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# taz.de -- Straße durch Amazonien: Die Spur des Asphalts
> Im Herzen des brasilianischen Regenwaldes wird der Ausbau der
> Schnellstraße BR-319 zur globalen Klimafalle. Das hat auch Auswirkungen
> in Deutschland.
Bild: Auf 400 Kilometern Länge im mittleren Abschnitt ist die BR-319 noch eine…
MANAUS taz | Am Tag nach Weihnachten steige ich in Humaitá in den Bus. Die
Stadt liegt fast 700 Kilometer von Manaus entfernt, der Hauptstadt
Amazoniens. Wir sind tief im Süden des brasilianischen Bundesstaates
Amazonas – in einer Region, die als „Arco de desmatamento“, als Bogen der
Entwaldung, bekannt ist und Jahr für Jahr unter den Folgen von Landraub,
illegalem Bergbau und Waldzerstörung leidet.
Die Fahrt nach Manaus dauert 24 Stunden in einem Überlandbus, der über den
roten Schlamm der BR-319 holpert – einer fast tausend Kilometer langen
„Schnellstraße“, die durch das Herz des brasilianischen Amazonaswaldes
führt und überwiegend eine schlichte Sandpiste voller Schlaglöcher ist. In
der Nähe des Flusses Curuçá ist die Brücke komplett zerstört. Wir müssen
den Fluss mit einer provisorischen Fähre überqueren – die Passagiere auf
der einen Seite, der Bus auf der anderen.
Ich bin hier, um zu verstehen, wie ein während der Militärdiktatur
gebautes, Ende der 1980er Jahre aufgegebenes und [1][nun wiederbelebtes
Straßenprojekt] zu einem der Treiber des Klimawandels auf unserem Planeten
werden konnte.
Während die nördlichen und südlichen Enden der Straße asphaltiert sind, ist
der 400 km lange mittlere Abschnitt immer noch eine ungeteerte Piste – und
ihr geplanter Ausbau Gegenstand rechtlicher Streitigkeiten. In Erwartung
des Projekts haben Abholzung und Brände aber bereits zugenommen.
## Amazoniens wichtige Rolle für das Weltklima
Schon im Jahr 2024 hatten [2][Satellitendaten von Copernicus] und
brasilianischen Wissenschaftlern gezeigt, dass der südliche Teil der
Amazonas-Region in der Nähe der BR-319 während der Brandsaison
zwischenzeitlich sogar zur weltweit größten Quelle von Treibhausgasen
geworden war.
Da die Amazonas-Region eine wesentliche Rolle bei der Regulierung des
Weltklimas spielt, wirken sich klimatische Veränderungen vor Ort direkt auf
das Wetter in anderen Regionen aus, darunter auch Europa. Selbst wenn solch
unmittelbare klimatische Zusammenhänge wissenschaftlich schwer zu beweisen
sind, steht außer Frage, dass Extremwettereignisse auch in Deutschland
zugenommen haben.
Die Deutsche Gisela Puschmann kennt den Regenwald Brasiliens von mehreren
Besuchen gut. Ich habe sie über Freunde kennengelernt. Sie berichtet davon,
wie sich die klimatischen Bedingungen in Deutschland verändert haben. Die
frühere Anwältin und Pädagogin sagt, dass sich zum Beispiel die vier
Jahreszeiten nicht mehr so klar abgrenzen ließen wie früher. „Ich kann mich
an so etwas aus meiner Kindheit nicht erinnern.“
Als das kleine deutsche Städtchen Schleiden-Gemünd in der Nähe des Ahrtals
in den frühen Morgenstunden des 14. auf den 15. Juli 2021 von einer
gewaltigen Flutkatastrophe heimgesucht wurde, die ganze Häuser wegriss,
gehörten Puschmann und ihr Mann zu den Freiwilligen, die in den Tagen nach
der Tragödie den Überlebenden halfen.
## In Deutschland nehmen extreme Niederschläge zu
Nach der Katastrophe waren der Deutsche Wetterdienst (DWD) und die
Weltorganisation für Meteorologie in ihren Schlussfolgerungen eindeutig:
Die Zunahme extremer Niederschläge in Deutschland hängt mit der sich
verschärfenden Klimakrise zusammen. Was einst Ausnahmeereignisse waren, ist
heute ein Symptom für ein aus dem Gleichgewicht geratenes System. Mit
mindestens 180 Toten und Tausenden Obdachlosen gilt die Ahrtal-Katastrophe
als eine der größten Naturkatastrophen in der jüngeren Geschichte
Deutschlands.
„In den letzten zehn Jahren hatten wir Sommer mit immer höheren
Temperaturen und einem immensen Mangel an Regen. Wenn es regnet, dann sind
es oft sintflutartige Stürme“, berichtet Puschmann – ein Wetterphänomen,
das sich inzwischen in jedem Sommer zu wiederholen scheint.
Dennoch interessiert die Klimakrise die deutsche Öffentlichkeit
erstaunlicherweise weniger als noch vor einigen Jahren. Im Jahr 2022
betrachtete etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung das Klima als
nationale Priorität. Im Jahr 2024 sank dieser Anteil [3][laut einer Umfrage
der Alliance of Democracies Foundation] auf nur unter ein Viertel. Derweil
gönnt sich die Klimakrise keine Auszeit – und was 10.000 Kilometer von
Berlin entfernt im Amazonas-Regenwald geschieht, trägt mit dazu bei, dass
Ausnahmewetter zur neuen Klimanorm in Europa wird.
## Das Erreichen eines Kipppunktes wird wahrscheinlicher
Während meiner Reise über die BR-319 sehe ich aus nächster Nähe, wie die
Aktivitäten rund um die Straße zunehmen: Holztransporter und Lastwagen mit
Waren für die Freihandelszone Manaus fahren jetzt nur wenige Meter vom Bus
entfernt im Schritttempo vorbei. Brandspuren zieren die Straßenränder, an
einigen Stellen sind erst kürzlich abgeholzte Flächen zu sehen, auf denen
sich Baumstämme stapeln, und daneben provisorische Schilder mit der
Aufschrift „Privatgrundstück“.
[4][Lucas Ferrante], einer der führenden Forscher für die Amazonasregion
von der Universität des Bundesstaates Amazonas, sagt, dass der
Amazonas-Regenwald einer der wichtigsten Kohlenstoffspeicher der Erde sei.
Noch. Denn mit der andauernden Abholzung entlang der BR-319 könnte er diese
Funktion verlieren. Das macht das Erreichen eines Kipppunkts
wahrscheinlicher, der lokale thermische Veränderungen mit voraussichtlich
globalen Auswirkungen zur Folge hätte. „Das könnte das Leben in Städten wie
Manaus unmöglich machen“, sagt Ferrante.
Er kritisiert auch die vorgenommenen Umweltstudien – unter anderem, dass
endemische Amphibien darin falsch eingestuft wurden, darunter in der Region
Purus-Madeira, einer der artenreichsten Gebiete des Amazonas. Ferrante
fordert stärkeren Schutz der Artenvielfalt sowie Investitionen in regionale
Wasserwege.
Es gäbe zwar einen Plan namens „BR-319 Sustentável“, also „nachhaltige
BR-319“, der strengere Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen vorsehe, doch
Ferrante zweifelt an dessen Wirksamkeit. Das Bundes-Umweltamt IBAMA und die
Bundespolizei verfügen zudem nicht über ausreichende Ressourcen, und selbst
die Autobahnpolizei räumt ein, dass sie die Kontrollpunkte nicht
vollständig besetzen kann.
## Der Ausbau der BR-319 kostet 61 Millionen US-Dollar
Nach Angaben des Nationalen Ministeriums für Verkehrsinfrastruktur (DNIT)
wird der Ausbau des rund 400 Kilometer langen mittleren Straßenabschnitts
umgerechnet rund 61 Millionen US-Dollar kosten. Dazu kommen noch
regelmäßige Instandsetzungskosten. Für Marcelo Rodrigues, den
Geschäftsführer der BR-319-Beobachtungsstelle, werden grundlegende
Voraussetzungen für den Straßenausbau nicht erfüllt. „Die Asphaltierung der
Straße garantiert nicht, dass die Menschen in den umliegenden Gebieten
Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung haben.“ Denn dies falle in
andere staatliche Zuständigkeitsbereiche. „Es müssen erst die
Voraussetzungen für den Ausbau geschaffen werden“, erklärt Marcelo
Rodrigues.
Auch indigene Territorien sind von der BR-319 betroffen. Zwischen Humaitá
und Manaus durchquert die Straße Gebiete, die traditionell von indigenen
Völkern der Tenharim, Pirahã, Juma, Diahui, Munduruku und Mura bewohnt
werden.
Die Historikerin Márcia Mura von der Universität von São Paulo (USP)
kritisiert, dass seit der Eröffnung der BR-319 Mura-Gebiete besetzt und
Dörfer von der Landkarte getilgt wurden. Schon während des Kautschukbooms
zwischen 1879 und 1912 waren viele Mura gewaltsam vertrieben worden, und
ihre indigene Identität ist im Laufe der Jahre weitgehend verloren
gegangen. Unter der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 verschärfte der Bau
der BR-319 schließlich illegale Landnahme und Landkonflikte. Doch bis heute
leisten Gemeinden wie Nazaré und Cuniã Widerstand.
## Wissenschaft wird diskreditiert, Umweltpolitik delegitimiert
Die Auseinandersetzung um die BR-319 hat auch den Kongress erreicht, wo
Umweltministerin Marina Silva wegen ihrer Ablehnung des Ausbaus angefeindet
wird. Sie will die Straße unter staatliche Kontrolle stellen und die
betroffenen indigenen Völker vorab anhören. Im Kongress wird sie dafür von
rechtsextremen Politikern beschuldigt, „den Fortschritt zu behindern“ –
eine Rhetorik, mit denen rechte Netzwerke ihre Anhänger in den sozialen
Medien mobilisieren.
Gisela Puschmann, die in Deutschland Workshops gegen Rechtsextremismus und
Desinformation durchführt, sieht eine gefährliche Parallele zwischen
Klimaleugnung und autoritärer Rhetorik. „Diese Gruppen leugnen die
Klimakrise und propagieren eine autoritäre Weltanschauung. Brasilien ist
kein Einzelfall – wir stehen in Europa vor derselben Herausforderung“, sagt
sie.
Für Puschmann folgen Angriffe auf Umweltaktivisten wie Marina Silva einem
globalen Muster: Wissenschaft diskreditieren, abweichende Meinungen
delegitimieren und Empörung instrumentalisieren. Das mache die extreme
Rechte in Brasilien ebenso wie die AfD in Deutschland, die ebenfalls
versuche, Umweltpolitik zu delegitimieren.
Deutschland gehört zu den Ländern, die regelmäßig in den Amazonas-Fonds
einzahlen, und hat über das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die staatliche KfW bereits mehr
als 65 Millionen Euro für den Waldschutz bereitgestellt. Ein Teil dieser
Mittel fließt in das [5][„Schutzgebiete Amazonas“-Programm (ARPA)], das
geschützte Gebiete in sensiblen Bereichen wie der Umgebung der BR-319
unterstützt.
## Auf dem Weg in den ökologischen Kollaps?
In der Praxis hat die deutsche Unterstützung Maßnahmen gegen Abholzung, für
Umweltüberwachung und technische Schulungen für Manager und lokale Akteure
ermöglicht, die sich für den Erhalt des Regenwaldes einsetzen. Angesichts
der Größe Amazoniens und der wenigen Zeit, die verbleibt, das Erreichen
eines Kipppunkts zu vermeiden, dürfte diese Hilfe aber nicht ausreichen.
Als der Bus nach einer langen Fahrt Manaus endlich erreicht, frage ich
mich, welche Zukunft die BR-319 wohl haben wird. Ohne strenge
Umweltschutzmaßnahmen könnte der Ausbau der Straße den ökologischen Kollaps
des Amazonasgebiets beschleunigen. Brasiliens Entscheidungen im Bereich der
Infrastruktur stellen nun einen kritischen Klimatest dar – und die Zeit für
einen Kurswechsel wird knapp.
Cley Medeiros ist ein brasilianischer Journalist. Er arbeitet für die
Tageszeitung [6][A Crítica] in Manaus.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Ole Schulz
29 Jul 2025
## LINKS
[1] /Autobahn-durch-den-Amazonas-Regenwald/!6073113
[2] https://atmosphere.copernicus.eu/copernicus-pantanal-and-amazon-wildfires-s…
[3] https://allianceofdemocracies.org/democracy-perception-index
[4] https://scispace.com/authors/lucas-ferrante-3zb0j2zuqr
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Amazon_Region_Protected_Areas_Program
[6] https://www.acritica.com/
## AUTOREN
Cley Medeiros
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