, | |
dass der neue Name bald so selbstverständlich wird wie die Bezeichnungen | |
Golf von Amerika oder Karl-Marx-Stadt.“ | |
Ein Reporter der Nachrichtenagentur AP seufzt und verlässt freiwillig den | |
Saal, der Vertreter der Kalaallit nickt zustimmend. Das Arktisvolk hatte | |
ursprünglich verlangt, ihre grönländische Heimat wie vor den unbedachten | |
Entdeckungsfahrten der Wikinger vollständig von internationalen Seekarten | |
zu streichen, dem Kompromiss aber schließlich zugestimmt. Dafür gestattet | |
Dänemark den Inuit weiterhin den traditionellen Walfang mit der Panzerfaust | |
und Inuit-Kindern die Hatz auf Touristen. | |
## In die festgefügte Welt der Geografie ist Bewegung gekommen | |
Die dänische Initiative ist kein Einzelfall. Seit US-Präsident Trump den | |
Golf dem ungeliebten Nachbarn Mexiko zumindest namentlich entrissen hat und | |
Putin ständig neue russische Oblaste außerhalb der Landesgrenzen entdeckt, | |
ist Bewegung in die festgefügte Welt der Geografie gekommen. Immer mehr | |
Länder melden Änderungswünsche an. | |
Die Landvermesser des bedrohten Taiwan wollen errechnet haben, dass ihre | |
Insel nicht bloß 180, sondern stattliche 1.800 Kilometer vom chinesischen | |
Festland entfernt liegt. Estnische Geologen meinen an der Ostgrenze des | |
pfannkuchenflachen Landes einen für russische Panzer unüberwindlichen | |
Gebirgszug von 8.000 Metern Höhe entdeckt haben. Israelische Siedler dehnen | |
Judäa und Samaria neuerdings bis ins Zweistromland aus, die Aktivisten der | |
Gegenseite wollen Palästina dafür großräumig vom Jordan bis zur Sonnenallee | |
befreit sehen. | |
In magyarischen Schulatlanten überdeckt Orbáns Großungarn das benachbarte | |
Rumänien, Erdoğan lässt im Wochentakt neue türkische Gasfelder in der | |
griechischen Ägäis entdecken. Würden weltweit alle Expansionswünsche | |
berücksichtigt, bräuchte es mindestens einen Zusatzplaneten. Genervt von | |
nächtlicher Ruhestörung durch Invasionsarmeen und den Machtansprüchen | |
lärmender Nachbarn wenden sich viele Länder von der Geografie ab und | |
versuchen ihren Eintrag im Weltatlas zu kündigen. | |
Viele wohlhabende Staaten des Globalen Nordens versuchen auch, | |
klammheimlich von der Landkarte zu verschwinden, um unsichtbar für lästige | |
Bittsteller und Migranten zu werden. Die Festung Europa soll künftig eine | |
Tarnkappe tragen, wenn es nach den Kartografen der EU geht. Auf einer | |
offiziellen Einwanderkarte für die Europäische Union, die afrikanische | |
Flüchtlinge über ihre Möglichkeiten zur legalen Migration aufklären soll, | |
fehlen ausgerechnet die Länder des Staatenbundes. | |
Bislang sind solche eigenmächtigen Eingriffe in die Topografie ein | |
rechtlicher Graubereich. Doch im nächsten Monat wird vor dem | |
Internationalen Gerichtshof in Den Haag über geografische Selbstbestimmung | |
verhandelt. Kroatien lehnt die Bezeichnung „Balkanstaat“ als | |
diskriminierend ab und will künftig als nordwestsüdosteuropäisches Land | |
gelten. | |
„Niemand muss wissen, wo Liechtenstein liegt“, verteidigt ein Anwalt der | |
mutmaßlich im Alpenraum angesiedelten Steueroase das Recht seines Klienten | |
auf geografische Anonymität. „Es reicht, wenn die richtigen Leute unsere | |
Kontonummer haben.“ Angeblich sollen schon Bestechungsgelder an Hersteller | |
von Navigationsgeräten geflossen sein, um neugierige Kleinsparer in die | |
vergleichsweise bettelarme Sparkassenversion Luxemburg umzuleiten. | |
## Auffällig unauffällig verhält sich die Doppelinsel Neuseeland | |
Als Pionier dieser geografischen Camouflage gilt die Doppelinsel | |
Neuseeland, die sich im toten Südwinkel der Welt versteckt hält. Noch bis | |
zum Jahr 1642 entkam das Land aufdringlichen Besuchern aus dem Norden und | |
verhält sich bis heute auffällig unauffällig. Schon der irreführende Name | |
„New Zeeland“ ist geschickt gewählt. Wer würde freiwillig das Remake einer | |
trostlosen holländischen Provinz besuchen? | |
Bis heute bezahlt die diskrete Inselnation dem US-amerikanischen | |
Spielzeughersteller Hasbro Millionen Dollar, damit sie auf dem | |
„Risiko“-Spielfeld nicht verzeichnet wird. Schließlich dient das | |
Strategiespiel als Kaderschmiede für expansionshungrige | |
Nachwuchsimperialisten. Sogar aus dem Werbematerial der | |
Rugby-Weltmeisterschaft ließ sich Neuseeland 2015 tilgen, auch wenn dessen | |
Team die amtierenden Weltmeister stellte. 2019 schleuste der | |
neuseeländische Geheimdienst gar einen Saboteur bei Ikea ein, damit die | |
Insel auf der millionenfach verkauften Weltkarte „Björksta“ gar nicht erst | |
auftauchte. | |
Von solchen Erfolgen ist man in Dänemark weit entfernt. Stattdessen sorgt | |
die Kopenhagener Kartografie-Rochade für neues Ungemach mit den Immobilien- | |
und Landspekulanten im Weißen Haus. Ausgerechnet an der Stelle Grönlands | |
will der amerikanische Seefahrer J. D. Vance eine unbekannte Rieseninsel | |
entdeckt haben. Nachdem die Ureinwohner ausgerottet sind, will er „Ultima | |
Trump“ als Privateigentum seiner Majestät in Besitz nehmen und mit weißen | |
Flüchtlingen aus Südafrika besiedeln. | |
14 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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