| # taz.de -- Das Lieferkettengesetz: Ein Trauerspiel in 5 Akten | |
| > Sollen Menschenrechte nur in deutschen Fabriken gelten? Oder auch in | |
| > Fabriken, die für Deutsche arbeiten? Das wollen manche unbedingt | |
| > verhindern. | |
| Bild: Mehr als 4 Millionen Menschen arbeiten in Bangladesch in der Textilindust… | |
| ## Prolog – Im Bundestag | |
| „Nie wieder Rana Plaza“ – so leitete Entwicklungsminister Gerd Müller se… | |
| Rede im Parlament ein. Das war am 11. Juni 2021. Acht Jahre zuvor waren | |
| über 1.100 vor allem weibliche Beschäftigte beim [1][Zusammenbruch des | |
| Rana-Plaza-Fabrikgebäudes bei Dhaka, Bangladesch], gestorben. Sie hatten | |
| auch für deutsche Unternehmen und Geschäfte genäht. | |
| Der bayerische Katholik und CSU-Politiker Müller zog daraus die Konsequenz, | |
| so etwas künftig mit einem Gesetz verhindern zu müssen. Der Bundestag | |
| beschloss das Gesetz schließlich. Union, SPD und Grüne stimmten dafür, FDP | |
| und AfD dagegen. Die Linken enthielten sich. Jetzt will Müllers Partei das | |
| Gesetz wieder abschaffen, zusammen mit CDU und SPD. | |
| Die Geschichte des Lieferkettengesetzes handelt von etwas ganz Einfachem: | |
| den Menschenrechten, die keinem Individuum genommen werden dürfen und die | |
| ganz vorne im Grundgesetz stehen. Müllers Gesetz legte fest, dass diese | |
| Rechte nicht nur in deutschen Fabriken gelten sollten, sondern auch in | |
| ausländischen, die für Deutsche arbeiten. | |
| [2][Aber viele Firmen, große Wirtschaftsverbände und konservative Politiker | |
| wollten dieses Gesetz immer verhindern]. Erst waren sie in der Defensive, | |
| jetzt sind sie in der Offensive. Eine Tragödie in fünf Akten. | |
| ## 1. Akt – Die Katastrophe | |
| Das achtgeschossige Fabrikgebäude Rana Plaza stürzte im April 2013 ein, | |
| weil man es schlecht gebaut hatte. Verantwortlich waren die Besitzer, | |
| mitverantwortlich die ausländischen, auch deutschen Unternehmen, die | |
| weggeschaut hatten. | |
| Nach dem Zusammensturz war die internationale Entrüstung enorm. Rana Plaza | |
| zeigte, wie die Globalisierung funktionierte. Schlechte Löhne, | |
| gesundheitsschädliche oder tödliche Arbeitsbedingungen und niedrige Kosten | |
| in den ausgelagerten Zulieferfabriken armer Länder ermöglichten günstige | |
| Verbraucherpreise in reichen Staaten. So etwas per Gesetz zu unterbinden, | |
| forderte deshalb bald eine breite Bewegung, die von der unabhängigen Linken | |
| über Gewerkschaften und Kirchen bis zu den Christlich-Konservativen | |
| reichte. | |
| ## 2. Akt – Das Gesetz | |
| Gerd Müller und sein SPD-Kollege Hubertus Heil versuchten über die Jahre | |
| einiges, um auch die deutschen Unternehmen und ihre Verbände von diesem | |
| Anliegen zu überzeugen – zunächst mit freiwilligen Angeboten wie dem | |
| Bündnis für nachhaltige Textilien und dem Nationalen Aktionsplan für | |
| Wirtschaft und Menschenrechte. Doch die meisten Firmen verweigerten sich. | |
| Deshalb entwarfen die Politiker das verpflichtende | |
| Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz. Darin steht, dass die hiesigen | |
| Auftraggeber eine Mitverantwortung für die Arbeitsverhältnisse in ihren | |
| Zulieferfabriken haben, dieser Verantwortung gerecht werden müssen, und | |
| ihnen bei Missachtung Sanktionen drohen. Es gilt für alle Unternehmen mit | |
| mindestens 1.000 Beschäftigten. | |
| Große Wirtschaftsverbände wie BDI, BDA, DIHK, Gesamtmetall oder Textil & | |
| Mode versuchten immer wieder, das Gesetz zu schwächen, zu verzögern und zu | |
| verhindern. Ihre Argumente: Die Überprüfung teilweise tausender Lieferanten | |
| sei für die Unternehmen zu aufwändig und zu teuer, außerdem dürften | |
| deutsche Firmen gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten nicht | |
| benachteiligt werden. | |
| ## 3. Akt – Europas Standard | |
| Mit ihrer Warnung vor Wettbewerbsnachteilen stießen die deutschen | |
| Wirtschaftsverbände und Politiker auf Verständnis der Europäischen | |
| Kommission – allerdings anders als erhofft. Unter Kommissionspräsidentin | |
| Ursula von der Leyen erarbeitete die EU selbst eine | |
| Lieferketten-Richtlinie, die etwas strengere Regeln als das deutsche Gesetz | |
| für alle großen in- und ausländischen Unternehmen in den 27 Mitgliedstaaten | |
| festlegte. | |
| Dagegen setzten die hiesigen Verbände und FDP-Bundesfinanzminister | |
| Christian Lindner alle Hebel in Bewegung – weitgehend erfolglos: Die | |
| Richtlinie, ein neuer internationaler Standard, wurde am 24. Mai 2024 | |
| beschlossen. | |
| ## 4. Akt – Die Gegenbewegung | |
| Inzwischen hat sich aber die Großwetterlage geändert. Im Gegensatz zu den | |
| ökonomisch guten 2010er Jahren steckt die deutsche Wirtschaft in einer | |
| Stagnation und Krise ihres Import-Export-Modells. Auch Firmen in anderen | |
| EU-Ländern machen sich Sorgen. Die russische und chinesische Autokratie | |
| sowie die antiliberale US-Regierung erschweren den internationalen Handel. | |
| Nach der Neuwahl des EU-Parlaments, in dem seither auch die Rechtsextremen | |
| stärker sind, will von der Leyens zweite Kommission der Wirtschaft | |
| entgegenkommen. Anfang 2025 schlägt sie vor, dass die Unternehmen nur noch | |
| für ihre direkten, also weniger Lieferanten mitverantwortlich sein sollen, | |
| [3][ihre Haftung beschränkt und das Inkrafttreten der Richtlinie verschoben | |
| wird.] | |
| ## 5. Akt – Zurück auf Los | |
| In Berlin bildet sich eine Bundesregierung aus Union und SPD. Diese will | |
| das deutsche Lieferkettengesetz nicht mehr anwenden, bis die EU ihre neue | |
| Richtlinie beschlossen hat. Wirtschaftsverbände, viele Unternehmen, Union, | |
| FDP und AfD werden derweil daran arbeiten, dass die künftige EU-Regelung | |
| möglichst schwach ausfällt. | |
| Bis dahin herrscht ein regelloser Zustand wie vor dem Beschluss des | |
| deutschen Gesetzes. Den Unternehmen bleibt es selbst überlassen, ob sie | |
| ihre Verantwortung für die Menschenrechte wahrnehmen. CSU-Minister Gerd | |
| Müller hat umsonst gearbeitet. Katastrophen wie Rana Plaza werden wieder | |
| wahrscheinlicher. | |
| 5 May 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fabrikeinsturz-in-Bangladesch/!5063362 | |
| [2] /EU-Lieferkettengesetz-aufgeweicht/!6068316 | |
| [3] /Lieferkettengesetz-soll-vertagt-werden/!6075838 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
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