| # taz.de -- Flucht nach Deutschland: Entkommen aus dem belarussischen Grenzwald | |
| > Sainab floh vor Islamisten in Somalia und strandete zwischen Belarus und | |
| > Polen. Die damals 16-Jährige erlebte Gewalt und Pushbacks. Es lässt sie | |
| > nicht los. | |
| Bild: „Ab jetzt nehme ich mein Leben selbst in die Hand.“ Sainab blickt in … | |
| In der Küche ihrer Leipziger Wohngruppe rührt Sainab in ihrem Müsli mit | |
| Naturjogurt und Blaubeeren, ihre hüftlangen, schwarzen Haare hat sie zu | |
| einem Pferdeschwanz gebunden. Gerade erst ist die 18-Jährige von dem ersten | |
| gemeinsamen Urlaub mit ihrer WG und den Betreuer:innen zurückgekommen. | |
| Begeistert erzählt sie vom Campen in Thüringen. Dann schlägt ihre | |
| Fröhlichkeit plötzlich um. „Eigentlich hatte ich Angst davor. Vor dem | |
| Zelten im Wald.“ Sainab zögert, zieht das Wort „Wald“ in die Länge. Vor | |
| ihrer Flucht aus Somalia hatte sie einen solchen noch nie gesehen. | |
| Drei Monate steckte Sainab (Nachname der Redaktion bekannt), im | |
| [1][belarussisch-polnischen Grenzwald] fest. Ohne Schlafsack oder Zelt, | |
| ohne Essen oder sauberes Trinkwasser. Das Einzige, was sie dabei hatte, war | |
| ein Handy und ein Gebetsbuch, das ihre Mutter ihr mitgegeben hatte. | |
| Es ist ihr erster Flug, als Sainab im März 2023 in [2][Mogadischu] ins | |
| Flugzeug nach Moskau steigt. Die damals 16-Jährige weiß weder, wo genau | |
| Russland liegt, noch dass sie anschließend zwei grüne Grenzen zu überqueren | |
| haben wird. Sie weiß nur eines: Das Flugticket ist die letzte Chance, um | |
| ihr Leben zu retten. | |
| Sainab wächst als Älteste von sechs Kindern in einer Kleinstadt in | |
| Südsomalia auf. Ihre Eltern sind einfache Leute, ihr Vater arbeitet für | |
| einen örtlichen Bauern, ihre Mutter kümmert sich um die Kinder. Frauen ist | |
| es in der männerdominierten Gesellschaft nicht erlaubt, zu arbeiten. | |
| Töchter werden oft im Teenageralter verheiratet und haben dem Mann zu | |
| gehorchen. | |
| Doch Sainabs Eltern sind anders. Sie sind stolz auf die Erstgeborene, die | |
| bereits als Fünfjährige so viel wissen will, dass sie ihr erlauben, zur | |
| Grundschule zu gehen. „Ich habe die besten Eltern der Welt“, sagt Sainab | |
| immer und immer wieder im Laufe des langen Gesprächs im Aufenthaltsraum | |
| ihrer Leipziger Wohngruppe. „Sie gaben mir von Anfang an das Gefühl, dass | |
| ich alles schaffen kann.“ Ein Grundschulbesuch ist für Mädchen offiziell | |
| zwar nicht verboten, doch nur selten schicken Eltern ihre Töchter in der | |
| von [3][der islamistischen Al-Shabaab-Terrormiliz] kontrollierten | |
| Kleinstadt hin. | |
| ## Verfolgt, weil sie zur Schule ging | |
| Sainab überspringt direkt die erste Klasse, dennoch bleiben ihre Noten | |
| überragend. Sie liebt es einfach, immer mehr dazuzulernen. Doch der | |
| Schulweg macht ihr Angst. „Eigentlich sollen Mädchen und Frauen stets zu | |
| Hause sein. Doch ich war nicht nur jeden Morgen außer Haus, ich ging auch | |
| noch zur Schule“, erzählt sie. Spätestens mit Abschluss der 8. Klasse soll | |
| damit Schluss sein, das Terrorregime toleriert keine weiterführende Schule | |
| für Mädchen. Doch Sainabs Eltern wissen um den starken Willen ihrer | |
| Tochter. Über Bekannte gelingt es, dass Sainab ein Stipendium für ein | |
| Internat erhält, das im benachbarten und progressiveren Somaliland vom | |
| SOS-Kinderdorf betrieben wird. Sainabs Heimweh ist riesig, denn die neue | |
| Schule ist zu weit weg, um die Familie zu besuchen. Gleichzeitig liebt die | |
| 11-Jährige das Internatsleben, saugt Mathe, Englisch und | |
| Naturwissenschaften in sich auf. | |
| „Für mich war das wirklich alles einfach nur magisch. Ich war so glücklich, | |
| zur Schule gehen zu können.“ Das Internat ist international geführt, manche | |
| Lehrer kommen aus Kenia, Äthiopien oder auch Indien, nachmittags gibt es | |
| viele zusätzliche Lern-Clubs. „Das ganze Internatsgelände war wie ein | |
| geschützter Raum“, erinnert sich Sainab. Jedoch derart geschützt, dass sie | |
| das Internatsgelände im Gegensatz zu ihren männlichen Mitschülern nicht | |
| verlassen darf. | |
| Nach vier Jahren kommt sie das erste Mal heim, mit einem international | |
| anerkannten Abitur in der Tasche. Lange liegen ihre Eltern und sie sich in | |
| den Armen. Doch gleichzeitig denkt sie: „Wie kann es hier jemals für mich | |
| weitergehen?“ Während ihrer Internatsjahre stand mehrmals die | |
| Al-Shabaab-Miliz vor der Tür ihrer Eltern, fragte, wo die Tochter sei. Der | |
| Vater behalf sich mit der Lüge, Sainab sei bei ihrer Großmutter und gehe | |
| dort auf eine Koranschule. | |
| Sainab wird zunehmend wütender. „Ich konnte all das nicht mehr | |
| akzeptieren.“ Wie können Frauen hier nur so leben, denkt sie. Es ärgert | |
| sie, wie viele von ihnen weder schreiben noch lesen können, und gibt | |
| heimlich Unterricht. Das geht nicht lange gut. „Al-Shabaab weiß einfach | |
| alles über einen. Als Strafe haben sie mich entführt“, sagt Sainab kurz und | |
| gerät ins Stocken. Sie fixiert den Kickertisch vor sich und schildert in | |
| nur wenigen Sätzen von Misshandlungen in der Gefangenschaft. „Doch | |
| schlimmer als die Schläge waren die Worte.“ Die ständigen Drohungen sollen | |
| ihr klar machen: Als Frau bist du nichts wert. Die Entführer wollen Sainab | |
| zwangsverheiraten und auch einen „Fehler“ der Eltern korrigieren, die ihre | |
| Tochter – wie in Somalia weiterhin üblich – zwar beschnitten hatten, sich | |
| jedoch für die leichteste Variante entschieden hatten. „Zum Glück gelang | |
| mir rechtzeitig die Flucht.“ | |
| Als sie nachts bei ihren Eltern auftaucht, können sie es zunächst kaum | |
| glauben, ihre Tochter lebendig vor sich zu sehen. Noch in dieser Nacht | |
| fasst der Vater den Entschluss: Sainab muss fliehen. Bereits wenige Stunden | |
| später klettert er mit seiner Tochter auf die Ladefläche eines | |
| Transporters, versteckt unter Kisten mit Obst und Gemüse. Nach einer | |
| Tagesreise erreichen sie Mogadischu, wo ein Bekannter der Familie bereits | |
| ein Flugticket gekauft und die weitere Flucht organisiert hat. Wie | |
| ferngesteuert steigt die damals 16-Jährige in das Flugzeug. | |
| ## Wie Ware habe sie sich gefühlt | |
| Auf dem Flughafen in Moskau ist sie das erste Mal von weißen Menschen | |
| umgeben. Irritiert starrt sie auf all die Schilder in kyrillischer Schrift, | |
| die sie nicht entziffern kann. Vom Flughafen aus geht es mit weiteren, | |
| ebenfalls gerade gelandeten Somalier:innen in Minibussen weiter. Wie | |
| Ware habe sie sich gefühlt, sagt Sainab. Während der Fahrt spricht keiner, | |
| außer den Schmugglern, die jedoch meist schreien. „Dawai“ ist das einzige | |
| russische Wort, an das sich Sainab aus dieser Zeit erinnert. „Los, | |
| schnell!“ Immer wieder werden die Minibusse gewechselt, zwischendrin muss | |
| die Gruppe durch Wälder laufen und zu Fuß einen Fluss überqueren. Heute | |
| weiß Sainab, dass sie damals irgendwo die Grenze zu Belarus überquert haben | |
| muss. | |
| Nach weiteren Fahrten wird die Gruppe wieder in einem Wald ausgesetzt, | |
| wieder heißt es „dawai“. Sainab trägt nur eine dünne Jacke, viel zu kalt | |
| für einen osteuropäischen März im belarussischen Wald, wo noch lange kein | |
| Frühling ist. Als die Somalier:innen einen Stacheldraht erreichen, hebt | |
| ein Schmuggler ihn hoch, dann gelangt die Gruppe in eine Grenzsperrzone, | |
| die alle nur „Sistema“ nennen, das System. „Das ist der Moment, wo du eine | |
| Realität kennenlernst, von der du vorher nicht die leiseste Ahnung | |
| hattest.“ Sainab trifft hier auf mehrere Dutzende gestrandete Geflüchtete, | |
| weitere Somalier:innen, aber auch Afghan:innen, Äthiopier:innen und | |
| Syrer:innen. Die Lage in dem von belarussischen Soldaten kontrolliertem | |
| Gebiet ist desaströs. | |
| Es beginnt ein ewiges Warten auf einen Übertrittsversuch über die polnische | |
| Grenze, eine fünf Meter hohe Stahlmauer mit Gitterstäben und Stacheldraht. | |
| Sainab bleibt bei den anderen Somalier:innen, mit denen sie an die Grenze | |
| gebracht wurde, zwei weitere Frauen und fünf Männer, die jetzt eine | |
| zufällige Schicksalsgemeinschaft bilden. Von ihrem Lager aus hat Sainab | |
| Blickkontakt mit den polnischen Soldaten, die bewaffnet mit | |
| Maschinengewehren fast rund um die Uhr Patrouille laufen. „Es ist der | |
| trostloseste Ort der Welt. Jede und jeder im Sistema hat Schrecklichstes in | |
| der Heimat erlebt“, sagt Sainab. Doch das sei den Soldaten völlig egal | |
| gewesen – auf beiden Seiten der Grenze. Sainab beobachtet, wie Geflüchtete | |
| am Grenzzaun die polnischen Soldaten um Asyl bitten, daraufhin aber mit | |
| Pfefferspray abgewehrt werden. | |
| Auch sieht sie, wie polnische Grenzpolizisten eine kleine Tür in der | |
| Stahlmauer aufschließen und Migrant:innen gewaltsam nach Belarus | |
| zurückdrängen. Sie lernt eine weitere Somalierin kennen, die sich beim | |
| Sprung von der Grenzmauer das Bein gebrochen hat. „Doch die polnischen | |
| Grenzpolizisten hätten sie nur angeschrien, sie solle zurück nach Belarus.“ | |
| Aufgrund des Beinbruchs hätte sie aber gar nicht laufen können. „Da haben | |
| sie ihr aufgeholfen, sie gestützt, damit sie laufen kann – und sie dann | |
| nach Belarus abgeschoben.“ | |
| ## Kein Essen, zu trinken nur Flusswasser | |
| Das sei eine dieser Geschichten, sagt Sainab, die sie nicht vergessen | |
| könne. „In der Schule habe ich viel über Europa gelernt.“ Doch das ist | |
| nicht das Europa, wie sie es aus Büchern kennt. „Wie können diese | |
| polnischen Soldaten einfach nur dastehen und selbst Familien mit Babys | |
| nicht durchlassen? Was sind das für Menschen?“ Sainab fragt sich, „wenn ich | |
| nicht nach Somalia zurückkann und die EU mich nicht aufnimmt, wo gehöre ich | |
| dann hin?“ | |
| Als einer der Schmuggler nach etwa zwei Monaten plötzlich bei der | |
| somalischen Gruppe auftaucht, ist Sainab total geschwächt. Tagelang hat sie | |
| nichts gegessen und nur verdrecktes Flusswasser getrunken. Nachts schläft | |
| sie kaum, aus Angst vor den belarussischen Soldaten, aber auch den vielen | |
| männlichen Migranten. | |
| „Der Schmuggler sagte: ‚Schnell, beeilt euch! Ihr müsst jetzt über die | |
| Grenze!‘“ Als sie an der aufgestellten Leiter ankommen, heißt es, die | |
| Mädchen gehen zuerst. Nachdem das erste Mädchen rübergeklettert ist, ist | |
| Sainab an der Reihe. Doch die Männer aus ihrer Gruppe stoßen sie weg. | |
| „Jeder wollte der Erste sein.“ Machtlos sieht Sainab zu, klettert | |
| schließlich als Letzte die fünf Meter hohe Mauer hoch und rutscht auf der | |
| polnischen Seite an die Gitterstäbe geklammert wieder herunter. Schnell | |
| blickt sie an ihrem Körper hinab und stellt erleichtert fest: Alles noch | |
| da, nichts gebrochen. Dann schaut sie sich um – und sieht niemanden. Ihre | |
| Gruppe ist bereits weitergerannt. | |
| In Sainab steigt Verzweiflung auf. Und Panik. Sie muss schnell sein und | |
| sich verstecken. Nach zwei Monaten im belarussischen Grenzwald und den | |
| Berichten der Gestrandeten im Sistema ist ihr klar, dass jetzt ein Pushback | |
| wahrscheinlicher ist als ein erfolgreiches Asylgesuch. Sainab ist totmüde | |
| und dennoch rennt sie so schnell sie kann in den Wald hinein. „Nur noch | |
| dieses kleine Stück“, motiviert sie sich. | |
| Doch plötzlich wird der Waldboden morastig. Ihre Beine bleiben immer wieder | |
| stecken und sie muss nach jedem Schritt ihr Bein jeweils wieder aus dem | |
| Sumpf ziehen. Als dieser ihr bis zur Hüfte reicht, hievt sie sich völlig | |
| erschöpft auf einen umgefallenen Baum. „Ich hatte keine Kraft mehr, für gar | |
| nichts. Nicht fürs Weitergehen, nicht fürs Weinen und erst recht nicht mehr | |
| fürs Denken.“ Sainab ist komplett durchnässt, doch das Handy ist trocken | |
| geblieben. Zum ersten Mal seit zwei Monaten schaltet sie es ein. Jetzt ist | |
| es das Kostbarste, was sie besitzt. | |
| ## Flüchtlingshelferinnen retten Sainab | |
| Sie tippt einen Hilferuf per SMS an die polnische Flüchtlingsorganisation | |
| Grupa Granica, von der Geflüchtete zuvor erzählt hatten. Die Antwort kommt | |
| schnell. Sainab gibt ihre GPS-Koordinaten und ihren Gesundheitszustand | |
| durch. Während sie da auf diesem Baum sitzt und die Nacht anbricht, sieht | |
| sie, wie ihre Beine weiß anlaufen. Sie spürt sie nicht mehr. | |
| Kasia A.* (Name geändert) kann sich noch ganz genau an diese Nacht | |
| erinnern. Seit 2021 ist die Polin als Flüchtlingsaktivistin im Grenzwald im | |
| Einsatz, doch das Frühjahr 2023 war besonders herausfordernd. „Es gab so | |
| viele Migranten, es war schlichtweg Wahnsinn.“ Als Sainabs Hilferuf | |
| eingeht, hat Kasia A. bereits vier Tage hintereinander kaum geschlafen. | |
| Gemeinsam mit einer weiteren Aktivistin geht sie ins Lager, packt einen | |
| Rucksack mit Kleidung, Schuhen, Suppe, Wasser und Powerbanks. Es dauert | |
| viele Stunden, bis sie Sainab erreichen, denn der Sumpf macht auch ihnen | |
| ziemlich zu schaffen. „Wie sie da ganz allein auf diesem Baumstumpf lag, | |
| das werde ich nie vergessen“, erzählt Kasia A., damals 29 Jahre alt. Die | |
| jungen Frauen umarmen sich fest und weinen. | |
| Die Aktivistinnen ziehen Sainab um und geben ihr heißen Tee aus einer | |
| Thermoskanne, an dem sie ganz vorsichtig nippt. „Ich hatte ganz vergessen, | |
| wie das ist, etwas Warmes zu trinken. Mein Körper kannte nur noch Kälte.“ | |
| Die beiden Aktivistinnen, eine von ihnen Ärztin, versorgen Sainabs Wunden | |
| und vor allem ihre sogenannten Grabenfüße, eine schmerzhafte | |
| Gewebeschädigung, verursacht durch Kälte und Feuchte, benannt nach | |
| ähnlichen Erkrankungen von Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sich diese | |
| häufig in den schlammigen Gräben zugezogen hatten. Der Weg hinaus aus dem | |
| Sumpfgebiet ist elendig weit, doch die Somalierin schöpft neuen Mut. | |
| „Sainab war so besonders“, erinnert sich Kasia A. In perfektem Englisch | |
| habe sie sich ständig mit „I can make it“-Sprüchen motiviert und | |
| Lieblingslieder gesungen. „Es war der einzige Moment in all den Wochen, in | |
| denen ich menschlich behandelt wurde“, erzählt Sainab, die bis heute engen | |
| Kontakt zu Kasia A. hält. | |
| Doch als sie den Sumpf endlich hinter sich haben, ist sie zunächst wieder | |
| auf sich allein gestellt. „Das ist immer der härteste Moment“, sagt Kasia | |
| A. „Als Helferinnen können wir die Menschen nur versorgen.“ Hilfe ist | |
| schließlich nicht illegal. Doch alles Weitere, wie beispielsweise eine | |
| Autofahrt ins nächste Dorf, könnte als Schmuggleraktivität ausgelegt | |
| werden, auf die in Polen bis zu 5 Jahre Gefängnis steht. Die 16-Jährige ist | |
| also wieder allein, doch zumindest hat sie trockene Kleidung sowie Essen | |
| und Trinken für ein paar Tage. Nach etwa zwei weiteren Wochen gelingt es | |
| ihr, den letzten Schmuggler zu kontaktieren. Am Treffpunkt trifft sie auf | |
| zwei weitere Frauen, mit denen sie quer durch Polen gefahren und | |
| schließlich an einer Brücke ausgesetzt wird. Der Fahrer zeigt auf die | |
| andere Seite, nach Deutschland. Sainab rennt, so schnell sie kann, um | |
| schließlich, nach drei Monaten, zusammenzubrechen. | |
| ## Hoffen, dass die Familie nachkommt | |
| Ob sie von [4][der Somalierin gehört habe, die im Mai dieses Jahres in | |
| Deutschland um Asyl gebeten hatte und an der Grenze abgewiesen wurde]? | |
| Sainab nickt. „Das hätte ich sein können. Sie soll 16 sein, genauso alt, | |
| wie ich damals war.“ Sie sei einfach nur froh, dass sie es zu einem | |
| Zeitpunkt nach Deutschland geschafft habe, wo „die politische Situation | |
| noch nicht so verrückt war“. Klar sei das Warten auf die | |
| Behördenentscheidungen schwierig. Aber wenn man einmal Angst um sein | |
| eigenes Leben gehabt habe, dann sei das Warten auf einen Bescheid des | |
| Bundesamts für Migration und Flüchtlinge verglichen damit wirklich | |
| einfacher, sagt Sainab. | |
| Ein Jahr wartet sie, dann wird sie schließlich im April 2024 als | |
| Geflüchtete mit vollem Schutzstatus anerkannt. Bereits in den ersten Wochen | |
| bringt man Sainab in eine Wohngruppe für Jugendliche in Leipzig. Eine | |
| überfüllte Gemeinschaftsunterkunft bleibt ihr erspart. Heute spricht sie | |
| bereits fließend Deutsch, jobbt samstags als Verkäuferin beim | |
| Schnellrestaurant Nordsee und möchte nun so schnell wie möglich studieren. | |
| An der Magnetwand in ihrem Zimmer hält sie ihren jeweiligen Plan fest. Für | |
| diese Woche stehen da täglich je eine Stunde Deutsch und Mathe, Sport im | |
| Fitnessstudio, regelmäßiges Beten und gesundes Essen. Daneben hängt ein | |
| Foto ihrer Eltern. | |
| Was genau nach ihrer Flucht mit ihrer Familie passiert ist, weiß Sainab | |
| nicht. Erst nachdem sie neun Monate in Deutschland ist, gelingt es ihr, die | |
| Mutter anzurufen, die mit einem der Brüder zunächst nach Mogadischu und | |
| dann nach Nairobi in Kenia fliehen konnte. Ihr Vater, der andere Bruder und | |
| ihre zwei Schwestern gelten als vermisst. „Was mich wirklich verletzt, sind | |
| die ewigen Fragen, warum ich alleine nach Deutschland gekommen bin.“ | |
| Sainabs große Hoffnung liegt nun in der [5][Familienzusammenführung]. Die | |
| Anträge sind längst gestellt, DNA-Proben verglichen, Dokumente übersetzt. | |
| Täglich warten nun Sainab, ihre Mutter und ihr Bruder auf das finale „Go“. | |
| Als Sainab ihre Papiere erhält, ist ihr erstes Reiseziel im Oktober 2024 | |
| ausgerechnet Polen. Es sei eine bewusste Entscheidung gewesen und | |
| gleichzeitig auch die Möglichkeit, auf Einladung der OECD in Warschau über | |
| die Situation an der belarussischen Grenze zu sprechen. Hier trifft sie zum | |
| ersten Mal auch Kasia A. wieder, die nicht glauben kann, um was Sainab sie | |
| bittet. „Sie wollte zurück zur Grenze und die Mauer einmal von der anderen | |
| Seite sehen.“ | |
| Sie reisen gemeinsam hin, machen Spaziergänge im Wald und fahren | |
| schließlich direkt an den Grenzzaun. „Als ich die Soldaten da wieder habe | |
| stehen sehen, flossen einfach nur noch die Tränen.“ Aber es sei auch wie | |
| eine Therapie gewesen, sagt die heute 18-Jährige. Trotz der unendlichen | |
| Trauer und Wut spürt sie in diesem Moment wieder ihre Stärke, die sie von | |
| Kind auf begleitet hat: Hier steht sie nun, auf der anderen Seite der | |
| EU-Außengrenze – als starke, selbstbewusste Frau. „Und ab jetzt nehme ich | |
| mein Leben selbst in die Hand.“ | |
| Die Recherchen wurden gefördert vom „[6][Recherchepreis Osteuropa]“, | |
| vergeben vom katholischen Hilfswerk Renovabis und der evangelischen Aktion | |
| „Hoffnung für Osteuropa“. | |
| 4 Aug 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nadine Wojcik | |
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