| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Literaturfledderer | |
| > Wenn selbst das Buch der Buchpreisgewinnerin derzeit nicht gedruckt | |
| > vorliegt, dann muss der Inhalt eben mit Laiendarstellern nachgespielt | |
| > werden. | |
| Um die regelbasierte Ordnung der Welt ist es nicht gut bestellt, besonders | |
| die Grenze zwischen Fiktion und Realität wird ständig überrannt. Nicht mal | |
| sauber erfundene Belletristik darf unbehelligt zwischen Buchdeckeln hocken | |
| bleiben – auch sie muss sich der bescheuerten Wirklichkeit öffnen. Als wäre | |
| das autofiktionale Brackwasser auf dem Buchmarkt nicht trüb genug, können | |
| sich nun auch Laien in unbescholtene Fiktionen hineinschreiben lassen. | |
| Eine Digital-Druckerei organisiert mit „personalisierten Romanen“ | |
| Kaffeefahrten in gemeinfreie Klassiker und pfuscht dabei in den Texten | |
| herum. Mit bis zu zehn befreundeten Raubgräbern darf man dann den „Schatz | |
| im Silbersee“ suchen und Karls Mays Leiche schänden. Sogar in Kafkas | |
| unvollendeten Roman kann der gewissenlose Kunde acht Proceßbeobachter | |
| entsenden. | |
| Die Autoren dieser zum Umschreiben freigegebenen Bücher sind längst | |
| mausetot, so dass niemand klagt, wenn der eigene Schwippschwager statt | |
| Henry Baskerville das Anwesen in Dartmoor erben soll. In einem digitalen | |
| Manuskript sind Namen und Rollen schnell ausgetauscht, und noch der größte | |
| Unfug ist im Handumdrehen ins Werk gesetzt. | |
| Ein einzigartiges Geschenk für unsere Lieben sei der personalisierte Roman, | |
| behaupten die Literaturfledderer. Dabei braucht Verwandtschaft wirklich | |
| keinen Kafka, um sich kafkaesk zu betragen. Mit Molières umbesetztem | |
| „Geizhals“ ließe sich immerhin subtile Kritik an allzu langlebigen | |
| Erblassern im Familienkreis formulieren. Auch dem Junggesellenabschied wäre | |
| mit einer „Reise ans Ende der Nacht“ statt nach Mallorca ein verdient | |
| schockierendes Denkmal gesetzt. Aber wäre „American Psycho“ mit dem | |
| zwielichtigen Cousin in der Hauptrolle noch eine passende Würdigung seines | |
| Charakters oder schon ein Hinweis an Strafverfolgungsbehörden? | |
| Literatur ist eben kein Kindergeburtstag. Von einer illustrierten | |
| Familienausgabe der „120 Tage von Sodom“ ist jedenfalls abzuraten, und | |
| Nabokovs „Lolita“ ist sicher kein unumstrittenes Ziel für einen | |
| Vater-Tochter-Ausflug mit der Kita. | |
| Größere Chancen darf sich die Reenactment-Literatur mit Laiendarstellern | |
| auf dem analogen Notstandsgebiet des Buchmarkts ausrechnen. Wegen chronisch | |
| unterbesetzter Druckereien ist ausgerechnet Dorothee Elmigers just | |
| buchpreisgekrönter Roman „Die Holländerinnen“ schwer auf Papier erhältli… | |
| Statt auf das E-Buch auszuweichen, habe ich die Handlung ein paar | |
| befreundeten Niederländerinnen grob geschildert, die für die | |
| Originalfiguren einspringen werden. Aufgeführt wird das Werk nicht im | |
| Dschungel Panamas, sondern in unserem Vorgarten. | |
| Aber das muss reichen, in der bescheuerten Wirklichkeit ist lärmendes | |
| Mitmachen bekanntlich das Allerwichtigste. Für die stille Kontemplation | |
| gibt es ja die feine Fiktion zwischen den Buchdeckeln. Jedenfalls gab es | |
| die, bevor auch dort alle mitmachen mussten. | |
| 21 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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