# taz.de -- Avantgarde Festival in Schiphorst: Der Traum ist aus | |
> Nach 23 Jahren feiert das Avantgarde Festival am kommenden Wochenende | |
> Abschied. Erinnerungen an eine nervenaufreibende Parallelwelt voller | |
> Schönheit. | |
Bild: Mehr Happening als kuratierte Veranstaltung: Das Avantgarde Festival 2017 | |
Hamburg | taz Wer nur zwei von Dutzenden von Ausgaben erlebt hat, kann kaum | |
für sich beanspruchen, das Avantgarde-Festival zu kennen. Doch die | |
Eindrücke, die dieses spinnerte, liebenswerte Kleinod eines Festivals im | |
schleswig-holsteinischen Niemandsland hinterlassen hat, prägen noch Jahre | |
danach. | |
An einem kühlen Junimorgen aus dem Zelt auf die Wiese zwischen Scheune und | |
Maisfeld zu kriechen; die 100 Meter bis zum Innenhof zu schlurfen und dort | |
in ein Marmeladenbrötchen zu beißen, umringt von Dutzenden von | |
Transistoren, die die frühe Samstagmorgenluft mit den sirrenden | |
Störgeräuschen des festivaleigenen Radiosenders „Avantgarde FM“ füllen. | |
Später auf selbigem Hof am Feuer zu sitzen, und selbst gemachten Kuchen zu | |
essen, während im Hintergrund zwei Künstler auf einem riesigen Stahlträger | |
herumklöppeln. Ist das Kunst? Oder nervt das nur? Auf amüsante Art | |
unterhaltsam ist es in jedem Fall. Das Avantgarde Festival unterlief mit | |
seinem fordernden, anstrengenden, kopflastigen Programm stets die | |
Erwartungen, die die sanfte Landidylle geweckt hatte. Und wusste dann umso | |
mehr zu begeistern, wenn plötzlich aus der Kakophonie pure Schönheit wurde. | |
Hippie-Zeit in Hamburg. Man schreibt das Jahr 1970 oder 1971. Gitarrist | |
Jean-Hervé Peron ist einer der Gründungsmitglieder der Band Faust. In Wümme | |
südlich der Elbe richtet man sich in einer alten Dorfschule ein Studio ein | |
und nimmt monotone, raue, anarchische Gitarrenmusik auf, die die Engländer | |
später „Krautrock“ nennen sollten. Man tourt unablässig, zerstreitet sich, | |
findet wieder zusammen. Peron zieht mit Familie auf einen alten Bauernhof | |
in das 600-Seelen-Dorf Schiphorst zwischen Hamburg und Lübeck. 1996 ruft er | |
dort mit seiner Frau Carina Varain die erste Ausgabe des | |
Avantgarde-Festivals ins Leben und lädt KünstlerInnen dazu ein, die er auf | |
seinen Reisen um die Welt kennengelernt hat. Schon damals dabei: Tochter | |
Jeanne-Marie, geboren 1990. | |
## Der Traum beginnt | |
„Meine Mutter stemmte stets die letzte Tresenschicht“, erinnert sich | |
Jeanne-Marie. „Und ich habe auf dem Tresen geschlafen, während das Bier | |
über mich rübergereicht wurde. Das war ein sicherer Ort.“ Das Festival sei | |
wie eine zweite Schule für sie gewesen, meint die Künstlerin, die an der | |
HBK Braunschweig Bildhauerei studiert hat. Mit jedem Festival übernimmt die | |
junge Frau mehr Verantwortung, die 2017er-Ausgabe veranstaltete sie in | |
einem Dreierteam mit den Kommilitoninnen Muerbe und Droege. „Das Festival | |
hat uns gelehrt, dass wir nichts mit dem existierenden Kunstmarkt zu tun | |
haben wollen“, sagte Jeanne-Marie im Jahr 2017. „Dort geht es um Egos, um | |
die Idee des Künstlergenies. Diese Verhältnisse gefallen uns nicht. Wir | |
glauben an das Kollektiv.“ | |
Beim Avantgarde-Festival gibt es keinen Backstage-Bereich, in der Küche | |
wird gemeinsam gegessen, auf der unkuratierten Bühne kann jeder spontan | |
performen. Es gibt für niemanden einen Rückzugsort. Dafür eine | |
Parallelwelt, in der auch geträumt werden darf. Jeanne-Marie: „Beim letzten | |
Mal haben wir am Sonntagnachmittag, am Ende des Festivals, Lennons | |
‚Imagine‘ gesungen. Mit allen, die da waren. Das war schwer daneben und | |
kitschig. Und wunderschön.“ | |
Vom 21. bis 23. Juni soll es eine „Final Utopia“ geben, getreu dem | |
Festival-Motto „Three Days of Utopia“. Der Eintritt ist umsonst, Frühstück | |
gibt es gegen Spende. | |
„Es wird eine Bühne geben, groß genug für sechs bis sieben MusikerInnen und | |
eine gute Soundanlage – aber keine weitere Betreuung“, heißt es auf der | |
Website. Die FestivalmacherInnen werden sich nicht um Aufbau, Abbau und | |
Auftrittsreihenfolge kümmern und auch keine TontechnikerInnen stellen. | |
„Für uns ist die Idee der Avantgarde ein Dazwischen. Fortschritt oder | |
Rückschritt ist keine Kategorie, für uns zählt die Zwischenmenschlichkeit. | |
Gemeinsam im Moment etwas tun. Die Avantgarde ist auch ein Fluchtgedanke | |
aus dem Jetzt“, steht da noch. Und: „Die Musik und die Kunst muss nicht | |
unbedingt wild und revolutionär sein.“ | |
Jeanne-Marie erwartet KünstlerInnen aus ganz Europa, auch jeweils einen | |
Musiker aus Japan und Kalifornien. „Wenn auch nur die Hälfte der Künstler, | |
die sich angemeldet haben, auftreten, werden wir alle total abgehen. Und | |
auch wer noch nie hier war, ist herzlich willkommen. Aber vor allem soll es | |
eine Abschiedsfeier werden.“ | |
Die MacherInnen freuen sich auf das Chaos, und wollen erst einschreiten, | |
wenn jemand wirklich zu scheitern droht, oder Mensch und Hof gefährdet sein | |
könnten. „Davon gehe ich allerdings nicht aus“, beruhigt Jeanne-Marie. „… | |
weiß – vielleicht findet am Freitag noch gar keine Musik statt, weil alle | |
sich erst einmal orientieren müssen. Aber wenn man an Beuys' Begriff der | |
‚Sozialen Plastik‘ denkt, dann gehört das vielleicht einfach dazu.“ | |
In Schiphorst ist auch deshalb Schluss, weil das Team Kommerz ablehnt, sich | |
weder auf Ticketpreise im dreistelligen Bereich noch auf Sponsoren | |
einlassen möchte. | |
„Wir hören vor allem aus persönlichen Gründen auf. Meine Eltern sind in | |
einem Alter, in dem sie es nicht mehr stemmen können und wollen“, sagt | |
Jeanne-Marie. „Die Wege unseres Dreierteams von 2017 haben sich getrennt – | |
und alleine kann ich den Traum nicht fortführen. Die Vorbereitungen haben | |
stets mindestens sechs Monate sehr straffe Arbeit erfordert.“ | |
Jeanne-Marie spricht von einem definitiven Abschied, man wolle sich | |
komplett aus der Organisation herausziehen. „Aber wenn es Leute gibt, die | |
hier künftig etwas veranstalten wollen, dann sind wir ein Hof mit offenen | |
Herzen und Armen.“ | |
Gegen Ende des Gesprächs schwärmt Jeanne-Marie Varain vom Leben auf dem | |
Bauernhof. „Es ist viel niedrigschwelliger, ein Festival abseits der Stadt | |
zu veranstalten. Ich klopfe einfach beim Bürgermeister an, ob er uns den | |
Stromkasten aufschließen mag. Ich kann jedem nur empfehlen, aufs Land zu | |
ziehen.“ | |
Mittlerweile haben andere Festivals das Konzept eines wenig kuratierten | |
Happenings übernommen. „In Chemnitz gibt es das Do It Together, | |
veranstaltet von FreundInnen von mir, die einmal Scouts in Schiphorst | |
waren.“ Die MacherInnen des Avantgarde Festivals mögen Träumer sein, aber | |
die einzigen sind sie nicht. | |
18 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan Paersch | |
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