# taz.de -- Leiterin über Avantgarde-Festival: „Experimentell ist bei uns da… | |
> Jeanne-Marie Varain kuratiert das Avantgarde-Festival im Dorf Schiphorst | |
> bei Hamburg. Ihr Wunsch ist, sich auf Dinge einzulassen, die es noch nie | |
> gab. | |
Bild: Avantgarde kann auch chillig sein: das Festival im Jahr 2017 | |
taz: Frau Varain, was ist das Avantgarde-Festival? | |
Jeanne-Marie Varain: Das Avantgarde-Festival ist eine Zusammenkunft von | |
Menschen, die Lust auf das Experiment haben. Es findet mitten aufm Dorf | |
statt und bringt dort Musik fernab des Mainstream auf die Bühne. Wir | |
bezeichnen es gerne als Happening, weil neben der Musik noch andere Dinge | |
passieren, die uns genauso wichtig sind: Zusammenkunft, Kulinarik, | |
darstellende und performative Kunst. | |
taz: Wenn ich an Avantgarde denke, denke ich an „krachig und unbequem“. | |
Richtiger Gedanke? | |
Varain: Ich glaube nicht. Es kann auch klein und fein sein. Avantgarde ist | |
überall! Wenn wir über Experimentelles reden, ist das bei uns eher das | |
[1][soziale Miteinander]. Hier gibt es gemeinsames Anpacken, alle begegnen | |
einander auf Augenhöhe – das ist in unserer Gesellschaft nicht alltäglich. | |
Und musikalisch? Wer in der Szene ist, hat ohnehin schon alles gehört. Für | |
die Gäste, die hier aus der Gegend kommen, ist alles sehr ungewohnt, was | |
ich auf die Bühne stelle. Wir haben den Willen, uns auf Dinge einzulassen, | |
die es noch nie gab. | |
taz: Wie machen Sie auf sich aufmerksam? | |
Varain: Wir haben schon viele Formen der Werbung ausprobiert. Aber wir | |
haben gemerkt: Wir sind zu szenig und nischig. Die Leute kommen fast nur | |
über Mund-zu-Mund-Propaganda. Ich glaube auch nicht an große Namen. Die | |
bringen nicht unbedingt mehr Leute. | |
taz: Und wie finanziert sich das Festival? | |
Varain: Klar war mir: Ich möchte KünstlerInnen vernünftig bezahlen. Wir | |
haben Geld von der Initiative Musik Festivalförderung bekommen, darüber | |
können wir alle Gagen finanzieren. | |
taz: 25 bis 35 Euro für ein Tagesticket – das sind Preise wie in den | |
Nullerjahren! | |
Varain: Es müsste mehr sein, um alle fair bezahlen zu können, aber unsere | |
Kalkulationen gehen auf. Die Leute haben ja nicht mehr Geld als früher. | |
Teilhabe ist uns wichtig – jeder soll kommen können. Wir gehen höchstens | |
plus/minus null raus. Der Aufwand ist der einer halben Stelle, und zum Ende | |
hin der einer Vollzeit-Stelle. Alles im Ehrenamt. Das geht nur als | |
Freiberuflerin und wenn man sich überarbeitet. | |
taz: Sie haben bis 2024 das große [2][Moers-Festival] am Niederrhein | |
kaufmännisch geleitet. Was haben Sie da mitgenommen? | |
Varain: Ich habe viel über Kulturpolitik gelernt. Das hat viel mit | |
Klinkenputzen zu tun. Die Förderlandschaft in Schleswig-Holstein ist eine | |
Katastrophe. Ich werde hier keinen Antrag mehr stellen, ohne zuvor die | |
dafür zuständige Person kennengelernt zu haben. Das ist sehr kräftezehrend. | |
Wir sind auf halber Strecke zwischen Lübeck und Hamburg; ich habe | |
Stiftungen in beiden Städten angeschrieben. Es gibt hier kein Geld, dabei | |
ziehen so viele Hamburger*nnen aufs Land. Warum können wir nicht als | |
Festival vor den Toren der Stadt Geld bekommen? | |
taz: Eigentlich hatten Sie 2019 das allerletzte Avantgarde-Festival | |
gefeiert … | |
Varain: Wir waren sicher, dass es die letzte Ausgabe sein würde. Wir | |
dachten: So schön bekommen wir es nicht noch einmal hin. Dann kam eine | |
Pandemie, und damit Rückschläge für Kulturschaffende, und die hören auch | |
nicht auf. Da spürt man auch Verantwortung. Gerade im ländlichen Raum, | |
gerade in Schleswig-Holstein. Es braucht Orte, an denen man sein kann, wie | |
man ist. Es braucht die Konfrontation mit den Menschen in der Umgebung. | |
taz: Ist es ein politisches Festival? | |
Varain: Ich bin keine Rednerin, ich bin zu 100 Prozent Macherin: Eine der | |
größten politischen Aktionen ist die Erschaffung von Räumen. Jeder kann | |
hier angstfrei so sein, wie er möchte. Das wird funktionieren, auch in | |
einem Dorf, in dem über 20 Prozent [3][AfD] gewählt haben. | |
taz: Sie engagieren sich gegen rechts? | |
Varain: Wir haben fürs Bündnis „Verlage gegen rechts“ gespendet, nun haben | |
die uns antifaschistische Poster geschickt, die auf dem Gelände als | |
Ausstellung präsentiert werden. Wichtig ist uns auch der Schutz von trans* | |
Menschen, denn nicht nur [4][in den USA hat die Transphobie zugenommen.] | |
Die Kulturlandschaft muss auch Möglichkeiten schaffen auszureisen. Wir | |
hatten eine US-amerikanische Künstlerin, die auch einen mexikanischen Pass | |
besitzt. Sie hat unter Tränen absagen müssen, weil ihre Angst groß war, | |
nicht wieder in die USA einreisen zu dürfen. | |
taz: Sind Ihre Mutter Carina und Ihr Vater Jean Hervé Peron, die das | |
Festival vor 49 Jahren gegründet haben, weiterhin involviert? | |
Varain: Ja, mein Vater ist stolz, dieses Jahr Parkplatzwächter sein zu | |
können. Ich glaube, sein Lieblingsberuf wäre Hausmeister gewesen, wäre er | |
nicht aus Versehen Musiker geworden. Meine Mutter dagegen hilft der | |
Catering Crew. Sie ist so etwas wie die Grande Dame der | |
Festival-Care-Arbeit. | |
20 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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