# taz.de -- Jens Spahn und Matthias Miersch: Unterschiedlicher geht es kaum | |
> Von den Fraktionschefs der Union und SPD hängt es ab, ob die Koalition | |
> künftig erfolgreich regieren kann. Wie sind die Aussichten? | |
Bild: Berlin, 5. Mai 2025: Matthias Miersch, SPD, und Jens Spahn, CDU (rechts) … | |
Berlin taz | Gut 20 Minuten hat Jens Spahn nun schon über all das geredet, | |
was die Bundesregierung in den ersten 100 Tagen aus seiner Sicht so alles | |
angeschoben hat, für Wirtschaftswachstum, gegen irreguläre Migration, in | |
der Außenpolitik. Am Ende räumt er ein, dass man in der Koalition mit der | |
SPD „einen etwas besseren Geist“ entwickeln könne. Es sei zwar „keine | |
Liebesheirat und auch kein Projekt“, sagt Spahn, aber: „Wir sind in der | |
Zusammenarbeit zum Erfolg verpflichtet.“ | |
Der Fraktionschef der Union war am Mittwoch im NRW-Kommunalwahlkampf | |
unterwegs. Am Abend ist er in Jüchen angekommen, einer kleinen Stadt im | |
Rheinland, der Braunkohletagebau Garzweiler ist gleich nebenan. Ein Mann | |
fragt nach den Zukunftsaussichten seiner Ölheizung, ein anderer nach der | |
Sanierung von Brücken. Ein Dritter will, dass mehr Geld ins Ahrtal fließt | |
statt in Entwicklungshilfe. Keine einzige Frage zum Zustand der Koalition, | |
dem Streit zwischen Union und SPD. Das überrascht Spahn. | |
Der 11. Juli, jener Freitag, als die vereinbarte Wahl von Frauke | |
Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht im Bundestag | |
scheiterte, [1][war einer der Tiefpunkte in Spahns Karriere.] Die Mehrheit | |
in der Unionsfraktion stand nicht, als Fraktionschef war das seine | |
Verantwortung. Matthias Miersch, Spahns Counterpart bei der SPD, sparte | |
nicht mit harten Worten, indirekt stellte er die Basis der Koalition in | |
Frage. Der Kanzler hatte versprochen, mit einer ersten Positivbilanz in die | |
Sommerferien gehen; stattdessen beherrschten die unzuverlässige | |
Unionsfraktion und der Streit in der Koalition die Schlagzeilen. Ein | |
Debakel. | |
Spahn und Miersch müssen daraus nun gemeinsam einen Ausweg finden. Von den | |
beiden Fraktionsvorsitzenden hängt es maßgeblich ab, ob die Koalition | |
künftig halbwegs erfolgreich regieren kann. Sie müssen die Fliehkräfte in | |
ihren Reihen in Schach halten und dafür sorgen, dass die Regierungsvorhaben | |
im Bundestag eine Mehrheit finden. Der Druck ist riesig. Alle wissen, dass | |
von einem Scheitern dessen, was schon heute nicht mehr Große Koalition | |
genannt werden kann, vor allem die AfD profitieren würde. Wie dann die | |
Mehrheitsverhältnisse im Bundestag wären und wie eine Regierungsbildung | |
gelingen könnte, ist völlig offen. | |
## Manche Teams gelten als perfektes Paar | |
Am Donnerstag und Freitag kommen die beiden Fraktionsvorstände in Würzburg | |
zu einer zweitägigen Klausur zusammen. Als vertrauensbildende Maßnahme | |
einerseits. Vor allem aber will die Koalition mit einem positiven Signal in | |
die zweite Jahreshälfte starten. Da stehen weit schwierige Themen an als | |
die Wahl einer Verfassungsrichterin, auch wenn das auch noch gelöst werden | |
will: der Haushalt, das Sondervermögen und die Rente, verschiedene | |
Energiegesetze, die Wehrpflicht. | |
Es gibt Teams an der Spitze von Regierungskoalitionen, die gelten als | |
nahezu perfektes Paar. Peter Struck von der SPD und sein CDU-Kollege Volker | |
Kauder sollen sogar Freunde geworden sein. Bei Spahn und Miersch kann man | |
sich das schwer vorstellen. Sie könnten politisch und menschlich kaum | |
unterschiedlicher sein. | |
Miersch ist ein SPD-Linker, Spahn gehört zu den Rechten in der CDU. Der | |
Sozialdemokrat, der erst erfolgreich als Anwalt arbeitete, war lange ein | |
Mann der zweiten Reihe, bis er nach dem überraschenden Rücktritt von Kevin | |
Kühnert den Posten des Generalsekretärs übernahm. Er ist ein Mann der eher | |
leisen Töne und parteiübergreifend als versierter Umweltpolitiker | |
anerkannt. | |
Spahn ist 45 Jahre alt und damit 11 Jahre jünger als Miersch, aber schon | |
deutlich länger in der Politik; der Christdemokrat sitzt seit 23 Jahren im | |
Bundestag. Er gilt als breitbeinig, provokativ, ehrgeizig. Merkel hat er | |
von rechts so lange bedrängt, bis sie es für nötig hielt, ihn als | |
Gesundheitsminister in die Kabinettsdisziplin einzubinden. [2][Dann kam | |
Corona, und jetzt hängen Spahn überteuerte Maskendeals nach.] | |
SPD-Vizekanzler Lars Klingbeil kann sich wohl auf Miersch verlassen, Spahn | |
hingegen trauen auch viele Christdemokraten zu, dass er Merz gerne beerben | |
will. Lieber früher als später. | |
## SPD und Union „wollen“ gemeinsam grillen | |
Am Dienstag sitzt Matthias Miersch in der Albert-Einstein-Schule in Laatzen | |
bei Hannover, der SPD-Fraktionschef hat hier selbst Abitur gemacht. Er ist | |
mit einem Tross Journalist*innen unterwegs, auf Sommerreise in seinem | |
Wahlkreis. „Herr Miersch“, sagt eine Schülerin jetzt, sie liest die Frage | |
von einem Zettel ab, „wir haben in der Süddeutschen Zeitung gelesen, dass | |
Sie sich mit der CDU zu einem Grillfest treffen. Was erwarten Sie denn da?“ | |
Für Mitte September, wenn der Bundestag wieder tagt, ist ein gemeinsames | |
Grillen der beiden Fraktionen geplant. Es soll, wie die | |
Fraktionsvorstandsklausur, zur Vertrauensbildung beitragen. „Also meine | |
Erwartungen sind ganz, ganz niedrigschwellig“, antwortet Miersch der jungen | |
Frau. Man müsste sich eben besser kennenlernen. Ob das gelingt, wisse er | |
nicht. Manche SPD-Kollegen wollten ja nicht mal kommen. | |
Auch in der Unionsfraktion ist die Begeisterung nicht groß. Als Merz im Mai | |
vorschlug, mit der SPD ein gemeinsames Sommerfest zu veranstalten, fiel der | |
Vorschlag in der Fraktion durch. Spahn betont am Rande des Jüchener | |
Bürgerdialogs im Gespräch mit der taz, dass man am „Atmosphärischen“ | |
arbeiten müsse: „Die Koalition ist jetzt 100 Tage im Amt. Vertrauen muss | |
wachsen – gerade bei denen, die sich noch nicht so gut kennen.“ Er verstehe | |
die Verärgerung bei der SPD, auch das sagt Spahn. „Das hätte so nicht | |
passieren dürfen. Das habe ich Matthias Miersch auch gesagt. Jetzt müssen | |
wir den Blick nach vorn richten.“ | |
Gemeinsames Grillen wird für Miersch das Geschehene kaum verdrängen. Wie | |
geht es weiter mit dieser Koalition – nach dem Debakel um die Wahl von | |
Brosius-Gersdorf? Das wollen nicht nur fast alle Journalist*innen auf | |
seiner Sommerreise wissen. Miersch selbst hält den Fall für einen | |
Einschnitt. „Mir ist klar, dass für viele Leute vor Ort andere Dinge | |
wichtiger sind“ sagt er beim Bürgergespräch im „Calenberger Treff“ in | |
Wennigsen, das eher ein Genossengespräch ist. Aber die gescheiterte | |
Richterinnenwahl sei, so Miersch, „wirklich eine Zäsur, weil es rechten | |
Netzwerken erstmals gelungen ist, einen solchen Einfluss zu nehmen. Wir | |
können jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. So etwas darf sich | |
niemals wiederholen.“ | |
Dies gelte auch angesichts einer AfD, die nur darauf lauere, dass diese | |
Koalition auseinanderfliege. Einer Bundestagspräsidentin Klöckner, die mit | |
ihrem Auftritt beim Sommerfest in den Räumen des größten Nius-Finanziers | |
solche Netzwerke auch noch unterstütze. Und auch angesichts [3][einer | |
CDU-Abgeordneten wie Saskia Ludwig aus Brandenburg, die offen mit einer | |
Kooperation mit der AfD liebäugele]. „Und ich weiß nicht, wie groß die | |
Gruppe innerhalb der CDU-Fraktion ist, die damit kein Problem hat“, sagt | |
Miersch. Die Genossen klatschen. | |
## Misstrauen gegenüber der Union | |
Der SPD-Mann muss – im Gegensatz zu Spahn beim Besuch bei der Jüchener CDU | |
– die Causa Brosius-Gersdorf hier betonen, der Unmut unter den | |
Sozialdemokrat*innen darüber ist groß und will besprochen werden. | |
Misstrauisch ist man gegenüber der Union ohnehin. Dass Merz im Wahlkampf | |
von „linken und grünen Spinnern“ gesprochen und damit zweifellos auch die | |
SPD gemeint hat, dass Spahn sich für eine gewisse Normalisierung der AfD | |
aussprach und auch die Abstimmung im Bundestag Ende Januar, bei der die | |
Union für Merz’ Fünf-Punkte-Migrationsplan wissentlich eine Mehrheit mit | |
der AfD in Kauf nahm – all das haben die Sozialdemokrat*innen nicht | |
vergessen. | |
Aber ihnen sitzt auch die eigene Lage in den Knochen: das Scheitern der | |
Ampel. Das desaströse Wahlergebnis und die damit verbundene Schrumpfkur auf | |
nur noch 120 Mandate. Das rigorose Powerplay Klingbeils bei der | |
Postenbesetzung nach der Wahl. Die größte Angst ist nun, dass selbst die | |
Dinge, die man erfolgreich in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt hat, | |
nicht wirken können und nicht sichtbar werden, weil sich – schon wieder – | |
der Eindruck einer ewig zankenden Koalition davorschiebt. | |
In der Unionsfraktion wiederum kreidet man der SPD die vielen | |
Zugeständnisse an, die CDU und CSU trotz ihres deutlichen besseren | |
Wahlergebnisses gemacht haben. Auch Merz’ zahlreiche Kehrwendungen, von der | |
Lockerung der Schuldenbremse bis zum Stopp solcher Rüstungsgüter nach | |
Israel, die in Gaza eingesetzt werden können, führen viele in der Union auf | |
den Druck der SPD zurück. „Die Fraktion ist eine andere als noch vor ein | |
paar Jahren“, sagt Spahn. „Viele sind neu dazugekommen, junge | |
selbstbewusste Abgeordnete. Ich finde das gut.“ Gleichzeitig müssten alle | |
verstehen, dass nicht jeder für sich allein gewählt worden sei. „Wir sitzen | |
da, um zusammen für dieses Land einen Unterschied zu machen. Das heißt am | |
Ende auch, diese Regierung zu tragen.“ | |
In der SPD ist Spahn für viele der Gegner Nummer eins. Auffällig ist, wie | |
wenig sich Miersch auf seiner Sommerreise dem Spahn-Bashing anschließen | |
mag. „Ich arbeite mit Jens Spahn gut zusammen“, betont er. Auch Spahn sagt | |
nichts Schlechtes über Miersch. „Mit Matthias Miersch komme ich persönlich | |
gut klar, wir arbeiten vertrauensvoll zusammen. Wir hatten vorher wenig | |
miteinander zu tun, Vertrauen muss wachsen.“ Aber was sollen sie auch | |
sagen? Beiden ist klar, dass diese Koalition funktionieren muss. | |
24 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Nadine Conti | |
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