# taz.de -- Live Art Festival in Hamburg: Die Dramaturgie eines Car-Crashs | |
> Auf Kampnagel Hamburg bringt ein Live Art Festival am Ende der Saison | |
> schillernde Bilder, Lapdance und Striptease, Taxifahrten und Unfälle | |
> zusammen. | |
Bild: In „Innocence“ vereinen sich Porno, Tanz und Politik entwaffnend selb… | |
Ein Herzschlag: Vielleicht ist das der Puls dieser ersten Tage [1][des Live | |
Art Festivals, das noch bis zum 15. Juni 2025 auf Kampnagel in Hamburg] | |
stattfindet. „How is your heart today?“ Fast privat wirkt diese Frage in | |
Marga Alfeirãos „no coração dela“ und macht unter der Handvoll | |
Performer*innen ein Gespräch auf über Liebe und Schmerz. Sie plaudern, | |
kichern und umarmen einander. Kurz darauf tanzen sie. | |
Die Performance der portugiesischen Choreografin hatte im vergangenen | |
Dezember in den Sophiensälen in Berlin Premiere. Ihr Titel klingt wie ein | |
Liebesroman, die Aufführung selbst ist eine weiche Mischung aus Girlstalk | |
und Lapdance, aus Glamour und Rotlicht. | |
Zärtlich tanzen Mariana Benenge, Myriam Lucas und Marga Alfeirão Lapdance, | |
bewegen sich zwischen Striptease, Provokation und Stolz. Voller Stolz, | |
manchmal fast Verachtung, begegnen sie schließlich ihrem Publikum – die | |
angekündigte „transformative Kraft des Miteinanders“ bleibt den Tänzerinn… | |
selbst vorbehalten. Entsprechend ist diese Performance zwar ziemlich schön | |
anzuschauen, zugleich aber auch merkwürdig ausgrenzend. | |
## Öffentliche Erregung | |
Göksu Kunaks Arbeit „Innocence“, ebenfalls ein Gastspiel aus den Berliner | |
Sophiensälen, nimmt einen Autounfall, der sich 1996 in der Türkei | |
ereignete, zum Ausgangspunkt. In dem Wagen saßen ein von Interpol | |
Gesuchter, der ehemalige Leiter der Istanbuler Polizeibehörde, eine | |
Schönheitskönigin sowie ein kurdischer Abgeordneter der rechtsgerichteten | |
türkischen Regierung. Bekannt wurde [2][diese Verstrickung aus Politik und | |
Kriminalität als Susurluk-Skandal]. Analytisch und ruhig spricht die | |
Künstler*in über den Susurluk-Crash und andere Autounfälle, über | |
Car-Crash-Songs wie „Airbag“ von Radiohead und Auto-Crash-Fetischist*innen, | |
die durch die Inszenierung und Teilnahme an Unfällen sexuell erregt werden. | |
Dazu flackert Dokumentarisches über eine Leinwand, werden Wrackteile | |
umtanzt, während Bilgesu Akyürek einen waghalsigen Pole Dance zum Besten | |
gibt und der Musiker Leo Luchini als beeindruckende | |
Kurt-Cobain-Reinkarnation „Polly says“ performt; eine Performance, die | |
Porno, Tanz und Politik entwaffnend selbstverständlich miteinander vereint | |
und irritierend nachhallt. | |
Zu wenig Nachhall bleibt nach „Taxi Darko“, einer „Autohistoria on Tour�… | |
Dahinter verbirgt sich eine etwa einstündige Taxifahrt in den Nordosten der | |
Hansestadt. In bescheidener Tonqualität erfährt man im Innenraum eines | |
Großraumwagens das ein oder andere aus dem Leben des Taxifahrers Bernard | |
Darko, befragt von seiner Tochter, der Künstlerin Zandile Darko. In Ghana | |
aufgewachsen, kam Darko über Nigeria nach Deutschland, wo er seit | |
mittlerweile 30 Jahren lebt. | |
Es ist ein suchendes Gespräch zwischen Vater und Tochter, in dem Bernard | |
Darko in charmantem Denglisch seine Gedanken über die Welt, über kulturelle | |
Unterschiede und die Anonymisierung der Gesellschaft in Zeiten des | |
Smartphones teilt, in dem er von lebensgefährlichen Überfällen erzählt und | |
seinem unglaublichen Entkommen über die Kanalisation. | |
Natürlich ist Darkos Erzählung voller Auslassungen und Lücken, gibt wenige, | |
selbstredend subjektive Einblicke in Politik und Geschichte Ghanas. Ohne | |
jegliche Gesprächsdramaturgie hinterlässt diese charmante Performance-Fahrt | |
allerdings zum einen die offene Frage nach Zandile Garkos (künstlerischer) | |
Haltung. Zum anderen ein unangenehm flaues Gefühl, das sich aus dem Setting | |
selbst speist: Die Geschichten der beiden physisch anwesenden Gastgeber | |
(Fahrer und Beifahrer) bleiben unerzählt. | |
## Kaleidoskop der Körper | |
Mit einem Beat wie ein menschlicher Puls (Musik: Thomas Bangalter) endet | |
„Mirage“, die deutsche Erstaufführung aus dem Grand Théâtre de Genève, … | |
damit das Auftaktwochenende des Festivals. Konzipiert wurde „Mirage“ von | |
dem belgischen Tänzer und Choreografen Damien Jalet. Eine mindestens | |
genauso große Rolle spielt wohl der japanische Künstler Kohei Nawa (Konzept | |
& Bühne). Seine visuellen Setzungen – von entsättigt, über flirrend, | |
dystopisch bis hin zum Stroboskoplicht, das dem dann herabfallenden | |
Glitzerpigmentregen ein Eigenleben verschafft und die Bewegungen der 16 | |
Tänzer*innen in eine surreale Welt enthebt – sind höchste Theatermagie. | |
Immer wieder scheinen die Tänzer*innen zu einem einzigen Organismus zu | |
verschmelzen, scheinen in ihren exakten Bewegungen mehr Muster als Mensch, | |
mehr Kaleidoskop als einzelner Körper, sind bald selbst ein „mirage“, eine | |
optische Täuschung. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Nawas | |
effektvolles, zunehmend effekthaschendes Konzept. Was von diesem surrealen | |
Bilderrauschen übrig bleibt, ist der überwältigende Eindruck einer | |
irrwitzigen, tänzerischen Perfektion, getaucht in einen Bühnenzauber aus | |
Licht, Nebel und Musik. Die zarte Frage „How is your heart today?“ hätte | |
hier vor lauter Technikglitzer allerdings keinen Resonanzraum mehr. | |
9 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://kampnagel.de/reihen/live-art-15-artzy-knartzy-vibe | |
[2] /Die-staatliche-Bande-muss-vor-Gericht/!1397700&s=Susurluk+Skandal&… | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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