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# taz.de -- Dragqueens beim Wrestling: Ringen bis zum Untergang
> Den oft sexistischen, homophoben und rassistischen Wrestlingshows in den
> USA setzt die Gruppe Choke Hole ein queeres Spektakel entgegen.
Bild: Na, wer ist stärker? Wrestling gegen das Böse auf Kampnagel in Hamburg
Herzlich willkommen zum Ende der Welt! In einem viereckigen Ring steht ein
menschengroßes Insekt. In den Händen: eine überdimensionierte Flasche
Insektenspray mit der Aufschrift „Kills on contact“ – tötet bei Kontakt.
Gegenüber ein*e Prediger*in, bewaffnet mit einer ebenso überdimensionalen
Hostie – oder ist es eine Pille? Gleich werden sie sich gegenseitig durch
den Ring jagen und sich unter dem Jubel des Publikums die riesenhaften
Requisiten um die Ohren schlagen. Zerbröselnde Hostienstücke fliegen in die
Zuschauermenge.
Herzlich willkommen zum [1][„Extreme Drag Wrestling“-Spektakel
„Armageddon“! In der Mitte der K6, der größten Hallenbühne des Theaters
Kampnagel Hamburg], ist ein sogenannter squared circle, ein Wrestlingring,
aufgebaut. Hier wird an diesem Abend der Weltuntergang eingeläutet.
Performt wird die Apokalypse von den US-amerikanischen, queeren
Drag-Wrestling-Stars der Gruppe Choke Hole: mit dabei Jassy, Visqueen,
Gorleenyah, RAID, Jocylene Change, Miss Toto, Otto Von Blotto, Laveau
Contraire und Trisha Bing Bong. Unterstützt werden sie von den lokalen
Dragqueens Gitte Schmitz als Schiedsrichter*in und Felicia Diamond als
Ringgirl sowie den Berliner Dragperformer*innen Gieza Poke, Ivana
Dicic, Aurah Jendafaaq und Patry Coal.
Es ist ein besonderer Abend. Ein Abend, an dem politischer Kommentar,
populistische Strategien und queere Communityarbeit extrem clever
kombiniert sind. Aufgeführt wird das Spektakel mit viel Lust an
Übertreibung, liebevollem Trash und exaltiertem Kitsch. Choke Hole
bedienen sich bei der selbst schon ziemlich extremen Welt des Professional
Wrestlings und nehmen sie als performative Blaupause für ihr Format: Die
Inszenierungsstrategien werden zugespitzt, die Codes übertrieben – und
verqueert. Was entsteht, nennen sie „XXXTREME QUEER WRESTLING“.
## Näher am Tanz als am Boxen
Wrestling also. Da war doch was? Erste Assoziationen bei vielen dürften
TV-Erinnerungen der 90er Jahre sein: Bilder von verschwitzen,
[2][muskulösen, hypermännlichen Körpern] in knapp sitzenden, glitzernden
Spandexhöschen. Einmal im Ring werfen sich die Gegner*innen mit brutalen
Griffen gekonnt durch die Luft und landen mit lautem Krachen auf dem Boden.
All das geschieht vor den Augen eines jubelnden Publikums. Ein*e
Schiedsrichter*in und ein*e Livekommentator*in durften nicht fehlen.
Was aussieht wie ein sportliches Kräftemessen, ist in Wahrheit reine Show:
Ablauf und Ausgang des Kampfs sind zuvor festgelegt. Der Kampf selbst ist
zwar nicht bis ins letzte Detail inszeniert, basiert jedoch auf einer
hochgradig akrobatischen Technik, die nur in Zusammenarbeit ausgeführt
werden kann.
Das scheinbar harte Gegeneinander der Körper ist eine Art Pas de deux,
näher am Tanz als am Boxen. Die Performer*innen haben die
Bewegungsabfolgen so verinnerlicht, dass sie sofort aufeinander reagieren
können – etwa beim „Bodyslam“, wenn die Gegner*innen auf die Schulter
gewuchtet und dann mit großer Geste auf den Boden geschmettert werden.
Die Performer*innen im Ring treten dabei als Kunstfiguren auf, als
skurrile und überzeichnete Charaktere. Vom ultramaskulinen Superhelden bis
hin zu übernatürlich dämonischen Wesen verkörpern sie stets zwei
Archetypen: die moralisch einwandfreie und fair kämpfende Held*in, im
Jargon „Face“, die gegen das Böse, den „Heel“, antritt. Die Negativfig…
scheut keine schmutzigen Tricks, beleidigt ihre Gegner*innen und gerne
auch das anwesende Publikum.
Die Vorbilder stammen aus der Popkultur und fußen beim Professional
Wrestling meist [3][auf einem cis-binären Genderideal.] Garniert wird das
Ganze mit Kostümen, Requisiten und einer persönlichen Backstory, die den
narrativen Überbau für den Showdown abgibt. Diese konstruierten
Geschichten, die vor dem Kampf als Videoeinspieler gezeigt werden,
erstrecken sich meistens über mehrere Showabende und liefern die tiefere
Bedeutung für jede Begegnung im Ring. Alles nur Fake?
## Stillschweigende Vereinbarung
Im Fachjargon spricht mensch von „Kayfabe“. Dieser Begriff bezeichnet die
stillschweigende Vereinbarung zwischen Zuschauer*innen, Performer*innen
und Veranstalter*innen, dass alles, was während einer Aufführung im und um
den Ring passiert, als „echt“ zu verstehen ist – begleitet von Applaus,
Jubel oder mitfühlendem Stöhnen. Es ist genau diese Vereinbarung, die
Professional Wrestling zu einer außergewöhnlichen Performance macht.
Professional Wrestling ist in diesem Sinne ein „falscher“ Sport, getarnt
mit sportiven Attributen wie Ringrichter*innen, Regelwerk und Ringglocke.
Aber auch ein anderer naheliegender Vergleich, der mit Theater, passt nicht
ganz. Beispielsweise spielen die Ringcharaktere zwar eine Rolle, doch im
Gegensatz zu Schauspieler*innen treten die Pro Wrestler*innen am Ende
der Veranstaltung nicht aus dieser heraus. Sie bleiben nach der Show als
nahbare Charaktere, um mit den Zuschauer*innen zu reden und Fotos zu
machen.
Professional Wrestling verfolgt ein Ziel: die Unterhaltung der
Zuschauer*innen. Das Publikum ist bei diesem Körperspektakel die dritte und
entscheidende Mitspielerin. Es sind die Zuschauer*innen, die die nötige
emotionale Realität beisteuern – indem sie jeden Schlag oder Move lautstark
bestätigen und, wenigstens für die Dauer der Show, die fiktive Realität
miterschaffen – obwohl sie wissen, dass es sich um bloße Inszenierung
handelt – gerade auch beim „XXXTREME QUEER WRESTLING“.
Die Unterhaltung steht hier aber unter anderen Vorzeichen. Denn im Kontext
des Mainstream Professional Wrestlings gibt es immer wieder und nach wie
vor sexistische, homo- und queerphobe [4][sowie rassistische Äußerungen].
Das gilt besonders für die USA, etwa bei World Wrestling Entertainment
(WWE), wo eine ideologische Nähe zum Maga-Faschismus vorherrscht. Donald
Trump selbst stand 2007 beim „Battle of the Billionaires“ im Ring und
verwendet auch ansonsten gerne eine Art politisches „Kayfabe“, in dem er
sich seine eigene Realität baut.
## Gesellschaftskritische Unterhaltung
Daneben existieren jedoch Verbände, etwa AEW (All Elite Wrestling) in den
USA oder wXw in Deutschland, die unter der Devise „Love Wrestling – Hate
Racism!“ antreten. Gruppen wie Choke Hole haben darüber hinaus einen noch
künstlerischeren Zugriff auf Pro Wrestling und arbeiten mit hemmungsloser
Übertreibung, Genderinszenierung und Slang aus der Dragszene.
Damit kehrt die Truppe zu den Ursprüngen des Showsports zurück: zur
Unterhaltung als poppolitischem Gesellschaftskommentar. Die
Performer*innen von Choke Hole enthüllen, was im Pro Wrestling sonst
unterdrückt wird: die homoerotische Aufladung zweier schwitzender,
keuchender Körper, die in ihrer Hyperkünstlichkeit darauf verweisen, dass
Gender eine Konstruktion ist, die auch anders aussehen kann als nur
männlich oder weiblich.
Dies wird bei „Armageddon“ vorgeführt. Die Storyline der Show dreht sich
darum, dass Gorleenyah, intergalaktischer Fernsehmogul und Besitzer*in
des Wrestlingteams Choke Hole, die Codes für die nuklearen Waffen aus dem
Weißen Haus gestohlen hat. Jassy, „the Busty Billionaire“, versucht diese
Codes mit allen Mitteln an sich zu bringen.
Unterstützt wird Gorleenyah durch ihre Co-Hostess und „Head of Security“
Visqueen, einem halb automatischen Sexroboter, dessen eines Bein aus einem
Maschinengewehr besteht. Zu Hilfe kommen weitere Dragwrestler*innen, etwa
Gieza Poke, die sich einen eindrucksvollen Kampf mit der bösen
Billionär*in liefert.
## Abgesang auf patriarchale Männlichkeit
Es geht um das Aufeinandertreffen von Ideologien, die hier in den
flamboyanten Dragcharakteren verkörpert werden, und es geht um den Applaus,
die Liebe und Überzeugungen des Publikums. Jassy ist die Verkörperung eines
neoliberalen, trumpschen Egokapitalisten, dem alles und alle anderen egal
sind. Patry Coal, toxischer Sugardaddy, lebt mittlerweile in einem
Müllcontainer und wird – ein Abgesang auf eine patriarchale, cis
Männlichkeit – von seinem Ex-Sugarbaby Ivana Dicic mit einer riesigen
Kreditkarte durch den Ring gejagt.
Die positiv besetzte Gegenspieler*in, also „Face“, ist das Insekt RAID,
ein mutierter Käfer, der für alle kämpft, die wie „Scheiße“ behandelt
werden. „If you smell like shit, if they treat you like shit – then you are
the shit“ – so lautet die Parole, mit der sich RAID mit vollem
Körpereinsatz gegen die autokratischen, machtgierigen Demagogen stemmt. Und
es hat etwas Erleichterndes, etwas extrem Befriedigendes, wenn wenigstens
hier einmal diejenigen die Oberhand gewinnen, denen wir zujubeln wollen.
RAID hat am Ende des Abends die Riege der „guten“ Figuren zur Revolution
geführt, das mutierte Insekt schafft es, die geklauten Nuklearcodes zu
ergattern, und löst dann trotzdem noch die Apokalypse aus. Aber kein Grund
zur Sorge, denn wir alle haben es in den Himmel geschafft und tanzen dort
gemeinsam zu Robyns „Dancing on My Own“ – und wenn das der Weltuntergang
sein soll, dann ist dies sicher die schönste Version.
11 Apr 2025
## LINKS
[1] https://kampnagel.de/produktionen/choke-hole-armageddon
[2] /Alternative-Maennlichkeit-im-Wrestling/!5887255
[3] /Maennlichkeit-im-Wrestling/!5483020
[4] /Rassistischer-Wrestler/!5215541
## AUTOREN
Marie Simons
## TAGS
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