# taz.de -- 50. Jahrestag Stammheim-RAF-Prozess: Die Stammheim-WG, ein deutsche… | |
> Vor 50 Jahren wurde der RAF-Führung in Stuttgart-Stammheim der Prozess | |
> gemacht. Die Konfrontation von Guerilla und Staat spitzte sich weiter zu. | |
Bild: Die Schauspielerin Tatiana Nekrasov als RAF-Terroristin Ulrike Meinhof vo… | |
Die Inhaftierung der Gründergeneration der Rote Armee Fraktion (RAF) nach | |
deren „Mai-Offensive“ im Jahre 1972 bot der Gruppe jene Bühne, die sie zur | |
weiteren Rekrutierung und Fortsetzung ihres Kampfes nutzte. Um den | |
Gefängniskomplex von Stuttgart-Stammheim entstand der von der RAF und ihrem | |
Umfeld verbreitete Mythos eines angeblich folternden, faschistischen | |
BRD-Staates, der die Vernichtung der inhaftierten Linksextremisten | |
anstrebe. | |
Mit dem ersten Prozesstag am 21. Mai 1975 im eigens dafür geschaffenen | |
Gerichtssaal von Stuttgart Stammheim inszenierten sich die Angeklagten aus | |
der RAF popkulturell und wirkmächtig als Opfer der postfaschistischen | |
Bundesrepublik. Ihre verbeamteten juristischen Widersacher schienen ihnen | |
gegenüber wie hilflose Statisten aus einer vergangenen Epoche. | |
Fünfzig Jahre nach dem Prozessauftakt in Stammheim wartet die ARD nun mit | |
dem Dokudrama „Stammheim – Zeit des Terrors“ auf. Es ist in gewisser Weise | |
eine Fortsetzung [1][des Spielfilms „Der Baader Meinhof Komplex“ (2008)] | |
Der sehenswerte Kinothriller von Bernd Eichinger und Uli Edel beleuchtete | |
als Actiondrama Vor- und Frühphase der aus der Revolte von 1967/68 | |
hervorgegangenen westdeutschen Stadtguerilla. | |
Das Dokudrama „Stammheim – Zeit des Terrors“ legt nun den Fokus auf das | |
Leben der RAF-Führung – Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und | |
Ulrike Meinhof – im Gefängnis und deren Agieren vor Gericht Mitte der | |
1970er. Das Drehbuch schrieben Stefan Aust und Niki Stein, Letzterer | |
zeichnet für die Regie verantwortlich. | |
## Nah am Reenactment | |
Die filmische Erzählung gänzlich nach Stammheim zu verlegen, scheint | |
zunächst eine dramaturgisch nachvollziehbare Positionierung. Denn für die | |
weitere Eskalation hin zum „Deutschen Herbst“ 1977 war die Haltung der in | |
Stammheim einsitzenden RAF-Führung von zentraler Bedeutung. | |
Historische Dokumente sind für die filmische Interpretation zahlreich | |
vorhanden. Briefe, Kassiber der Gefangenen, Protokolle, Berichte von | |
Zeitzeugen sowie die Aufnahmen vom Prozess sind ausschnitthaft | |
fiktionalisiert, verdichtet und gelegentlich mit historischen | |
Originalaufnahmen montiert. Die so entstandene Collage von Leben und | |
Kommunikation unter den Gefangenen mit ihren Anwälten oder den Beamten | |
folgt in ihrer zugespitzten Interpretation weitgehend der historischen | |
Überlieferung. | |
Belegt ist auch, dass die Gefangenen über einzelne Anwälte ihr Infosystem | |
mit dem Umfeld draußen pflegten und dieses zu spektakulären Aktionen für | |
ihre Freipressung drängten. Die Eskalation ging ab 1972 eindeutig vom | |
Gefängnis aus, insbesondere nach dem Tod von Holger Meins im Hungerstreik | |
von 1974. | |
Bei der zweiten großen Attentatsserie der RAF von 1975 bis 1977 ging es | |
ausschließlich um die Haftbedingungen und [2][die „Big Raushole“, die | |
Befreiung der einsitzenden Gründergeneration.] Die mit der RAF | |
konkurrierende Bewegung 2. Juni hatte Anfang 1975 mit der Lorenz-Entführung | |
in Berlin vorgemacht, wie man Gesinnungsfreunde erfolgreich freipresst. | |
Eine Szene des Films zeigt, wie Andreas Baader (Henning Flüsloh) dies als | |
Demütigung verstand. | |
## Geschichte im Zeitraffer | |
Das Intro des Films präsentiert einen Bilderloop mit ikonischen Bildmotiven | |
der 68er-Bewegung (Demos gegen den Schahbesuch, 2. Juni 1967, Benno | |
Ohnesorg, US-Bürgerrechtsbewegung, Rudi Dutschke, Notstandsgesetze, Hồ Chí | |
Minh, Vietnam), um so den zeithistorischen Hintergrund zumindest | |
anzudeuten, vor dem die RAF entstanden ist. Ein wenig historisches Wissen | |
setzt „Stammheim – Zeit des Terrors“ zum Verständnis allerdings voraus. | |
Anders etwa als [3][Andres Veiel in dem Kinospielfilm „Wer wenn nicht wir“ | |
(2011)] bleibt das jetzige Fernsehdrama engmaschig bei den Ereignissen in | |
Stuttgart-Stammheim, setzt dabei zu 100 Prozent auf eine theatral | |
anmutende, dialogisch polarisierende Inszenierungsweise. | |
Unterlegt mit dem Song „Knockin’ on Heaven’s Door“ von Bob Dylan schweb… | |
Ulrike Meinhof (Tatiana Nekrasov) und Gudrun Ensslin (Lilith Stangenberg) | |
in der Eingangsszene dieses Kammerspiels mit einem Hubschrauber in | |
Stuttgart-Stammheim ein. Dort erwartet sie der fortan für sie zuständige | |
leitende Vollzugsbeamte Horst Bubeck (Moritz Führmann). | |
„Frau Ensslin, bitte“, fordert Vollzugsbeamter Bubeck in dieser Spielszene | |
die RAF-Terroristin Ensslin förmlich-korrekt zum Verlassen des | |
Polizeibusses auf. Dabei zischt Ensslin noch hastig Meinhof, beide tragen | |
modische Sonnenbrillen, beim Ausstieg zu: „Vergiss nicht, kein Wort zu den | |
Pigs.“ | |
## „Arschloch“ Bubeck | |
Meinhof vergisst nicht. Zur Begrüßung geht sie auf einen Kameramann los und | |
tritt „Arschloch“ Bubeck in die Körpermitte. Der Ton der RAF-Gefangenen | |
gegenüber bürgerlicher Öffentlichkeit und Justiz ist hiermit auch filmisch | |
gesetzt. | |
Der Jargon der RAF-Mitglieder war nach innen wie außen bewusst hart und | |
vulgär. Es ging um Selbstvergewisserung und Abgrenzung. Aber auch um eine | |
sektenhaft anmutende Erniedrigung und Hierarchisierung, dies macht | |
„Stammheim – Zeit des Terrors“ recht schonungslos deutlich. | |
Meinhof wurde von Ensslin und Baader gemobbt, gerade in der Phase vor ihrem | |
Tod. Die ehemalige Konkret-Journalistin, Autorin von „Das Konzept | |
Stadtguerilla“, suchte in Stammheim beim mitinhaftierten Cheftechniker der | |
Gruppe, Jan-Carl Raspe (Rafael Stachowiak), Zuflucht und Verständnis. | |
Am 9. Mai 1976 fanden Justizbeamte Meinhof erhängt am Fenstergitter ihrer | |
Zelle. Der Staat sprach von Suizid, zwei Obduktionen bestätigten dies. Die | |
RAF sprach von Mord. | |
## True Crime und Narzissmus | |
Um möglichst nah am Authentischen zu bleiben, wurden die szenischen Teile | |
des Dokudramas am Originalschauplatz vor Ort im siebten Stock der | |
Justizvollzugsanstalt Stammheim gedreht. Der Film wird viele verblüffen, | |
auch weil die brachialen, gewalttätig rohen und oftmals abgehackten Dialoge | |
aus der Stammheimer Gefangenen-WG wie eine überdrehte Performance aus einer | |
der heutigen realen Theaterbühnen erscheint. | |
Nach dem Abkippen in die unmittelbare Gewalt, den mörderischen Anschlägen | |
antiimperialistischer Prägung wirkt die sich im Gefängnis aufbauende | |
Gruppendynamik, der gesamte Habitus desperat, seltsam entrückt, | |
artifiziell, psychotisch und narzisstisch. | |
Ein wenig Radical Chic und popkulturellen Glamour lässt das Filmdrama den | |
Stammheimer Protagonisten jedoch noch. Ansonsten wäre die relativ schlichte | |
charakterliche Ausgestaltung der Figuren trotz schauspielerisch | |
überzeugender Besetzung auch kaum erträglich. | |
Die übersteigerte existenzialistische Haltung, sämtliche Weltereignisse auf | |
das eigene Ich und Tun zu projizieren, das macht „Stammheim – Zeit des | |
Terrors“ sicherlich deutlich. | |
## Wo bleibt die Politik? | |
Was Menschen wie Ensslin oder Baader dazu bewegte, 1968 Brände in | |
Kaufhäusern zu legen, sich von palästinensischen Gruppen in Jordanien | |
militärisch ausbilden zu lassen, um 1972 US-Einrichtungen, | |
Polizeistationen, Richter oder den Springer-Konzern in der BRD anzugreifen, | |
spart das Dokudrama aus. Wer den 1970er-Jahre-Hintergrund, die Verquickung | |
des westdeutschen mit dem internationalen Terrorismus verstehen möchte, | |
wäre mit [4][Olivier Assayas Filmbiografie „Carlos der Schakal“ (2010)] | |
ungleich besser bedient. | |
Im Vordergrund steht bei Aust und Stein die Entmythologisierung der | |
angeblich schikanösen Haft- und Prozessbedingungen. Frauen und Männer in | |
einem Zellentrakt, gemeinsamer Umschluss, eigene Radiogeräte, | |
Plattenspieler und private Lebensmittelwünsche, das war doch eher | |
ungewöhnlich und stellt „Stammheim – Zeit des Terrors“ genüsslich in den | |
Spielszenen dar. Der stets höflich und korrekt auftretende Vollzugsbeamte | |
Horst Bubeck, „Arschloch“, verkörpert in der Filmhandlung indes die | |
Antithese zu den RAF-Behauptungen des folternden Staates. | |
Nachdem sich im Oktober 1977 abzeichnete, dass die Entführung von | |
Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer sowie einer Lufthansa-Maschine | |
nicht zu ihrer Freipressung führen würde, fand man am 18. Oktober Raspe, | |
Ensslin und Baader tot in ihren Zellen. Viele Indizien deuteten auf einen | |
kollektiven Selbstmord. Ob es staatlicher Mord war, darüber stritt die | |
Linke jahrelang. | |
Mit der Nachricht des Scheiterns der Flugzeugentführung von Raspe an die | |
Mitgefangenen – „Hört ihr mich, alles vorbei“ – fädelt dieser Film au… | |
## Schuld und Sühne? | |
Ergänzend bietet die ARD zum Stammheimer Prozess-Jubiläum die kurze | |
Dokumentation „Im Schatten der Mörder – Die unbekannten Opfer der RAF“. | |
Hier erzählen Kinder von RAF-Opfern, wie die Ermordung ihrer Väter ihr | |
Leben prägte. | |
Clais von Mirbach etwa äußert darin sein Unverständnis, dass die vier | |
überlebenden und verurteilten RAF-Attentäter des Überfalls auf die Deutsche | |
Botschaft 1975 in Stockholm bis heute schweigen. Wer waren die beiden | |
RAF-Terroristen, fragt von Mirbach, die seinen Vater, Militärattaché | |
Andreas von Mirbach, nach Verstreichen eines Ultimatums von hinten mit | |
Schüssen exekutierten und noch lebend die Treppe herunterstießen? | |
Und Hanns-Eberhard Schleyer berichtet hier, wie er als Chef der | |
Staatskanzlei Rheinland-Pfalz und als Sohn eines von der RAF ermordeten | |
Vaters positiv am Gnadengesuch eines früheren RAF-Mitglieds mitwirkte. | |
18 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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