# taz.de -- Avantgarde auf dem Land: Am Tisch mit den Klangkünstlern | |
> Zwischen Hamburg und Lübeck, im Dorf Schiphorst, startet am Freitag das | |
> "Avantgarde Festival": Europas größtes Live-Event für hörbares | |
> Experiment. | |
Bild: "Es gibt keinen VIP-Bereich": In Schiphorst werden Heuschober und Tenne z… | |
HAMBURG taz | „Vorne Korn, hinten Korn“: So beschreibt Jean-Hervé Peron die | |
außergewöhnlichste Übernachtungsmöglichkeit für Festivalbesucher: Ein | |
benachbarter Landwirt hat da inmitten seines Felds gemäht und bietet nun | |
eine kreisrunde Fläche für Zelte an. Wer keinen Platz mehr im Kornkreis | |
ergattert, kann auf zwei normale Wiesen ausweichen, keine hundert Meter von | |
den Bühnen entfernt. | |
Nähe ist das Markenzeichen des [1][Avantgarde Festivals im | |
schleswig-holsteinischen Schiphorst], nicht nur, weil es ohne | |
Backstage-Bereich auskommt. „Wenn eine Musikerin oder | |
Performance-Künstlerin sich umziehen will“, erzählt Peron, „dann tut sie | |
das bei uns im Wohnzimmer.“ Vor 20 Jahren zog der Sänger und Gitarrist, in | |
den 1970er-Jahren Mitglied der Krautrock-Band Faust, mit seiner | |
Lebensgefährtin, der Künstlerin Carina Varain in das Dorf nahe Lübeck. Seit | |
18 Jahren verwandelt das Paar Heuschober und Tenne ihres Bauernhofs | |
jährlich zur Bühne für experimentelle Kunst und Musik, seit 2003 offiziell | |
– als Avantgarde Festival. | |
„Wir gründeten den Verein Avantgarde Schiphorst e. V., aber in unserer | |
Scheune werden übers Jahr genauso plattdeutsche Lieder gesungen oder | |
Theaterstücke für Kinder gespielt. Man will ja manchmal auch etwas ganz | |
Normales sehen“, sagt Peron. Kaum in Schiphorst angekommen, trat er der | |
freiwilligen Feuerwehr bei, seine Lebensgefährtin ist mittlerweile sogar | |
Vize-Bürgermeisterin. „Wir sind hier akzeptiert“, erzählt der Hausherr – | |
„wenn auch die Bauern nicht unbedingt zum Festival kommen, schauen sie doch | |
interessiert rüber.“ | |
Um die 600 Einwohner hat Schiphorst, etwa 400 bis 600 Musiker und Fans | |
kommen jährlich zum Festival – damit gilt es als eines der größten | |
Live-Events für experimentelle Musik in Europa. „’Nackt‘ auftreten, hier | |
und jetzt ohne Soundcheck rausgehen, es gibt höchstens einen Line-Check“, | |
beschreibt Peron die spontane, direkte, pure Art, wie performt wird – und | |
wie wenig merkantile Aspekte hier eine Rolle spielen. | |
Wie es gefallen hat, kann mit den Künstlern diskutiert werden: direkt nach | |
dem Auftritt am Lagerfeuer, das am Mittwoch angezündet wird bis Dienstag | |
durchgängig brennt – der kommunikative Mittelpunkt des Festivals. Oder am | |
nächsten Morgen beim Frühstück, das alle gemeinsam an langen Tischen | |
einnehmen. Marmeladebrötchen essen, dabei Krautrock-Legenden | |
gegenübersitzen und Konzertkritik üben: Das ist so wohl nur in Schiphorst | |
möglich. | |
## "Jump for Joy" | |
„Jump for Joy“ lautet das diesjährige Motto des Festivals, auch das kam | |
spontan zustande, als der Veranstalter seinen Hund dabei beobachtete, wie | |
er voll Begeisterung nach einem Schneeball schnappte. „Panou wollte im | |
Grunde das Unmögliche, hatte aber eine Menge Spaß dabei. Ich drückte auf | |
den Auslöser, schickte das Foto herum und eine Freundin aus Texas schrieb | |
sofort zurück: ’Jump for joy!‘“ | |
Jump for Joy, so nennt sich auch eine Formation, die am kommenden Samstag | |
auftreten wird, nicht auf der größten der vier Bühnen des Gehöfts, aber | |
vielleicht auf der atmosphärischsten: dem Heuboden. Über eine steile | |
Holztreppe zu erreichen, tut sich ein hoher Raum auf, mit Blick auf Gebälk | |
und in ein Spitzdach hinein. „Hier wird eher unplugged gespielt. Die | |
intensiven, lauteren Gruppen spielen unten in der Tenne“, sagt Peron, neben | |
Mani Neumeier, Zappi Diermaier, Chris Cutler und Geoff Leigh selbst Teil | |
des Projekts. | |
Leiser wird es dieses Jahr auch um Faust: Wer funkensprühende | |
Industrial-Kreißsägen erwartet, muss umdenken. „Das Wesen von Faust ist, | |
sich immer wieder neu zu finden. Zappi und ich spielen allein und stellen | |
’Just us‘ vor, unsere CD, die Ende 2014 erscheinen wird.“ | |
## Generationswechsel in der Leitung | |
Neu wird ab diesem Jahr auch die Ausrichtung des Festivals sein: Jean-Hervé | |
Peron gibt das Zepter weiter an die Tochter, Jeanne-Marie Varain. Die | |
24-jährige Kunststudentin wird Performances, Poetry und der bildenden Kunst | |
mehr Raum geben. „Unser Festival soll seine Dynamik behalten – und meine | |
Energie ist begrenzt“, sagt Peron. Die KünstlerInnen kommen dieses Jahr aus | |
16 Nationen. Evelina Petrova etwa hat in St. Petersburg klassisches | |
Akkordeon studiert, aber mindestens so beeindruckend ist ihre wortlose | |
Vokalkunst. Aus Istanbul kommt die introvertiert-träumerische Ekin Fil mit | |
ihren entrückt-psychedelischen Klängen, aus Australien Rishin Singh, dessen | |
Posaune auf der Bühne derart verfremdet klingt, dass niemand mehr ans | |
ursprüngliche Material denkt. | |
Mit Bass und Overheadprojektor reisen John Eckhardt und Katrin Bethge aus | |
Hamburg an: Während Wasser, Zucker und Zitronensäure sichtbar miteinander | |
reagieren, wandelt der Bass auf Krautrock- und Dub-Spuren. Aus Japan | |
schließlich fliegt Morihide Sawada ein – um anzuklagen: die Machtlosigkeit | |
gegenüber der Atomindustrie, die der Welt die Fukushima-Katastrophe | |
gebracht hat. Er spielt Minimalistisches auf einer einzelnen Snare-Drum – | |
er braucht sonst nichts, vor allem keinen Strom. | |
## ■ 20.–22. Juni, Steinhorsterweg 2, 23847 Schiphorst. | |
15 Jun 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.avantgardefestival.de/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Henssen | |
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