# taz.de -- Militarisierung der Polizei: Es weht ein bayerischer Wind | |
> CSU-Innenminister Alexander Dobrindt steht für Law and Order. Das passt | |
> zu einem Trend, der Polizeibeamten immer mehr Befugnisse gibt. | |
Bild: Don’t fuck (with) the police: Am ersten Mai halfen in Berlin auch bayer… | |
München taz | Jeder weiß, wann eine Gefahr endet. Der Geisterfahrer findet | |
die richtige Spur, das Kind legt die Schere aus der Hand, die Pilotin | |
steuert das Flugzeug sicher durch Turbulenzen. Aber wann fängt eine Gefahr | |
eigentlich an? Wenn das Kind die Schere in die Hand nimmt, der | |
Geisterfahrer die Spuren verwechselt, das Flugzeug in die Luftströmungen | |
fliegt? Schon früher? Erst später? | |
Im Polizeirecht hängt an dieser Frage alles. Die Polizei soll Gefahren | |
abwehren, mit allen verhältnismäßigen Mitteln. Wenn die Voraussetzungen | |
stimmen, dürfen Polizistinnen und Polizisten Menschen schlagen und treten, | |
zu Boden zerren und fesseln, von Hunden beißen lassen, ihnen Schmerzen | |
zufügen. Gefahr ist einer der entscheidenden Momente, die polizeiliches | |
Handeln bis hin zu roher Gewalt legitimieren. Wenn sich beim polizeilichen | |
Gefahrbegriff etwas tut, tut sich also etwas bei der Rechtfertigung von | |
staatlich gebilligter Gewalt. | |
Und tun wird sich mit CSU-Bundesinnenminister Alexander Dobrindt einiges. | |
Seine Partei preist den Oberbayern als „Law and Order“-Politiker. | |
Parteichef Markus Söder hatte im Wahlkampf verlauten lassen: „Bayern ist | |
das Gegenmodell zur Ampel“, den innenpolitischen Bundeskurs der CSU | |
bezeichnete er als „Knallhart-Plan“. Doch bayerischer Wind weht schon | |
länger durch die deutschen Polizeibehörden. | |
Mitte März sprach der Bayerische Verfassungsgerichtshof ein vorläufig | |
letztes Wort zum Polizeiaufgabengesetz (PAG) Bayerns. In diesem 2021 | |
novellierten Gesetz steht in der sogenannten Generalklausel, die | |
polizeiliches Handeln ohne Beschränkung auf eine bestimmte Maßnahme | |
ermöglicht: Schon bei „drohender Gefahr“ dürfen die Beamtinnen und Beamten | |
tätig werden. Doch was bedeutet das? Eine drohende Gefahr, also die | |
theoretische Möglichkeit einer bedrohlichen Lage, lasse sich praktisch | |
immer begründen, kritisierte im März etwa die Gesellschaft für | |
Freiheitsrechte. Der Verein klagt strategisch gegen Gesetze, die | |
Grundrechte unverhältnismäßig beschränken. | |
## Was heißt hier drohende Gefahr? | |
Mit einem Teil seines Urteils folgte der Bayerische Verfassungsgerichtshof | |
dieser Argumentation. Tatsächlich sei der Begriff zu unbestimmt, um in | |
jedem Fall polizeiliche Eingriffe zu rechtfertigen. Allerdings seien die | |
verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllt, wenn „terroristische oder | |
vergleichbare Angriffe auf bedeutende Rechtsgüter“ zu befürchten sind. | |
Diese Einschränkung steht nicht im Gesetz selbst, so müsse es aber | |
ausgelegt werden. | |
Simón Barrera González ist Strafverteidiger und Dozent für Straf- und | |
Polizeirecht in Würzburg. „Lange galt in allen Bundesländern, dass die | |
Polizei erst eingreifen darf, wenn konkrete Gefahr vorliegt“, sagt er der | |
taz. Konkrete Gefahr wird nach tatsächlichen Anhaltspunkten im Einzelfall | |
beurteilt. „Drohend ist eine Gefahr ja schon weit vorher. Dass diese | |
Schwelle ausreicht, wenn wichtigste Rechtsgüter bedroht sind, hat das | |
Bundesverfassungsgericht 2016 entschieden.“ | |
Stein des Anstoßes war eine Gesetzesnovelle zum Bundeskriminalamt im Jahr | |
2008, die bei Terrorverdacht quasi unbegrenzte technische Überwachung auch | |
von Unbeteiligten erlaubte. Erstmals taucht dort die drohende Gefahr auf, | |
2016 von Karlsruhe abgesegnet. „Daraufhin haben viele Länder ihre | |
Polizeigesetze verschärft, Bayern mit seinem PAG als erstes. Die Polizei | |
kann seitdem schon früher eingreifen.“ Die Schwelle herabzusetzen, so der | |
Anwalt, sei also keine Erfindung der Staatsregierung gewesen. Bayern habe | |
den Rahmen ausgeschöpft, den das Bundesverfassungsgericht zuvor geschaffen | |
habe. | |
Diese Vorverlagerung polizeilichen Handelns sei „generell und immer ein | |
Problem“, sagt Anja Sommerfeld. Sie ist Mitglied im Bundesvorstand der | |
Roten Hilfe, eines Rechtshilfevereins für linke Aktivistinnen und | |
Aktivisten. [1][Die spendenfinanzierte Organisation gibt Rechtsberatung, | |
begleitet Prozesse und bietet finanzielle Unterstützung für Anwaltskosten]. | |
Werden Polizeigesetze ausgeweitet, bekommt auch der Verein es zu spüren, | |
sagt Sommerfeld. „Die Menschen, die sich bundesweit an die Rote Hilfe | |
wenden, sind in ihrem täglichen Leben, aber genauso bei Demonstrationen | |
oder Protestaktionen betroffen“. | |
Von Klimakampf über antifaschistische Proteste bis zu Aktionen gegen das | |
Patriarchat sei alles dabei. „Und immer sind die Menschen irgendwann mit | |
der Polizei konfrontiert. Denn eine Auseinandersetzung mit den | |
Verhältnissen kann nicht privat bleiben, sondern wird immer auch in der | |
Öffentlichkeit ausgetragen.“ | |
## Immer mehr Verfahren gegen Protestierende | |
Drohende Gefahr, so Sommerfeld, heiße letztlich, dass „lediglich in der | |
Theorie etwas Schlimmes passieren könnte“. Diese Einschätzung der Polizei | |
könne nicht unmittelbar überprüft werden, selbst im Eilrechtsschutz kämen | |
Verwaltungsgerichte oft zu spät: „Massive Grundrechtseingriffe sind dann | |
bereits passiert.“ | |
Auch Strafverteidiger González sieht das PAG kritisch, findet die | |
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aber juristisch nicht zu | |
beanstanden. Die Vorgabe aus Karlsruhe von 2016 sei nun einmal, dass | |
drohende Gefahr in bestimmten Fällen ausreiche. „Politisch würde ich das | |
auf jeden Fall kritisieren“, sagt der Anwalt. „Ich finde nicht, dass der | |
Staat in der Sicherheitspolitik alles ausschöpfen sollte, was | |
verfassungsrechtlich gerade noch geht.“ | |
Die Rote Hilfe kritisiert das Urteil grundsätzlicher. „Zum Schutz der | |
Grundrechte wäre eine konsequentere Entscheidung vom Verfassungsgerichtshof | |
nötig gewesen“, sagt Anja Sommerfeld. „Die ‚konkrete Gefahr‘ als | |
Anknüpfungspunkt muss der Staatsgewalt ausreichen. Denn Auslegungsfragen | |
und unsichere Rechtslagen nutzen immer der Polizei.“ | |
Nicht nur Bayern hat sein Polizeigesetz in den vergangenen Jahren deutlich | |
verschärft. Seit das bayerische PAG 2018 novelliert wurde, weiten | |
Bundesländer immer wieder die Befugnisse der Polizei aus, etwa für die | |
umstrittene [2][Präventivhaft] oder für technische Mittel wie Überwachung, | |
Datensammlung, Gesichtserkennung. | |
Schon als der Trend seinen Anfang nahm, stellte der Kriminologe Tobias | |
Singelnstein eine „Militarisierung“ der Polizei fest und prognostizierte, | |
dass andere Länder nachziehen würden: „Die Befugnisse gestatten der Polizei | |
sehr weitreichende Maßnahmen unter vageren Voraussetzungen, die | |
dementsprechend von den Gerichten schwerer kontrolliert werden können“, | |
[3][sagte Singelnstein 2018 in der taz]. „Das sollte man im Auge behalten | |
und sich als Gesellschaft überlegen, wie weit man bereit ist, zu gehen.“ | |
## Was ist mit Rassismus und Sexismus in der Polizei? | |
In den sieben Jahren, die seitdem vergangen sind, haben Bund und Länder | |
nicht nur Polizeigesetze so umgestaltet, dass die Rechte des Einzelnen | |
eingeschränkt werden. Anfang 2022 trat in Nordrhein-Westfalen ein neues | |
Versammlungsgesetz in Kraft, das Veranstalter in bestimmten Fällen | |
verpflichtet, den Behörden im Vorfeld Namen und Adressen von Ordnern | |
mitzuteilen. Im Ausländerrecht jagt eine Verschärfung die nächste, sogar | |
die Möglichkeit, Doppelstaatler auszubürgern wurde diskutiert. | |
Während der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Union forderte Philipp | |
Amthor, CDU-Abgeordneter und seit dieser Woche Staatssekretär im neuen | |
Digitalministerium, das Informationsfreiheitsgesetz einzuschränken, das | |
Journalistinnen und Bürgern Auskunftsanspruch gegenüber Behörden gibt. | |
Gegen diese Vorstöße regt sich Widerstand, auch in Form von Klagen. Hin und | |
wieder kassiert Karlsruhe tatsächlich einzelne Regelungen. So erklärte das | |
Bundesverfassungsgericht im Februar 2023 eine Software zur automatisierten | |
Verarbeitung von Personendaten für verfassungswidrig, die Hessen und | |
Hamburg benutzt hatten. Kurz zuvor waren Teile des | |
mecklenburg-vorpommerschen Polizeigesetzes gekippt worden, unter anderem | |
wegen zu weiter Einsatzmöglichkeiten für verdeckte Ermittlerinnen und | |
Ermittler. | |
Doch im Vergleich zu den vielen Novellen ist das wenig. „Rechtsprechung, | |
die der Polizei Grenzen setzt, ist selten“, sagt Anja Sommerfeld von der | |
Roten Hilfe. „Verfahren gegen unliebsame Protestierende, politische | |
Aktivist*innen, aber auch Betroffene von Rassismus nehmen zu und wir | |
verzeichnen eine immer größer werdende Zahl von Fällen, in denen eine | |
Unterstützung notwendig wird.“ Neben höheren Geldstrafen beobachte der | |
Verein, dass häufiger Freiheitsstrafen verhängt würden. „Rassismus, | |
Sexismus und willkürliche Gewalt in Teilen der Polizei sind hinreichend | |
erforscht und bekannt. Wir haben noch kein Polizeigesetz gesehen, das dem | |
Einhalt gebieten würde.“ | |
11 May 2025 | |
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Özge Inan | |
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