Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 97-Jährige über Arbeit mit Obdachlosen: „Mir ist der Respekt wi…
> Annemarie Streit kümmert sich in Hannover seit über 40 Jahren
> ehrenamtlich um Obdachlose. Die 97-Jährige denkt gar nicht daran, damit
> aufzuhören.
Bild: Annemarie Streit strickt gern und viel und verschenkt die Stulpen an obda…
taz: Frau Streit, wann hatten Sie zum ersten Mal Kontakt zu obdachlosen
Menschen?
Annemarie Streit: Ich bin eigentlich jeden Tag in der Innenstadt gewesen,
und in Hannover sitzt oder steht ja überall jemand. Da kommt man schnell in
Berührung.
taz: Ich wäre unsicher, ob das für alle gilt, die Obdachlosen begegnen.
Streit: Ich spreche sie ja an. Aber ich würde niemanden ausfragen, was er
vorher im Leben gemacht hat. Mir ist der Respekt wichtig. Ich habe die
Leute immer gesiezt und nur geduzt, wenn sie das von sich aus wollten. Es
gibt natürlich auch welche, die nicht angesprochen werden wollen, und das
muss man respektieren.
taz: Ist dieses Interesse etwas, was Ihnen Ihre Eltern mitgegeben haben?
Streit: Mein Vater war ein sehr bekannter Mann, wir hatten einen
riesengroßen Bekanntenkreis. Er war in der Zementindustrie tätig und der
Betonpapst in Deutschland. Da gab es dann auch viele, mit denen man nicht
gern zu tun hatte, die arrogant waren und Obdachlose als Kriminelle
einstuften. Damit kann ich überhaupt nichts anfangen.
taz: Ich hänge noch an dem, was Sie gesagt haben, dass man natürlich in ein
Gespräch mit den Obdachlosen käme. Wie war das bei Ihnen, in was für ein
Gespräch sind Sie da gekommen?
Streit: Es hat damit angefangen, dass ich von Weihnachten noch einen
Stollen hatte. Und da ich zur Kriegsgeneration gehöre, werfe ich absolut
nichts weg. Also habe ich den Stollen mit in die Stadt genommen, und da saß
jemand vor dem Kaufhaus und strickte, um sich ein bisschen Geld zu
verdienen. Ich habe ihn gefragt, ob er Stollen mag, und dann sind wir ins
Gespräch gekommen.
taz: Wie ging es von da aus weiter?
Streit: Ich habe ihn gefragt, was er gebrauchen kann. Er bekam von meinem
Bruder eine Lederjacke, und so ging es weiter. Mein Bruder soll nicht
unerwähnt dabei bleiben, er hat sich bis zu seinem Tod um Obdachlose
gekümmert. Er war Frühaufsteher und schon immer vor mir in der Stadt. Da
war es oft so, dass mir Obdachlose sagten: Dein Bruder ist schon da
gewesen, du sollst um 11 Uhr da und da sein. Das war die
Nachrichtenübertragung. Jedenfalls habe ich immer, wenn ich in der Stadt
war, T-Shirts, Strümpfe, Tempotaschentücher, Sicherheitsnadeln,
Verbandszeug und Essensmarken verteilt.
taz: Warum berührt Sie gerade das Leben der Obdachlosen?
Streit: Ich gehöre zur Kriegsgeneration. Meine Mutter ist mit uns Kindern
vier Mal aus Hannover raus geflüchtet. Und fragen Sie nicht, wie wir
untergebracht waren. Wir waren neun Jahre ohne Vater, der war dann noch
viereinhalb Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, und der Hauptsitz der
Zementindustrie war in Berlin, daher kam aber kein Geld. Da habe ich für
ein Handarbeitsgeschäft gestrickt.
taz: Waren Sie beruflich auch im sozialen Bereich tätig?
Streit: Nein. Eigentlich hatte ich Medizin studieren wollen. Aber als wir
dann nach dem Krieg wieder in unser Haus in Hannover wollten, mussten wir
nachweisen, dass jemand von uns berufstätig war. Mein Vater war in
Kriegsgefangenschaft, ich war 17, mein Bruder 16 und meine kleine Schwester
gerade in die Schule gekommen. Also wurde ich Schwesternschülerin. Da habe
ich ein bisschen Geld verdient, und meine Mutter war glücklich, dass ich
dort was zu essen kriegte.
taz: Aber Sie sind nicht dabei geblieben.
Streit: Ich war auf einer Männerstation dritter Klasse. Das gab es damals
noch. Also ein Dutzend Männer, und wie frivol die waren, konnte ich nicht
lange aushalten. Dann habe ich eine Ausbildung als zahnärztliche Helferin
gemacht und schließlich bin ich zum Gerling-Konzern gekommen. Das war
damals die größte private Versicherung, und wir waren eine sehr große
Geschäftsstelle. Da war ich dann 36 Jahre, und es herrschte ein sehr guter
Ton. Aber das Leben ist ganz anders verlaufen, als das mal geplant war.
taz: War es mit Familie geplant?
Streit: Das muss man sachlich sehen. Im Krieg sind sehr viele Männer gerade
der jungen Generation gestorben. Wir haben den Sachen nicht nachgetrauert,
wir haben es so hingenommen, wie es eben ist. Und jedes Ding hat zwei
Seiten. Ich glaube, dass mein Leben interessanter ist als das von vielen
Ehepaaren. Ich habe einen riesigen Bekanntenkreis, ich war im Turnverein,
ich habe Tennis gespielt, ich gehe in die Oper, ich habe Sinatra im Konzert
gehört. Wenn er im Radio kommt, kann ich es auf Konzertlautstärke drehen,
weil ich alleine lebe. Und ich bin überall hin gereist: nach Brasilien,
Peru, Ecuador, Südafrika, Japan, China, auf die Krim, ganz viel nach Paris
und ganz viel nach Italien. Ich habe Italienisch gelernt, weil ich mehr
sagen können wollte als nur „Bitte Spaghetti“.
taz: Waren Sie ein Familienmensch?
Streit: Wir hatten eine sehr glückliche Kindheit, ich kann mich an keinen
Streit meiner Eltern erinnern. Und wir haben immer zusammengehalten. Als
mein Bruder krank wurde und wenig Geld hatte, habe ich dafür gesorgt, dass
er genauso an die Riviera reisen konnte wie ich. Dafür haben wir natürlich
auch ganz furchtbare Zeiten erlebt. Meine kleine Schwester hat mit 21 die
Krebsdiagnose bekommen, es war Lymphdrüsentumor. Da wusste man von Anfang
an, dass er tödlich ist. Nachdem auch meine Eltern verstorben waren, bekam
mein Bruder Krebs.
taz: Sind Sie jetzt Einzelkämpferin?
Streit: Ich komme mit Menschen wunderbar zurecht. Aber in der Familie ist
man eingebunden, da hat man sich an andere Zeiten und an Ordnung zu halten.
Dann kommt die Schulzeit, die Ausbildung, da ist es genauso. Ich habe es
richtig genossen, dass ich, seitdem ich in Rente bin, morgens aufwache und
ganz spontan entscheiden kann, was ich mache. Ich will völlig unabhängig
sein.
taz: Sind Sie manchen der obdachlosen Menschen besonders nahe gekommen?
Streit: Ich war dreimal Trauzeugin bei Verkäufern der Straßenzeitung
gewesen. Und dann ist noch ein Jüngerer, der kam aus Westfalen und wurde
immer von den anderen ein bisschen veräppelt. Wir telefonieren von Zeit zu
Zeit, und wir gratulieren uns zum Geburtstag. Er hat keine Angehörigen in
Hannover, aber er hat inzwischen eine Wohnung. Vor drei Jahren rief er mich
an und war im Krankenhaus. Er sagte: „Du bist die einzige Person, mit der
ich reden kann.“
taz: Das heißt, Ihr Leben wird reicher durch diese Kontakte.
Streit: Man erfährt wirklich ganz andere Sachen vom Leben. Ich kannte einen
Mann, der sich unterm Stadtwald eine Höhle gebaut hat. Die hat er mit
Teppich ausgelegt und wohnte darin. Ein Straßenzeitungsverkäufer wollte
gern mal in die Oper und Puccini hören. Ich habe ihn eingekleidet, Karten
gekauft, bin vorher mit ihm zum Essen gegangen. Und dann waren wir in der
Oper.
taz: Sind Sie noch in Kontakt?
Streit: Er ist drogenabhängig geworden. Inzwischen lebt er nicht mehr. Das
ist bei einigen so. In Hamburg war ich manchmal im Musical auf der
Reeperbahn. Dort sitzen immer eine Menge junger Leute rum, und da habe ich
nach einem jungen Mann gefragt, den ich gut kannte und der nach Hamburg
gegangen war. Der war bereits drogenabhängig, aber ein ganz reizender
Junge. Als ich fragte, ob sie ihn kennen, sagten sie: ja und nein. Er hatte
sich gerade das Leben genommen … Bei den Drogen wusste mein Bruder viel
besser Bescheid. Ich bin da nicht vertraut, ich hatte eher Kontakt mit
denen, die etwas trinken. Ich persönlich habe absolut Verständnis dafür, es
muss ja nicht im Übermaß sein. Wenn das die einzige Freude und Erwärmung am
Tag ist, dann soll man ihnen das doch gönnen.
taz: Haben Sie das anders erlebt?
Streit: Ich war einmal bei einer Trauung von Obdachlosen, und die Braut
wollte gerne einen Hut haben. Also habe ihr einen Hut gebracht und dann
gemerkt, dass jemand hinter mir stand. Als ich mich umdrehte, stand da ein
eleganter Herr um die fünfzig und sagt: „Mit diesen Leuten reden Sie?“ Da
habe ich zu ihm gesagt: „Wie kommen Sie eigentlich zu der Annahme, dass ich
jetzt mit Ihnen rede?“ – „Ja, die trinken doch Alkohol.“ – Ich sage: …
nehme an, dass Sie auch Alkohol trinken, aber wahrscheinlich von anderer
Qualität.“
taz: Gibt es Grenzen für Sie im Kontakt, die Sie nicht überschreiten
wollen?
Streit: Es kam vor, dass Obdachlose bei uns zu Hause mal einen Kaffee
getrunken haben, aber da war immer mein Bruder dabei. Es übernachtet hier
niemand, ich bin ja allein im Haus, seitdem mein Bruder gestorben ist.
taz: Aber Ihre Arbeit für die Obdachlosen haben Sie fortgesetzt?
Streit: Ich bin dann erst einmal mit der Taxe zum Mecki-Laden gefahren. Das
ist [1][eine Anlaufstelle für Obdachlose], zu der ich schon seit 40 Jahren
gehe. Mein Bruder und ich waren alle drei Wochen dort, um das Frühstück ein
bisschen aufzustocken: 80 gekochte Eier, Obst, Tomaten und Süßigkeiten,
damit es ein bisschen Abwechslung gibt. Später habe ich das mit einem
jüngeren Paar gemacht, aber wir haben uns gestritten. Der Mann tat nämlich
so, als ob ich jetzt nur noch die Oma bin, die auch mitkommen darf. Im
Augenblick stricke ich vor allem.
taz: Was stricken Sie?
Streit: Früher habe ich Strümpfe gestrickt, aber dazu fehlt mir inzwischen
die Fingerfertigkeit. Ich stricke jetzt Stulpen mit den Vereinsfarben von
Hannover 96. Es gab schon mal Strümpfe damit, da war was los, es ist ja
immerhin unser hannoverscher Verein. Ich will ja, dass die Leute sich auch
ein bisschen freuen.
taz: Das eine ist ja die praktische Hilfe, das andere die zu einer
strukturellen Veränderung, etwa was Arbeits- oder Wohnmöglichkeiten angeht.
Ist das ein Feld, das Sie auch interessiert?
Streit: Da kann ich nicht weiterhelfen. Ich kann höchstens Ratschläge
geben. Aber mein Bruder und ich sind immer bei ihnen im Krankenhaus
gewesen, bei den Beerdigungen sowieso. Als eine Frau sich keinen Grabstein
leisten konnte, hat mein Bruder ein Holzkreuz gemacht. Und dann haben wir
sie auch bei Gericht vertreten.
taz: Obwohl Sie keine Juristen waren?
Streit: Dafür haben wir im Kopf vielleicht ein bisschen mehr. Im Sozialamt
zum Beispiel bekamen sie einen monatlichen Scheck, und es war oft so, dass
der Scheck nicht zeitgerecht zur Verfügung stand. Dann hat mein Bruder beim
Amt angerufen, und die brauchten nur den Namen Streit zu hören, dann lag
das Ding auf dem Schreibtisch. Ich denke dann: Dort sitzt ein Heini, der
vielleicht zu Hause eine rabiate Frau hat und sich umso mehr in seinem Amt
aufspielt. Solche Typen kann ich nun gar nicht ab.
taz: Wie gehen Sie mit den Grenzen Ihrer Hilfe um – dass es Menschen gibt,
die Sie trotzdem verlieren?
Streit: Man kann leider vielen nicht helfen, manche wollen auch nicht.
Viele, die ich lange kannte, sind gestorben. Einer von ihnen, Gertchen, der
sehr nett war – er hat aber wohl auch mal einen um die Ecke gebracht –, hat
mich ein paar Mal gefragt: „Warum kümmerst du dich eigentlich so viel um
uns Straßenköter?“ Da habe ich gesagt: „Ich habe einfach das Bedürfnis.�…
taz: Wird es Ihnen mühsam?
Streit: Ich habe reichlich Zeit. Und wenn mich jemand fragt, wie es mir
geht, sage ich immer: „Mir geht es gut.“ Erst mal interessiert das die
anderen eigentlich gar nicht. Und dass ich so schlecht laufen kann und dass
ich mit den Zähnen Probleme habe und dass ich schlechter sehen kann, ist ja
alles altersbedingt. Wenn ich das bedenke, dann geht es mir gut. Was soll
ich da groß Theater machen?
19 Aug 2025
## LINKS
[1] https://www.diakonisches-werk-hannover.de/hilfe-finden/kontaktladen-mecki/
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Lesestück Interview
Obdachlosigkeit
Ehrenamtliche Arbeit
Social-Auswahl
Reden wir darüber
GNS
Schwerpunkt Stadtland
Die Linke
Bayern
Schwerpunkt Stadtland
Landwirtschaft
## ARTIKEL ZUM THEMA
Klimaaktivistin über langen Atem: „In diesem Sinn bin ich wohl eine Staatsfe…
Hanna Poddig ist schon seit 20 Jahren Vollzeit als Aktivistin unterwegs.
Sie kennt sich so inzwischen mit Knästen und auch Talkshows aus.
Aus gesundheitlichen Gründen: „Arzt der Armen“ gibt Bundestagsmandat ab
Linken-Politiker Gerhard Trabert setzte sich für Obdachlose ein und
kandidierte als Bundespräsident. Nach Schlaganfällen gibt er sein Amt ab.
Bayerischer Satiriker Polt über Trachten: „Das ist nicht konservativ für mi…
Das Tragen von Tracht soll man ernst nehmen, sagt der Autor, Kabarettist
und Bayern-Erklärer Gerhard Polt. Aber nicht zu ernst. So wie alles andere.
Jüdischer Musiker über Synagogen: „Die Frage ist nicht, wo bin ich, sondern…
Es kostete Alex Jacobowitz Überwindung, nach Deutschland zu kommen. Jetzt
hat der jüdische Musiker ein Buch über die Synagogenkultur hier vorgelegt.
Erwachsen werden auf dem Land: „Ich konnte barfuß drehen“
In Justine Bauerns Film „Milch ins Feuer“ wollen junge Frauen auf dem Land
bleiben. Die Regisseurin ist selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.