| # taz.de -- Präsidentschaftswahl in Rumänien: Hauptsache, nicht er | |
| > Rumänien wählt am Sonntag seinen Präsidenten. Der extrem rechte | |
| > Kandidat George Simion hat gute Chancen. Einblicke in ein Land am | |
| > Scheideweg. | |
| Bild: Eine Demo in Bukarest anlässlich des Europatags am 9.Mai. 70 Prozent Zus… | |
| ## 1. Auf dem Landmarkt | |
| Bukarest und Călugăreni Clotilde Armand lächelt charmant über den Ärger | |
| hinweg. „Ich werde Simion wählen“, ruft ein Mann ihr hinterher, ein anderer | |
| murmelt Beschimpfungen und wendet sich ab. Für Armand ist der Landmarkt von | |
| Călugăreni, knapp eine Autostunde südlich von Rumäniens Hauptstadt | |
| Bukarest, kein Heimspiel. Inmitten der Stände mit Gemüse, Hühnerkäfigen und | |
| Emailletöpfen bemüht sie sich um Wahlkampf. Es geht um viel: um Rumäniens | |
| Zukunft und vielleicht sogar um die Zukunft Europas. | |
| Es ist Sonntagfrüh, genau eine Woche vor der zweiten Runde der | |
| Präsidentschaftswahl. Die Politikerin Armand wirbt für den proeuropäischen | |
| Kandidaten Nicușor Dan. In der ländlich geprägten Region der Großen | |
| Walachei ist das nicht einfach. [1][Die Mehrheit unterstützt hier den | |
| rechtsextremen George Simion]. Armand zielt auf die Unentschlossenen. „Wir | |
| müssen Präsenz zeigen“, sagt sie. | |
| Auf dem Markt gibt es alles: gebrauchte Radios, neue Kettensägen, Honig, | |
| Kohlrabi, Setzlinge, Bettwäsche, Pferdegeschirr, Kaninchen und weiße Tauben | |
| in Drahtkäfigen. Ein Mann mit sonnengegerbtem Gesicht führt ein Blechgerät | |
| vor, das Zaunpfähle leichter in den Boden rammt. Über allem wabern | |
| Rauchschwaden von Grillständen, auf denen Männer mit dicken Oberarmen | |
| Bratwürstchen und Mici umdrehen, die rumänischen Hackfleischröllchen. | |
| Armand schiebt sich mit zwei Dutzend Helferinnen und Helfern durch die | |
| Reihen zwischen den Ständen. Die meisten kommen wie sie von der | |
| neoliberalen Partei USR. Manche tragen weiße Kappen, einige dazu noch | |
| Leibchen, auf denen sie für die Präsidentschaft Nicușors werben. Nicușor, | |
| das heißt „kleiner Nick“ und viele nennen ihn dieser Tage nur bei diesem | |
| Vornamen. Im Vorbeigehen drückt die Truppe jedem, der sich nicht wehrt, | |
| einen Faltflyer in die Hand. „Ein Präsident für alle Rumänen“, heißt es | |
| darin. „Wir sehen uns am 18. Mai bei der Abstimmung.“ | |
| Viele Rumäninnen und Rumänen blicken dem Sonntag mit Sorge entgegen. Das | |
| Land ist von politischen Krisen geschüttelt. Im November hatte der | |
| rechtsextreme Verschwörungsideologe Călin Georgescu die | |
| Präsidentschaftswahl gewonnen. Wegen Unregelmäßigkeiten bei der | |
| Wahlkampffinanzierung und Verdacht auf russische Einflussnahme annullierten | |
| die Behörden die Wahl und schlossen Georgescu aus. | |
| In der nun wiederholten Wahl holte in der ersten Runde am 4. Mai der | |
| rechtsextreme George Simion von der Partei AUR [2][mit 41 Prozent die | |
| deutliche Mehrheit der Stimmen]. Er [3][steht zu Georgescu] und kündigte | |
| an, ihn im Fall eines Sieges zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Denn die | |
| aktuelle Regierungskoalition ist zerbrochen. Einen Tag nach der ersten | |
| Wahlrunde erklärte der sozialdemokratische Ministerpräsident Marcel Ciolacu | |
| wegen des schlechten Abschneidens des Kandidaten seiner Partei den | |
| Rücktritt. | |
| Zweitplatzierter wurde statt eines Sozialdemokraten [4][mit 21 Prozent der | |
| parteilose Nicușor Dan]. Der Bürgermeister von Bukarest gründete einst die | |
| neoliberale USR, die mehr Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung | |
| fordert und rechts der Mitte steht. Dan verließ die Partei 2017, nachdem | |
| sie sich gegen ein homophobes Referendum stellte, das die Ehe als Beziehung | |
| aus Mann und Frau in die Verfassung meißeln wollte. | |
| Trotzdem gilt er nun auch für Linke und Progressive als letzte Hoffnung. | |
| Dan und Simion treten am 18. Mai in der Stichwahl gegeneinander an. | |
| Umfragen sehen Simion vorn. In Rumänien bestimmt der Präsident die Außen- | |
| und Sicherheitspolitik. Gewinnt Simion, fürchten viele eine Abkehr vom | |
| Westen. Nach Viktor Orbán in Ungarn und Robert Fico in der Slowakei droht | |
| mit ihm Rumänien zu einem weiteren Land zu werden, das die Unterstützung | |
| der Ukraine infrage stellt, mit dem Nato-Bündnis fremdelt und statt einer | |
| föderalistischen EU ein nationalistisches [5][„Europa souveräner | |
| Vaterländer“] anstrebt. | |
| An den Marktständen von Călugăreni scheinen Brüssel, Washington und Moskau | |
| weit weg zu sein. „Die Busse fahren nicht“, klagt ein Händler, als Armand | |
| an seinen Stand tritt. Außenpolitik spielt auch auf dem Wahlflyer für | |
| Nicușor Dan keine Rolle. Sehr wohl aber, dass er seit über 20 Jahren gegen | |
| Korruption kämpfe. „Ich wurde in einem Viertel am Rande einer Kleinstadt in | |
| eine Familie einfacher Leute hineingeboren“, stellt er sich vor. Von seiner | |
| [6][Promotion in Mathematik an der Sorbonne in Paris] liest man nichts. | |
| Schon im ersten Anlauf der Präsidentschaftswahl ging es mehr um Frust als | |
| um konkrete politische Vorhaben. Die Wahlen galten als Abstrafung der | |
| etablierten Regierungsparteien, die pseudosozialdemokratische PSD und die | |
| nationalliberale PNL, die für viele eine korrupte Machtelite sind. | |
| Simion, ein 38-jähriger ehemaliger Fußballhooligan, der Trump und Milei | |
| seine Vorbilder nennt, [7][beleidigt politische Gegner, schimpft über | |
| „politisches Parasitentum“ und „Globalisten“, eine antisemitische Chiff… | |
| Der 55-jährige Dan mit seinem nüchternen technischen Stil hat es dagegen | |
| schwer. | |
| Auch Armand wirkt auf dem Markt nicht wie ein Fisch im Wasser. Sie sticht | |
| heraus. Die 51-Jährige ist einen halben Kopf größer als die meisten hier, | |
| trägt ein rotes Oberteil und Dr.-Martens-Stiefel. In Rumänien ist sie keine | |
| Unbekannte: Die französisch-rumänische Unternehmerin zog für die USR 2019 | |
| ins Europaparlament, bevor sie 2020 Bürgermeisterin des reichen Bezirks | |
| Sektor 1 von Bukarest wurde. | |
| Ihre Amtszeit war von Skandälchen geprägt. Alle Seiten erhoben irgendwann | |
| Vorwürfe der Wahlmanipulation, [8][ein Gebührenstreit mit dem | |
| Abfallunternehmen] führte zu einem Müllchaos. Im Jahr 2024 warf die | |
| Staatsanwaltschaft ihr Vorteilsnahme vor, weil sie sich selbst zur Leiterin | |
| eines EU-geförderten Antikorruptionsprojekts ernannte und Zulagen | |
| kassierte. Armand erklärt, alles sei rechtens gewesen und der ganze Prozess | |
| politisch motiviert. Für den rechtsextremen Simion reichte das, um sie in | |
| einem TV-Duell mit Dan namentlich zu erwähnen und zu versuchen, ihn damit | |
| zu beschädigen. | |
| „Clotilde Armand“ flüstert eine Frau auf dem Markt, als sie an ihr | |
| vorbeigeht, „Clotilde Armand“, brummt auch ein Mann, der Säcke mit Getreide | |
| aus seinem Kofferraum anbietet. Längst nicht alle reagieren missmutig. Ein | |
| Verkäufer lädt sie ein, Schafskäse zu probieren, und schält mit einem | |
| Messer eine Kante aus einem Käselaib. Ein kurzer Plausch, ein Lächeln, | |
| Armand kauft noch einen Salat und zieht weiter. Ein Mann in schwarzem | |
| Trainingsanzug bittet sie um ein Selfie. Fast wirkt es, als wäre sie in | |
| eigener Sache unterwegs. Dass sie eigens aus der Hauptstadt in die Provinz | |
| gereist ist, findet Anerkennung. | |
| ## 2. Auf dem Boulevard | |
| Die soziale Schere zwischen der Millionenmetropole und dem Land ist enorm. | |
| In Bukarest locken französische Patisserien mit Tarte au citron und | |
| kostenlosem WLAN, während in Călugăreni und anderswo Pferdewagen zum | |
| Straßenbild gehören. 32 Prozent der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze, | |
| ein Viertel hat kein fließendes Wasser im Haus. Am schlechtesten geht es | |
| den Roma. | |
| Gleichzeitig hat sich Rumänien im Zuge der EU-Mitgliedschaft seit 2007 | |
| stark entwickelt, sowohl wirtschaftlich als auch in Sachen bürgerlicher | |
| Freiheiten. | |
| Am Freitag versammelten sich im Zentrum von Bukarest Zehntausende auf dem | |
| Platz nahe der Universität. Sie fürchten um die Errungenschaften der | |
| letzten Jahrzehnte. Mit Europa- und rumänischen Fahnen zogen sie zum | |
| Regierungsgebäude. Offiziell fand die Demo anlässlich des „Europatags“ | |
| statt, doch allen war klar, worum es eigentlich ging. | |
| In Umfragen zeigt sich Rumänien mit rund 70 Prozent Zustimmung zur EU als | |
| eines der europafreundlichsten Länder. Doch bei der Präsidentschaftswahl | |
| spiegelt sich das nicht wider – womöglich auch, weil die | |
| sozialdemokratische PSD sich weigert, ihren langjährigen Kritiker Nicușor | |
| Dan offiziell zu unterstützen. Einige in der Partei erwägen wohl hinter | |
| vorgehaltener Hand eine mögliche Zusammenarbeit mit Simions Partei AUR. | |
| Dass die Großdemonstration in Bukarest tatsächlich kein Konsensevent war, | |
| zeigte sich vorher schon in den sozialen Medien. „Es gibt nur einen Weg: | |
| Europa zerstören, um nicht der Vasall von äußeren Mächten zu sein“, | |
| schreibt ein Mann unter der Ankündigung für die Demo. Andere sprechen von | |
| Gehirnwäsche durch die Medien und beschimpfen die Veranstalter in | |
| antisemitischer Konnotation als „Sorosisten“ oder „Diener giftiger Eliten… | |
| Europa sei eine Geißel und alles habe im Jahr 2015 mit der Flüchtlingskrise | |
| begonnen. | |
| Als die Demo startet, rufen die Leute: „Rumänien wählt, Europa zählt“ und | |
| „Bukarest ist nicht Budapest“. Die Sympathien sind klar: „Nicușor, Nicu�… | |
| hallt es zwischen den ergrauten Prachtbauten des zentralen Boulevards | |
| Nicolae Bălcescu. | |
| Ein Mann in Sportschuhen und blauer Funktionsjacke schwenkt eine | |
| Nato-Flagge. Was er davon hält, dass Simion meint, Rumänien solle „neutral�… | |
| sein? „Er ist ein Extremist“, sagt er. „Ein Misogynist, ein Rassist, ein | |
| Faschist.“ Der Mann hört gar nicht mehr auf. Für die Demo sei er extra | |
| angereist, erzählt er. | |
| Auch ein junges Pärchen ist gekommen. Eine der Frauen trägt grün gefärbte | |
| Haare, ihre Partnerin Piercings in Nase und Ohren. „Selbstverständlich ist | |
| Nicușor Dan die bessere Alternative“, sagt die Frau mit den Piercings. | |
| „Besser als dieser Clown Simion.“ So sei eben die Lage. „Wir sind in | |
| Rumänien gerade ein Haufen kopfloser Hühner, die durch die Gegend rennen.“ | |
| Als der Protestzug nach etwa einer Stunde das Regierungsgebäude am Piața | |
| Victoriei erreicht, werden die Tausenden Demonstrierenden mit Musik | |
| begrüßt. „Es war einmal in Rumänien, ein großer Haufen Schurken“, schal… | |
| es aus den Lautsprechern einer überdachten Bühne. Beim Refrain singen viele | |
| mit: „Lieber tot als Kommunist.“ Das Lied heißt „Imnul golanilor“, Hym… | |
| der Strolche. Es ist eine bekannte antikommunistische Komposition. | |
| Nach der Demo werden deswegen einige kritische Stimmen laut. Adina | |
| Marincea, Wissenschaftlerin am Elie Wiesel National Institute zur | |
| Erforschung des Holocausts in Rumänien, erklärte auf Facebook, die Hymne | |
| habe auf einer Demo gegen die extreme Rechte nichts zu suchen. Über 30 | |
| Jahre lang habe man sich in Rumänien ausschließlich um die Kritik am | |
| kommunistischen Regime gekümmert und dabei die Gefahr der extremen Rechten | |
| missachtet. Gerade die rechtsextreme AUR und dessen Anführer Simion seien | |
| gewalttätige Antikommunisten und träten gegen liberale Werte und einen | |
| vermeintlichen „Neomarxismus“ an. | |
| Auch die Journalistin und Theaterkuratorin Iulia Popovici kritisierte | |
| einige Reden, die antikommunistischen“ Kämpfern gehuldigt hätten. Simion | |
| spreche von Volk, Nationalstolz, Gott und der traditionellen Familie – | |
| nicht von Mehrwert oder der Vereinigung der Proletarier. „Der Kommunismus | |
| ist jetzt nicht die Bedrohung“, schreibt Popovici. Die Gefahr sei, dass | |
| Rumänien ab dem 19. Mai einen faschistischen Präsidenten habe. | |
| ## 3. Vor der Stele | |
| Wer Rumäniens besondere Erinnerungskultur verstehen will, die auch als | |
| ideologischer Hintergrund der aktuellen Wahl zugrunde liegt, sollte mit | |
| Mihai Demetriade sprechen. Der Historiker wartet am Freitagvormittag in | |
| einem Wohnviertel im zweiten Bukarester Sektor auf einem vielleicht zehn | |
| Meter breiten Grünstreifen, der zwei Fahrbahnen trennt. In einem hellrosa | |
| Baumwollhemd steht er vor einer Betonstele und schüttelt den Kopf. | |
| Demetriade ist Mitarbeiter der Forschungsdirektion des C.N.S.A.S., des | |
| Nationalen Rats für das Studium der Archive der Securitate, das mit der | |
| Aufarbeitung der Verbrechen der Geheimpolizei unter dem stalinistischen | |
| Diktator [9][Nicolae Ceaușescu] befasst ist. Die Institution ist das | |
| rumänische Pendant zur deutschen Stasiunterlagenbehörde. | |
| Der Historiker will beweisen, dass sich manche gesellschaftlichen | |
| Großkonflikte eben auch auf einer Verkehrsinsel zeigen. Die Umgebung wirkt | |
| eigentlich harmlos: historische Architektur, schattige Alleen, eine Oase | |
| zwischen den Autokolonnen der breiten Boulevards. | |
| Doch der Betonsockel, der Demetriade empört, hat es in sich. Oben prangt | |
| darauf eine Bronze des Kopfes von Mircea Vulcănescu, darunter eine | |
| Inschrift: „Schriftsteller, Ökonom, Philosoph, der grundlegend über das | |
| Sprechen und die spirituelle Identität des Rumänischen nachgedacht hat; | |
| hingerichtet in den Kerkern von Aiud.“ | |
| „Das Wichtigste fehlt“, sagt Demetriade. Vulcănescu war von 1941 bis 1944 | |
| Unterstaatssekretär im Finanzministerium des faschistischen Diktators Ion | |
| Antonescu. Dessen Regime war mit den Nazis verbündet und verübte einen | |
| eigenen Holocaust an Juden und Roma. Vulcănescu ist ein verurteilter | |
| Kriegsverbrecher und war aktiv daran beteiligt, den Judenhass in Gesetze | |
| und Verordnungen zu gießen. „Er war ein Nationalist und Antisemit“, sagt | |
| Demetriade. | |
| Das Denkmal verschweigt diese Fakten. Was man indirekt erfährt, ist die | |
| Spaltung der Gesellschaft und den Zustand der Vergangenheitsaufarbeitung – | |
| zumindest wenn man Demetriade zuhört. Denn längst [10][gab es | |
| zivilgesellschaftliche Initiativen], die Stele von Vulcănescu aus dem Park | |
| zu entfernen [11][und eine nach Vulcănescu benannte Straße umzutaufen]. Das | |
| [12][forderte etwa das Elie-Wiesel-Institut in Rumänien] bereits im Jahr | |
| 2014. Doch bis heute geschah nichts. | |
| Eigentlich ist es aber noch schlimmer. Denn der Schrein für Vulcănescu ist | |
| nicht alt. Die Stadtverwaltung des Bezirks Sektor 2 ließ ihn 2009 errichten | |
| – trotz eines Gesetzes von 2002, das die Verherrlichung von Völkermördern | |
| und Kriegsverbrechern verbietet. Im selben Jahr wurden auch Büsten zweier | |
| weiterer faschistischer Intellektueller aufgestellt. „Aus nationalistischen | |
| Motiven“, erklärt Demetriade. | |
| Nach dem Krieg fehlte in Rumänien ein echter Entfaschisierungsprozess, sagt | |
| der Historiker. „Das führte zur unkritischen Rehabilitierung der Komplizen | |
| der Diktatur von Ion Antonescu und der rumänischen Akteure, die am | |
| Holocaust beteiligt waren.“ Nach 1990 sei der Nationalismus in Form eines | |
| antikommunistischen Nationalismus wieder aufgelebt. | |
| „Im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen ist dieses Thema aktueller, | |
| als uns lieb ist“, sagt der Historiker. „Das Fehlen einer kritischen | |
| Erinnerung und der Mangel an Empathie gegenüber den Opfern des,anderen | |
| Totalitarismus', also des faschistischen, in dem Rumänien Akteur und | |
| Regisseur und nicht Opfer war, prägen den historischen Moment des Jahres | |
| 2025.“ George Simion setze die antisemitische Rhetorik und die | |
| Verherrlichung von Ion Antonescu und anderen Kriegsverbrechern fort. | |
| Aber der Historiker macht auch Nicușor Dan Vorwürfe. Er spricht von einer | |
| „strategischen Unklarheit“ des Bürgermeisters in Fragen des Kultes um | |
| Kriegsverbrecher in Bukarest, von „Untätigkeit“ und „Schweigen“. | |
| Mihai Demetriade hinterfragt auch [13][Dans Rolle bei der geplanten | |
| Einrichtung] eines Museums für den Holocaust und die Geschichte der Juden | |
| Rumäniens. Das wurde 2019 beschlossen. Bis heute ist es nicht eröffnet. Das | |
| Fehlen eines wohlwollenden und proaktiven Engagements von Nicușor Dan nennt | |
| Demetriade „besorgniserregend“. | |
| Ob er Dan dennoch Simion vorziehen würde? Die Frage erübrigt sich. | |
| ## 4. Im NGO-Büro | |
| Wie schlimm ein Sieg Simions auch innenpolitisch wäre, wissen wohl wenige | |
| in Rumänien besser als Vlad Viski. Anfang der Woche sitzt er in seinem Büro | |
| in einem unscheinbaren Wohnhaus im Zentrum von Bukarest. Viski, | |
| promovierter Politikwissenschaftler, leitet die rumänische | |
| LGBTQI-Organisation MosaiQ. Im Erdgeschoss betreibt die NGO ein | |
| Begegnungszentrum, mit Studententreffpunkt, kleiner Bibliothek und | |
| Kleiderbörse. Überall dekorieren Regenbogenflaggen die Räume, auch die | |
| blau-weiß-pinke Transfahne ist dabei und eine Version mit dem Wagenrad der | |
| Roma-Community. | |
| An den Wänden hängen Plakate einer Kampagne aus dem Jahr 2018: MosaiQ und | |
| andere queere Organisationen riefen damals zum Boykott des | |
| Verfassungsreferendums auf, das die Homoeehe verbieten wollte. Eben jenes | |
| Referendum, für dessen Durchführung sich Nicușor Dan aussprach – genauso | |
| wie Clotilde Armand. Viski sieht die Gegenkampagne seiner NGO als Erfolg, | |
| denn das Referendum scheiterte am nötigen Quorum. Dennoch ist die | |
| gleichgeschlechtliche Partnerschaft bis heute in Rumänien nicht gesetzlich | |
| verankert. | |
| Auf ein Plakat, das im Treppenhaus hängt, macht Viski besonders aufmerksam. | |
| Es ist die erste Ausgabe des Magazins Gay 45. Dessen Redaktion sitzt heute | |
| in Wien, gegründet aber wurde es als eine der ersten queeren Publikationen | |
| Osteuropas in Rumänien. Die Titelseite der Erstausgabe zeigt das Foto von | |
| Bill Clinton (dem „liberalsten amerikanischen Präsidenten“) und als Datum | |
| den 1. April 1993 – eine Vorsichtsmaßnahme: Queere Inhalte waren damals | |
| noch verboten, die Herausgeber wollten sich die Ausrede offenhalten, dass | |
| alles nur Satire sei. | |
| Es sind jene Zeiten, die Viski heute wieder fürchtet. Für den Fall, dass | |
| Simion die Präsidentschaftswahl gewinnt, kann er ein Horrorszenario | |
| abspulen: Simion könnte versuchen, Călin Georgescu als Premierminister | |
| vorzuschlagen. Wenn das dreimal scheitert, wäre der Weg frei für | |
| vorgezogene Neuwahlen. „Ein Präsident im Amt gewinnt immer an Popularität, | |
| was dessen Partei AUR die absolute Mehrheit verschaffen könnte“, so Viski. | |
| Die Rechtsextremisten könnten dann alle öffentlichen Institutionen | |
| umkrempeln. „Und dann verlieren wir wirklich alles.“ Die Nationalbank, das | |
| Nationale Komitee zur Bekämpfung von Diskriminierung, die Behörden zur | |
| Kontrolle und Regulation der alten und neuen Medien, sie alle könnten | |
| unterwandert werden. „Schon ohne Parlamentsmehrheit kann der neue Präsident | |
| einen neuen Richter für das Verfassungsgericht vorschlagen“, sagt Viski. | |
| „Für uns wäre all das ein Desaster.“ AUR habe bereits jetzt vorgeschlagen, | |
| gegen sogenannte homosexuelle Propaganda vorzugehen. „Sie könnten die Pride | |
| Parade verbieten, wie in Ungarn, sie könnten NGOs wie uns dazu zwingen, | |
| sich als „ausländische Agenten“ zu registrieren, wie in der Slowakei“, s… | |
| Viski. | |
| Er bleibt sachlich dabei, zählt das alles einfach so auf. | |
| Und Nicușor Dan? | |
| Viski holt etwas aus. Spricht von der Partei PiS in Polen und Orbáns Partei | |
| Fidesz in Ungarn. „Diese Regime haben das Zentrum so stark nach rechts | |
| verschoben, dass die einzige ernstzunehmende verbliebene Opposition auch | |
| nur noch rechte Parteien sind“, sagt er. So sei es auch in Rumänien nach | |
| der ersten annullierten Wahlrunde gelaufen. Immerhin: Bei seinem großen | |
| öffentlichen Wahlkampfauftritt in der Hauptstadt am Wochenende habe Nicușor | |
| Dans Team auch bekannte Aktivisten der Roma-Community auf die Bühne geholt. | |
| Er zeigte sich zumindest auch offen dafür, dass es eine Debatte über zivile | |
| homosexuelle Partnerschaften geben könnte. Dan komme selbst aus der | |
| Zivilgesellschaft. | |
| „Nicușor Dan würde den Status quo erhalten“, sagt Viski. „Das ist es, um | |
| was es gerade noch geht.“ | |
| 17 May 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://prezenta.roaep.ro/prezidentiale04052025/pv/romania/results/ | |
| [2] https://prezenta.roaep.ro/prezidentiale04052025/pv/romania/results/ | |
| [3] https://www.dw.com/ro/interviu-spotmediaro-george-simion-s-a-schimbat-radic… | |
| [4] https://www.reuters.com/world/europe/romanian-hard-right-frontrunner-simion… | |
| [5] /Orban-Kickl-Meloni-Fico-und-Le-Pen/!6038301 | |
| [6] https://www.ft.com/content/160dd559-1eb1-4d4c-8917-ba775171d5f2 | |
| [7] https://www.libertatea.ro/stiri/nicusor-dan-george-simion-comunicare-public… | |
| [8] https://romania.europalibera.org/a/patru-razboaie-clotilde-armand-gunoaiele… | |
| [9] https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolae_Ceau%C8%99escu | |
| [10] https://revista22.ro/eseu/alexandru-florian/mircea-vulc259nescu-351i-memor… | |
| [11] https://www.rfi.fr/ro/rom%C3%A2nia/20250303-institutul-elie-wiesel-solicit… | |
| [12] https://www.rfi.fr/ro/rom%C3%A2nia/20250303-institutul-elie-wiesel-solicit… | |
| [13] /Geschichtsaufarbeitung-in-Rumaenien/!5628779 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
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