| # taz.de -- Die Wahrheit: Smartphones aus Rüben | |
| > Am Black Friday sind heuer leere Verpackungen prestigeträchtiger Artikel | |
| > hochgefragt. Neues vom Kampftag der Verbraucherklasse. | |
| Bild: Hochwertige Kartons sind zur Zeit der absolute Renner | |
| „Toll! Von Rüben kann ich gar nicht genug bekommen!“, juchzt Cheyenne-Luise | |
| Wöhrmann, als sie den Grabbeltisch mit dem Wurzelgemüse durchwühlt, während | |
| zahlungskräftigere Kunden den Elektromarkt am Black Friday wie gewohnt mit | |
| Flachbildschirmen und Kaffeevollautomaten verlassen. | |
| Der Kampftag der Verbraucherklasse läutet traditionell das | |
| Vorweihnachtsgeschäft mit seinen einzigartigen Sonderangeboten ein, die | |
| ebenso am darauf folgenden Manic Monday, dem Ruby Tuesday, dem Wacky | |
| Wednesday und den anderen Tagen der Black Week gelten, bis die Preise im | |
| heißen Weihnachtsgeschäft des Frantic December noch einmal heruntergesetzt | |
| werden. | |
| Im dritten deutschen Rezessionsjahr fällt das Shoppingevent mit seinen | |
| epischen Rabattschlachten und pittoresken Krawallen in der Kassenschlange | |
| für manche Kunden jedoch etwas weniger opulent aus. Damit auch | |
| Unterbetuchte die höchsten kapitalistischen Feiertage des Jahres begehen | |
| können, hat der Einzelhandel seine Angebote anpassen müssen. | |
| Der Elektromarkt bietet zum Beispiel neben den hochwertigen Highend-Geräten | |
| auch günstigere Attrappen aus Sperrholz oder Nordkorea an. Manche Kunden | |
| wiederum möchten bloß die leere Verpackung eines prestigesträchtigen | |
| Artikels von Apple oder Sony unter den neidischen Augen der Nachbarn nach | |
| Hause tragen. Ein Markenkarton ist deswegen schon für fünf Euro und ein | |
| blaues Auge zu haben. | |
| Für Verbraucher, die am Black Friday ein gänzlich kostenloses | |
| Nahkampferlebnis suchen, hat Marktleiter Rüdiger Dorsen eine Kiste Rüben in | |
| den Eingangsbereich geschoben. Keine zwei Minuten nach Marktöffnung ist der | |
| Tisch wie leer gefegt, nur ein Blutfleck erinnert noch an das sinnlose | |
| Scharmützel. | |
| „Aus den Rüben schnitze ich den Kindern täuschend echte Handys ohne | |
| Vertragslaufzeit“, erklärt die alleinerziehende Wöhrmann, die mit ihren | |
| vier Kindern zur Miete im Auto ihres Ex-Mannes wohnt. „Das Geld sitzt | |
| einfach nicht mehr so locker“, gibt Marktleiter Dorsen zu, während er einen | |
| Goldzahn aus dem Mund eines Mittfünfzigers bricht, der sich für einen | |
| Stabmixer im Sonderangebot entschieden hatte. Um die grundgesetzlich | |
| verankerten Konsumwünsche der Bürger zu erfüllen, werden in den meisten | |
| Geschäften neben Zähnen auch Angehörige, Haustiere und Organe in Zahlung | |
| genommen. | |
| „Zum Weihnachtsgeschäft bieten wir maßgeschneiderte Lösungen für alle | |
| Kunden an“, beruhigt der Elektromarktleiter. Wir reden mit einem | |
| Sechzehnjährigen, der sich für eine neue Gamingkonsole in | |
| Schuldknechtschaft begeben will. „Wenn die nächste Generation rauskommt, | |
| bin ich vielleicht schon wieder draußen“, hofft der Realschüler, bevor er | |
| den Wagen besteigt, der ihn in die Erzgruben bringt. | |
| Doch nicht alle Kunden können am Black Friday ihre Körper oder ihre | |
| Freiheit verkaufen. Manche sind einfach nicht attraktiv genug, haben noch | |
| Anschlusstermine oder müssen kleine Kinder betreuen. Auch Cheyenne-Luise | |
| Wöhrmann entscheidet sich gegen den SuperKidneyDeal. Ihre Niere hat die | |
| vierfache Mutter bereits im letzten Jahr für einen Geschirrspüler in | |
| Zahlung gegeben. | |
| Außerdem bezieht die Fünfunddreißigjährige ihre Weihnachtsgeschenke wie die | |
| meisten Verbraucher längst aus dem Internet. In der Familienkutsche hat die | |
| Aufstockerin jetzt sogar einen Logistik-Hub für die Sendungen der gesamten | |
| Nachbarschaft eingerichtet. | |
| „Weil es keine Betreuungsangebote gab, war ich viel zu Hause. Und da wird | |
| man natürlich zum Freiwild für Paketboten“, erzählt Wöhrmann, der die | |
| postalischen Irrläufer eine Karriereoption eröffnet haben. Schon Ende | |
| November ist ihr Kofferraum randvoll mit Bestellungen, die sie für | |
| Nachbarn, deren Familien und Freunde, aber auch für Menschen aus anderen | |
| Vierteln, Städten oder Ländern entgegengenommen hat. | |
| ## Rund 200 verzweifelte Paketboten | |
| „Höchstens 80 Prozent der Päckchen werden wieder abgeholt“, erklärt die | |
| frischgebackene Versandfachfrau, die in der heißen Phase des | |
| Weihnachtsgeschäfts täglich von etwa 200 verzweifelten Paketboten ohne | |
| Sprach- und Ortskenntnisse aufgesucht wird, um mit einem unleserlichen | |
| digitalen Kringel den Erhalt einer Sendung zu quittieren. | |
| „Die Schwierigkeit besteht darin, verderbliche Ware, lebende Tiere und | |
| Bomben auszusortieren, bevor sie stinken oder explodieren können. Den Rest | |
| verkaufe ich im Internet als generalüberholte Ware auf | |
| Refurbished-Portalen, wo sie dann gleich wieder versendet wird. Bei | |
| wirklich wertvollen Sendungen ist aber auch mal ein saftiges Lösegeld | |
| drin.“ | |
| Auf die Kampfangebote vom Elektromarkt ist die aufstrebende Unternehmerin | |
| bald sicher nicht mehr angewiesen. Aber wie die meisten Menschen unter | |
| vierzig besucht Cheyenne-Luise Wöhrmann das Weihnachtsgeschäft im | |
| stationären Handel nur noch aus nostalgischen Gründen. „Für mich kommt erst | |
| Festtagsstimmung auf, wenn ich mich wie meine Ahnen und Urahnen in einem | |
| total überfüllten Laden um irgendeinen Scheiß kloppen kann, den ich | |
| garantiert nicht brauche. Warum also nicht um Rüben?“, fragt sie lachend | |
| und wischt sich das Blut von der Lippe. | |
| 28 Nov 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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