| # taz.de -- Die Wahrheit: Brückentag an der A4 | |
| > Jetzt werden republikweit schon Schulklassen herangezogen, um marode | |
| > deutsche Bauwerke zu stabilisieren. | |
| „Die Arbeiterklasse 7c des musischen Zweigs der | |
| Michael-Schumacher-Gesamtschule meldet sich zum freiwilligen Einsatz“, | |
| rapportiert ein bemitleidenswert verpickelter Teenager, den es sonst wohl | |
| kaum im Morgengrauen ins Straßenbegleitgrün ziehen würde. Doch heute | |
| blinzelt der 13-Jährige aus dem rheinischen Pröllrath mit anderen | |
| versetzungsgefährdeten Mitschülern verstört in die aufgehende Sonne. Über | |
| den Halbwüchsigen erhebt sich ein marodes Betonmonster. In den vernarbten | |
| Pfeilern der Brücke liegen verrostete Stahlgitter frei, von der Decke lösen | |
| sich faustgroße Steinbrocken, sobald ein Lkw über das Bauwerk aus den | |
| späten siebziger Jahren braust. | |
| Die Autobahnbrücke „Pröllrather Forst“ der A4 zwischen den Anschlussstell… | |
| Schmickendorf und Rüppelroth Ost ist ebenso kaputt wie die meisten anderen | |
| Autobahnbrücken der extrem autobahnreichen Region, doch das | |
| Infrastruktursondervermögen des Bundes von 100 Milliarden reicht bei Weitem | |
| nicht für alle Instandsetzungen. Rund 16.000 Brücken in Bundeshand sind | |
| laut einer aktuellen Studie baufällig, davon bröckeln konservativ geschätzt | |
| rund 17.000 in der Metropolregion Rhein-Ruhr, die zum allergrößten Teil aus | |
| heruntergekommenen Autobahnkreuzen und -dreiecken besteht. | |
| „Wir haben eine Triage vorgenommen“, erklärt Bundesbrückenmeisterin | |
| Dr.-Ing. Else Rogge-Tetzlaff. „Nur Brücken mit halbwegs solider | |
| Überlebenschance können überhaupt noch reanimiert werden. Alle anderen | |
| sollen als Schmuckruinen reizvolle Landschaftsakzente setzen und die Bürger | |
| zum Nachdenken über die eigene Vergänglichkeit anregen.“ | |
| ## Nur verzichtbare Verkehrsteilnehmer dürfen auf die Brücke | |
| Tatsächlich dürfte kaum etwas lauter „Vanitas!“ schreien als 30 Meter hohe | |
| Trümmer aus minderwertigem Beton, die jeden Moment über dem Betrachter | |
| einzukrachen drohen. Doch noch ist das marode Bauwerk nicht für den Verkehr | |
| gesperrt. „Wir haben eine Triage vorgenommen“, erklärt Rogge-Tetzlaff | |
| erneut. „Nur verzichtbaren Verkehrsteilnehmern wird die gefährliche Passage | |
| überhaupt noch gestattet.“ In der Tat drängeln sich auf der Brücke | |
| auffällig viele Wagen älterer Bauart, in denen Herrschaften ebenfalls | |
| älterer Bauart sitzen. Dazwischen fahren Lieferfahrzeuge aus todgeweihten | |
| Branchen wie Autozulieferung oder Baugewerbe. | |
| Doch gegen die kampflose Aufgabe der Brücke etwa 50 Kilometer hinter | |
| Remagen regt sich Widerstand. Die Einheimischen wollen nicht auf den | |
| einzigen Verkehrsweg verzichten, der ihren Ort mit dem Rest der Welt | |
| verbindet, seit der Bahnhof von Pröllrath 1995 wegen Baufälligkeit gesperrt | |
| wurde. Aber nicht nur deswegen wird das Bauwerk von Freiwilligen aus den | |
| umliegenden Orten in Eigenregie saniert. | |
| „Das Scheißding ist nun einmal unsere einzige Sehenswürdigkeit“, erklärt | |
| Otmar Schönfels die tiefe Verbundenheit der Bevölkerung mit der prägnanten | |
| Landmarke, die sich in kühnem Schwung über ihre Eigenheime zieht. Schönfels | |
| ist wortwörtlich im Schatten der Brücke aufgewachsen. Die Sonne hat der | |
| Pröllrather zum ersten Mal bei einem Schulausflug nach Brühl gesehen, und | |
| eine Welt ohne Motorengeräusche kann sich der Tinnituspatient bis heute | |
| nicht vorstellen. | |
| „Mer losse de Brück in Pröllrath“, kamellt der Heimatverbundene, der den | |
| weitaus häufiger besungenen Dom im benachbarten Köln allerdings nie gesehen | |
| hat, weil die Brücke den Blick verdeckt. Als ehrenamtlicher Polier | |
| überwacht der pensionierte Herrenfriseur die Bauarbeiten – und wirklich | |
| alle packen an. Vorgestern haben katholische Landfrauen aus dem | |
| benachbarten Weiler Pissenich mit Gartenhacken die porösen Fundamente | |
| freigelegt und Begonien in die Baugrube gepflanzt, und gestern hat der | |
| Pröllrather Junggesellenverein einen Sack Zement umgeschmissen und | |
| anschließend Richtfest gefeiert. Heute sollen die Schüler die schadhaften | |
| Pfeiler mit Pappmaché ausbessern und einen Poetry-Slam zum Thema Mobilität | |
| veranstalten. | |
| „Frage nicht, was deine Infrastruktur für dich tun kann – frage, was du f�… | |
| deine Infrastruktur tun kannst“, paraphrasiert ihre Sozialkundelehrerin | |
| Ilka Schänzlein den berühmten Ausspruch John F. Kennedys, mit dem der | |
| Präsident die Amerikaner an ihre Bürgerpflichten erinnern wollte. | |
| „Das fließt alles in die Mitarbeitsnote ein“, versucht Schänzlein | |
| anschließend die Schüler der Michael-Schumacher-Gesamtschule für die | |
| ungewohnte Tätigkeit zu begeistern. „Und zwar fächerübergreifend.“ | |
| Im Kunstunterricht haben die Schüler gelernt, mit Spachtel und Moniereisen | |
| umzugehen, im Sportunterricht haben sie Abseilen und das Klettern mit | |
| Steigeisen eingeübt. Gerade hängen Linus und Murat in schwindelerregender | |
| Höhe und klatschen Papiermasse in die Risse der karstige Betonoberfläche. | |
| Die beiden Schüler haben sich freiwillig für die Arbeiterklasse gemeldet, | |
| um eigene Notendefizite und öffentliche Investitionsdefizite auszugleichen. | |
| „Wenn ich das hier überlebe, habe ich meinen Abschluss so gut wie in der | |
| Tasche“, erläutert Murat, denn die Schule will die Plackerei künftig als | |
| Ersatzdienst zum Unterricht anerkennen. Linus will sogar zum Brigadier | |
| aufsteigen, allerdings muss er dafür ein ehrgeiziges Plansoll erfüllen. Bis | |
| zu den Halbjahreszeugnisse will er seine Bausoldatentruppe mit | |
| zwangsrekrutierten Viertklässlern der Ralf-Schumacher-Grundschule auf | |
| Bataillonsstärke bringen. | |
| ## Äußerst kostengünstige Alternative | |
| „Auf unserer Baustelle lernen die Schüler ganz spielerisch | |
| Eigenverantwortlichkeit und die medizinische Erstversorgung von | |
| Knochenbrüchen“, freut sich Pädagogin Schänzlein, die den Einsatz über Fu… | |
| vom Lehrerzimmer aus koordiniert. Was als lokale Initiative begann, könnte | |
| als kostengünstige Alternative zu immer größeren Sondervermögen für die | |
| verrottende Infrastruktur schon bald das Interesse der Bundespolitik | |
| wecken. | |
| Immerhin hatte sich CDU-Chef Friedrich Merz noch im Wahlkampf zu einer | |
| allgemeinen Dienstpflicht „bekannt“, auch wenn der alte Faulpelz sicher nie | |
| selber Hand anlegen wollte. Mit dem christdemokratischen Subbotnik sollte | |
| vielmehr die Jugend den „inneren Zusammenhalt“ einer Gesellschaft fördern, | |
| die gern auf ausländische Fachkräfte und Vermögensteuer verzichten möchte. | |
| In einer solchen Gesellschaft muss gemeinnützige Kinderarbeit aber eben | |
| erst einmal für den inneren Zusammenhalt von Beton sorgen. | |
| 12 May 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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