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# taz.de -- Initiative für handlungsfähigen Staat: Es braucht Investitionen i…
> Die Vorschläge der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ für …
> Soziale Arbeit würden Probleme produzieren, statt sie zu lösen.
Bild: Soziale Probleme durch die rosarote Brille sehen, statt sie zu lösen: Di…
Die [1][„Initiative für einen handlungsfähigen Staat“] verspricht für die
Soziale Arbeit einen Befreiungsschlag: Digitale Plattformen sollen
Leistungen bündeln, Anspruchsregelungen vereinheitlicht, Verwaltungsebenen
entwirrt werden. Ein Nationaler Bildungsrat soll den Flickenteppich der
Zuständigkeiten ordnen, Schulen mehr Autonomie bekommen. Effizienz,
Transparenz, Klarheit.
Wer auf die Praxis der sozialen und pädagogischen Felder schaut, ist
überrascht: Zwar wäre eine klarere Aufgabenverteilung zwischen Kommunen,
Ländern und Bund wichtig, ja. Denn Verantwortung und Zuständigkeit sind
zersplittert. Wenn die einen neue Rechtsansprüche etablieren – etwa
Ganztagsbetreuung –, während andere für Ausbildungskapazitäten zuständig
sind und nicht parallel Maßnahmen zum Ausbau treffen, entsteht genau das,
was wir jetzt haben: Personalmangel, Arbeitsverdichtung, Wissensverlust
durch Fluktuation, Konflikte im Team, fehlende Räume für Reflexion – das
gefährdet heute in der Sozialen Arbeit Qualität und Schutz. Kommen dann
noch digitale Systeme und Steuerungsreformen hinzu, ohne die Personalseite
mitzudenken, droht noch mehr Überforderung.
Ein Beispiel: Wenn Sozialleistungen über eine zentrale Plattform zugänglich
werden, entsteht kein Zentimeter mehr Beratungskapazität im Jugendamt. Dort
steuern wenige Fachkräfte Kinderschutzverfahren, organisieren Hilfen,
bearbeiten über hundert Fälle. Digitale Antragssysteme schaffen neue
Standards, die weniger der fachlichen Arbeit dienen als der Absicherung der
Verwaltung. Dazu kommen Dokumentationspflichten, um zu zeigen: Wir haben
alles im Griff. Ergebnis: mehr Verwaltung, weniger Beziehung – weil
Kommunen und Träger merken, ihnen entgleitet die Kontrolle. Technik
entlastet nicht, sie verschiebt nur Belastungen.
Auch im Bildungsbereich sieht es nicht besser aus.
Schulsozialarbeiter*innen schlichten Konflikte oder springen als
Vertretung ein. Grundschullehrkräfte sagen Eltern, das Lesen üben müsse zu
Hause stattfinden – man komme im Unterricht nicht mehr dazu, weil zu viele
Schülerinnen zu unterschiedliche Bedürfnisse hätten. Ein Nationaler
Bildungsrat kann Standards setzen, aber nicht das Personal herzaubern, das
sie umsetzt. Ohne Ressourcen werden neue Vorgaben schnell zur
Überforderung.
## Schutzräume werden zu Hochrisikozonen
Ein Blick in den Alltag: Eine Erzieher*in wickelt, tröstet, führt
Elterngespräche, plant den nächsten Tag und braucht dafür wöchentlich
unbezahlte Mehrarbeit. Eine Fachkraft in der Wohngruppe ist nachts allein
für zehn Jugendliche verantwortlich, darunter ein Kind nach einem
Suizidversuch. Im Jugendamt sagt eine Mitarbeiterin: „Ich habe mich noch
nie so sehr gefürchtet, eine Akte zu schließen.“ Aus der Behindertenhilfe:
„Ich kenne meinen Klienten kaum – ich bin immer nur Springer.“
Und es geht noch tiefer. Verletzendes Verhalten ist keine Seltenheit mehr,
sondern neue Normalität. Gewalt geht nicht nur von Klient*innen aus,
sondern auch von überforderten Fachkräften – gegen Klient*innen, gegen
Kolleg*innen. Nicht aus Böswilligkeit, sondern aus institutioneller Kälte:
Wenn zu wenig Personal da ist, werden Schutzräume zu Hochrisikozonen. „Ich
bin hier, um die Defizite des Elternhauses langfristig auszugleichen und
Jugendlichen ein besseres Leben zu ermöglichen“, sagt ein Mitarbeiter der
offenen Jugendarbeit, „aber ich komme nicht mehr hinterher. Irgendwann
passiert’s: Es ist mir egal, ob die sich keilen.“
Diese Kälte [2][trifft auch die Ausbildung]. Studierende berichten, sie
seien vom ersten Tag an als Arbeitskraft eingeplant: „Ich war allein in der
Spätschicht, ohne Einweisung.“ Theorie-Praxis-Verzahnung bedeutet oft:
beides gleichzeitig meistern zu müssen – und am Ende bleibt beides auf der
Strecke. Wer nie gut eingearbeitet wurde, kann später kaum qualitätsvolle
Arbeit leisten, schon gar nicht bei steigenden Fallzahlen und immer
komplexeren (psychischen) Problemlagen von Kindern und Jugendlichen.
Drei Viertel der Teams haben in den letzten zwölf Monaten Personalwechsel
erlebt. Nicht wegen Geld, sondern wegen Überlastung. Was bleibt?
Arbeitsverdichtung, Verlust von Erfahrung, schleichende Destabilisierung.
Neue müssen eingearbeitet werden, Erfahrene parallel den Weggang der Hälfte
eines Teams kompensieren. Hohe Verantwortung, kein Halt. Reflexion fällt
aus. Es bleibt das „Abarbeiten“: tun, was nötig ist, um den Tag zu
überleben.
## Viel mehr als Verwaltung
Und die Folgen? Kinder erleben wechselnde Bezugspersonen, lernen: Hilfe ist
unzuverlässig. Jugendliche merken, dass Systeme nicht tragen. Menschen mit
Behinderung treffen auf erschöpfte Betreuende. Wohnungslose stehen vor
überforderten Einrichtungen. Eltern werden „von Pontius zu Pilatus“
geschickt. Studierende lernen, zu funktionieren statt zu verstehen. Was
hier verloren geht, ist mehr als Versorgung. Es ist Vertrauen – in
Einrichtungen, in Professionen, in den Sozialstaat.
Die Initiative übersieht: Ohne Investition in Menschen bleibt Investition
in Strukturen ein leeres Modernisierungsversprechen. Digitalisierung,
Zentralisierung, Autonomiezuwachs – das alles sind Werkzeuge. Sie können
Prozesse verbessern, aber keine Beziehung ersetzen. Sie können Verfahren
beschleunigen, aber kein Vertrauen aufbauen. Sie können Verwaltung
verschlanken, aber nicht die soziale Infrastruktur tragen.
Was es braucht? Nicht weniger Reform, sondern eine andere: eine, die
Personalentwicklung, Qualifizierung, Schutzräume für Fachlichkeit ins
Zentrum stellt. Die Standards sichert, nicht flexibilisiert. Die
Personalschlüssel stärkt, nicht aufs Notwendigste reduziert. Eine Reform,
die versteht, dass das Soziale nicht nur Verwaltung ist – sondern der Ort,
an dem Gesellschaft sich trägt. Oder zerbricht.
25 Jul 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Nikolaus Meyer
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