# taz.de -- Tanzsport: Es darf auch mal bescheuert aussehen | |
> Wenn unsere Autorin „Gaga“ tanzt, wird sie zu einer Spaghetti im heißen | |
> Wasser. Bei der Tanzpraxis bewegen sich Menschen ohne Spiegel oder | |
> Publikum. | |
Bild: Eine Klasse von Ohad Naharin, dem Gründer der Tanzpraxis Gaga, performt … | |
Berlin taz | Um mich herum tanzen alle, während ich auf einem schwarzen | |
Stuhl in der Mitte sitze. Sie tanzen für mich, sie lächeln mich an. Ich | |
lächle zurück. Auf dem Stuhl tanze ich auch, nur mit dem Oberkörper, da ich | |
meine Beine nicht bewegen darf. Ich will ihnen zeigen, dass ich trotzdem | |
tanzen will und kann, dass das Tanzen mich glücklich macht. Ich lasse meine | |
Hüfte kreisen, meine Arme sind wie durch unsichtbare Seile miteinander | |
verbunden und schwingen im Takt. Mein Kopf dreht sich nach links und | |
rechts, meine Augen sind halb geschlossen, der Mund leicht geöffnet. | |
Das ist kein Traum, sondern eine Szene aus einer meiner letzten | |
Tanzstunden. „Stellt euch vor, ihr seid Bodybuilder, die im Meer schweben | |
und versuchen dabei zu tanzen“, lautete die Anweisung der Lehrerin. Im | |
nächsten Moment ruft sie: „Travel!“, und plötzlich beginnen alle, durch d… | |
Studio zu rennen und herumzuspringen, als wären sie eine Herde wilder | |
Pferde. Klingt verrückt? Genau das ist die Idee hinter Gaga: [1][Tanzen als | |
Bewegungssprache], nicht um der Performance willen. Das kann und darf auch | |
mal bescheuert aussehen. | |
Seit sechs Jahren tanze ich Gaga, bis zu drei Mal pro Woche. Mein erster | |
Versuch endete damit, dass ich wieder nach Hause zurückfuhr, ohne das | |
Tanzstudio überhaupt betreten zu haben. Im Vorfeld hatte ich mir Videos | |
angeschaut, und während ich in der Schlange stand, musste ich mir | |
eingestehen, dass ich mich nicht traute. Sich frei bewegen – umgeben von | |
all diesen unbekannten Menschen, die superfit wirken? Nee. Dann versuchte | |
ich es noch einmal und wurde direkt süchtig. | |
[2][„Du tanzt zu Lady Gaga?“], fragen viele, wenn ich vom Gaga-Tanz | |
erzähle. Tatsächlich hat der Begriff nichts mit der Pop-Ikone zu tun. Er | |
kommt aus dem Französischen und wird für jemanden verwendet, der verwirrt | |
oder senil ist. Gaga ist eine Tanzpraxis, die der israelische Choreograf | |
Ohad Naharin in den neunziger Jahren entwickelte, während er die Batsheva | |
Dance Company in Tel Aviv leitete. Nach einem Unfall konnte er sich wegen | |
einer Rückenverletzung nur eingeschränkt bewegen. Aus dieser Erfahrung | |
erwuchs das Konzept, bei dem jede Person nach ihren persönlichen | |
Möglichkeiten mitmachen kann. Heute wird Gaga weltweit in Tanzkompanien, | |
Studios und Workshops unterrichtet und sowohl von Laientänzer*innen | |
als von Profis getanzt. | |
Wären meine Kreuzbänder nicht gerissen und vor knapp vier Monaten operiert | |
worden, würde ich nicht ganz hinten neben den zusammengeschobenen | |
Ballettstangen sitzen und auf dem Stuhl tanzen. Ich stünde so nah an der | |
Lehrerin wie möglich, damit ich sie besser hören und sehen kann, aber auch, | |
damit sie mich sieht. Der kleinen Streberin in mir gefällt es, die | |
Favoritin zu sein. Ich mag es, dass sie bemerkt, dass ich nicht nur Spaß | |
habe, sondern auch, dass ich Fortschritte mache. | |
## Schütteln im Liegen, wie bei einem Exorzismus | |
Mein Körper versteht vieles besser als damals, als ich noch Anfängerin war. | |
Zum Beispiel dass, wenn ich meinen Zeh bewege, auch mein Schlüsselbein | |
davon beeinflusst wird. Oder sich [3][die Wirbelsäule] so fließend und | |
flexibel wie Seetang anfühlen kann. Mit ein wenig Vorstellungskraft lässt | |
sich irgendwann jeder Wirbel eigenständig ansteuern. | |
Was ich ebenfalls gelernt habe: Die Bewegung ist im Körper schon da, wenn | |
man nur richtig „zuhört“. Flüssigkeiten, Organe, Zellen – in unserem | |
Inneren herrscht niemals völlige Ruhe, alles strömt, klopft und schwingt. | |
Man muss das, was da drinnen ist, nur nach außen tragen. | |
Aber seit ich verletzt bin und mich zurückziehen muss, hat sich noch etwas | |
verändert. Durch Gaga fühle ich mich trotz meiner körperlichen | |
Einschränkung nicht vulnerabel, sondern genieße es, dass ich trotzdem die | |
Freiheit habe, mich zu bewegen. Ich bin unabhängiger von den Blicken der | |
anderen geworden. So erkenne ich, dass Tanzen mich immer glücklich macht – | |
nicht nur, wenn ich im Vordergrund stehe. | |
Bei Gaga gibt es keine Zuschauer*innen, nicht einmal unsere eigene | |
Reflexion: die Spiegel werden bedeckt. Gleichzeitig hält man die Augen | |
offen, so eine weitere Regel, um die anderen besser wahrzunehmen, sich von | |
ihnen inspirieren zu lassen und mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Es geht | |
bei Gaga vor allem um Freude, an sich und an den anderen. Physischen | |
Kontakt zwischen Teilnehmer*innen gibt es keinen. | |
Wer eine Pause braucht, muss den Raum verlassen. Eine Stunde tanzen wir | |
sonst ununterbrochen, inklusive der Lehrer*in, die Intensität der | |
Bewegungen dürfen wir je nach Verfassung an unsere Energie und Stimmung | |
anpassen. | |
An diesem Tag bin ich so ergriffen, dass alle für mich tanzen, dass ich | |
heulen könnte. Als uns die Lehrerin auffordert, im Wasser zu treiben – | |
„Float!“ –, kommen alle zur Ruhe, die Bewegungen werden langsamer, jede*r | |
findet einen neuen Platz im Raum. Ich werde vergessen. Dann folgt einer | |
meiner Lieblingsmomente: Wir liegen auf dem Boden und atmen ein und aus. | |
Ich stelle mir vor, dass wir auf einer Wiese voller Tau liegen, frühmorgens | |
oder spätnachmittags, als würde aus all unseren Atemzügen eine Feuchtigkeit | |
aufsteigen, die sich wie eine leichte Schicht über uns ausbreitet. | |
„[4][Ihr seid wie Spaghetti im heißen Wasser]“, heißt es als Nächstes, u… | |
dann schütteln wir uns im Liegen wie bei einem Exorzismus, während wir laut | |
von 10 bis 0 zählen. | |
Betrachtet man Tanzen nicht nur als Praxis, sondern auch als Sprache, ist | |
die Geschichte natürlich besonders wichtig. Vielleicht befinden sich die | |
Lehrer*innen bei Gaga deshalb in der Mitte der Runde, als wären sie | |
Märchenerzähler*innen. Sie sagen nicht: „Spannt euren Körper an!“, sonde… | |
laden dazu ein, uns vorzustellen, dass wir uns durch dicken Honig bewegen. | |
Es heißt nicht: „Streckt euch aus“, sondern: „Sucht den maximalen Abstand | |
zwischen euren Extremitäten“. „Piece of cake!“, das ist doch nichts, sag… | |
einige Lehrer*innen, wenn es besonders anstrengend wird. Bringt man die | |
Schultern aus ihrer gewohnten Position, gehen sie „spazieren“. Lässt beim | |
Tanzen jemand seine Arme hängen, heißt es: „Die Arme sind nicht tot!“ All | |
das ist aber kein bisschen esoterisch, sondern sehr pragmatisch und vor | |
allem spürbar. | |
Bei Gaga sind wir nicht nur Bodybuilder oder Spaghetti, sondern manchmal | |
auch Drummer, die ihren eigenen Körper als Schlagzeug benutzen. Oder | |
Läufer*innen. Ohne uns vom Fleck zu bewegen, rennen wir, so schnell wir | |
können. Ich „laufe“ nur mit den Armen und versuche, meine Füße und Beine | |
stillzuhalten. Doch die Geschwindigkeit, das Schwitzen und die sichtbare | |
Erschöpfung meiner Mittanzenden erfüllen mich mit Freude. Und mit Power. | |
Ich bin noch nie müder aus einer Gaga-Stunde gegangen, als ich gekommen | |
bin. | |
Am Ende der Stunde eilen die meisten Teilnehmer*innen zu ihren | |
Wasserflaschen, beginnen sich zu stretchen oder huschen in die Umkleide und | |
gehen unter die Dusche. Aber einige, ich eingeschlossen, tanzen weiter, bis | |
wir irgendwann aus dem Studio geschmissen werde | |
9 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Was-beim-Tanzen-passiert/!5075850 | |
[2] /Neues-Album-Harlequin-von-Lady-Gaga/!6040296 | |
[3] /Bandscheibenvorfall-und-Co/!5166187 | |
[4] /Billig--Marken--und-Edelpasta-im-Test/!5949647 | |
## AUTOREN | |
Luciana Ferrando | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Tanzen | |
Genuss | |
Tanz | |
sexuelle Belästigung | |
Der Hausbesuch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tanzperformance in Berlin: „Lets keep playing, until we get it right“ | |
In ihrem Solo „GRIT“ verbindet Milla Koistinen Tanz, Sport und | |
gesellschaftliche Resilienz. Was trägt die konzentrierte Choreografie der | |
Ausdauer? | |
Sexuelle Belästigung beim Tanz: Tatort Tanzfläche | |
Zahlreiche Frauen berichten von sexuellen Übergriffen in der Tanzszene. | |
Dahinter steckt ein System aus Täterschutz und Schuldzuweisungen an die | |
Opfer. | |
Der Hausbesuch: Sie tanzt weiter | |
Ende Juni jährt sich der Tod von Pina Bausch zum 15. Mal. Die Tänzerin | |
Thusnelda Mercy war das erste Baby in Bauschs Kompanie. |