Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Publizist Lasha Bakradze über Georgien: „Es gibt hier enorme Sym…
> Der gefeuerte Museumsdirektor Lasha Bakradze im Gespräch über die
> Proteste in Georgien. Sowie sowjetische Avantgarden und westliche
> Kulturtradition.
Bild: Protest der georgischen Opposition in Tiflis, 28. Dezember 2024
taz: Herr Bakradze, Sie haben in Jena in der DDR 1989 Ihr Diplom als
Germanist erworben. In den 1990er Jahren haben Sie an westlichen
Universitäten studiert und geforscht. Wie stark unterschieden sich
Forschung und Lehre in Ost und West?
Lasha Bakradze: Ich bin in der Sowjetunion groß geworden. In Tiflis, der
Hauptstadt Georgiens. In den 1980er Jahren war ein Studium in Georgien um
einiges liberaler ausgerichtet als etwa in Moskau. Und in der DDR schien
mir vieles noch krasser als in Russland. Ich war überrascht, als ich in
Jena eintraf, wie präsent die FDJ (Freie Deutsche Jugend, staatlich
kommunistische Jugendorganisation) hier war. Das marxistisch-leninistische
Vokabular dominierte. Es klang etwas lächerlich. In Georgien hatte die
kommunistische Ideologie schon diesen Leichengeruch. Nicht so in der DDR.
taz: Georgien war liberaler orientiert, ähnlich Polen oder Tschechien?
Bakradze: Und auch wie Ungarn früher. Ich war verwundert von der DDR. Die
Universitäten von Jena und Tiflis pflegten eine Partnerschaft. In Jena
wurde Ende der 1980er fleißig Marxismus-Leninismus gelehrt, zudem in sehr
oberflächlicher Weise.
taz: Wie drückte sich dies aus?
Bakradze: Ich interessierte mich für die Literatur der Romantik. Nach
marxistischer Auffassung war die Romantik in eine progressive und in eine
reaktionäre Linie unterteilt. Daran war nicht zu rütteln. Ich mochte Ludwig
Tieck oder Novalis. Das waren leider die Falschen. Sie galten als
Reaktionäre. In Tiflis hatte ich zuvor in zwei Jahren Germanistik mehr
gelernt als nun in den vier Jahren in Jena. Die Unterdrückung anderer
Meinungen war in der DDR viel ausgeprägter als in Georgien.
taz: Woran mochte das gelegen haben?
Bakradze: Es gab sicher mehr als einen Grund dafür. Die georgische
Unabhängigkeitsbewegung war aufgrund der Erfahrungen mit Sowjets und Moskau
ein oppositioneller Faktor. In den 1920er Jahren waren viele aus den
georgischen Avantgarden auch Anhänger der Revolution. Aber nach fast
70-jähriger kommunistischer Herrschaft hatte sich das erledigt. Ich selber
stamme aus einer dissidenten Familie, die sich mit Kunst, Film, Geschichte
und Literatur beschäftigte. Was mich bei den jungen Leuten in der DDR Ende
der 1980er so überraschte, war, dass selbst die kritischen unter ihnen
weiterhin auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ hofften. In
Georgien war das Thema durch. Seit den 1970er Jahren traten nur noch
Karrieristen oder Hochstapler der Kommunistischen Partei bei.
taz: Dabei war der Glaube an den Kommunismus in den 1920er Jahren in
Georgien zunächst sehr ausgeprägt gewesen …
Bakradze: Ja, und es ist kein Zufall, dass viele georgische Kommunisten
sehr einflussreich im gesamtrussischen, gesamtsowjetischen Kontext wurden,
auch georgische Sozialdemokraten in der Revolutionszeit 1917. Der
berühmteste von ihnen war natürlich Stalin. Aber er war bei Weitem nicht
der Einzige. Der Georgier Eduard Schewardnadse verhandelte als sowjetischer
Außenminister die postsowjetische Ordnung mit dem Westen. Diese schloss die
volle nationale Souveränität von Georgien, Ukraine oder den baltischen
Staaten ein. Und damit auch deren freie Wahl, ob sie zu EU oder Nato
gehören wollen.
taz: Sie sind auch bei SovLab aktiv. Was ist das für eine Organisation?
Bakradze: Die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit ist sehr wichtig.
2010 gründeten wir SovLab (The Soviet Past Research Laboratory) in Tiflis,
eine Organisation, die die Sowjetgeschichte Georgiens erforscht. Es gab
bis dahin kaum eine kritische Beschäftigung damit. SovLab ist ein
zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss georgischer Historiker und
Intellektueller. [1][Ähnlich wie Memorial in Russland,] natürlich kleiner.
Memorial repräsentiert für mich den positiven Teil der russischen
Gesellschaft. Viele von ihnen sind nach Putins Überfall auf die Ukraine
2022 ins Exil gegangen.
taz: Sie sprachen das Interesse in Ihrem Elternhaus für Kunst an. Sie haben
selber auch Ausstellungen georgischer Malerei organisiert, treten hin und
wieder als Schauspieler auf. Eher ungewöhnlich für einen Schriftgelehrten?
Bakradze: Mein Vater war Intendant des Rustaweli-Theaters in Tiflis, dem
größten Theater Georgiens. Zuvor hatte er im sowjetisch-georgischen Kino
verschiedene Positionen inne. Meine Mutter hat ebenfalls Film- und
Theaterregie gelernt, später für Fernseh- und Radiosender gearbeitet. Hin
und wieder nehme ich Rollen an, weil es mir Spaß macht. Es ist ein Hobby.
Der georgische Film hatte zu Zeiten der Sowjets eine wichtige
oppositionelle Rolle inne. Die jetzige illegitime Regierung hat das
Nationale Georgische Filmzentrum besonders ins Visier genommen. Sie geht
gegen die gesamte kritische Kunst- und Kulturszene vor. 500 Filmschaffende
haben in einer Resolution gegen die politische Übernahme des Filminstituts
protestiert. Praktisch alle boykottieren es heute.
taz: Letztes Jahr wurden auch Sie als Direktor des georgischen
Literaturmuseums gefeuert. Was war der konkrete Anlass dazu?
Bakradze: 2023 wurde nach russischem Vorbild ein Gesetz erlassen, das es
erlaubt, Menschenrechtler und Oppositionelle als „ausländische Agenten“ zu
kriminalisieren. Wer mit internationalen Organisationen zusammenarbeitet,
kann rasch zum Spion erklärt werden. Ich hatte mich zudem entschieden, als
Unabhängiger auf einer Liste der Opposition bei den Wahlen zu kandidieren.
taz: Darauf erfolgte Ihr Rausschmiss?
Bakradze: Genau. Und nun bin ich gewählter Abgeordneter des georgischen
Parlaments. Allerdings hat die Opposition wegen der [2][Wahlfälschung]
entschieden, ihre Sitze nicht einzunehmen. Ich hatte schon lange mit meiner
Entlassung gerechnet. Als ich bei einer Wahlrede angemerkt hatte, dass beim
regierenden Georgischen Traum so wenig Frauen sind, haben sie mich
propagandistisch ins Visier genommen und die Sache umgedreht. Ich hätte
etwas Frauenfeindliches gesagt. Man hat mich wie Tausende andere unter
einem Vorwand gefeuert.
taz: Georgische Kultur, Malerei und Film gelten als sehr eigenwillig.
[3][Auf einer Reportagereise] habe ich vor einigen Jahren das Werk des
Malers Niko Pirosmani kennengelernt. Ein Autodidakt aus einer
Bauernfamilie. Sein magischer Realismus um 1900 steht für den Beginn der
georgischen Avantgarde. Warum ist sein Werk für Georgien so bedeutsam?
Bakradze: Pirosmanis Position basiert, wie auch der Filmer Giorgi
Schengelaia zeigt, auf der traditionellen naiven Kunst Georgiens. Die
späteren Avantgarden in der Sowjetunion waren nicht nur russländische. An
ihnen waren Ukrainer, Weißrussen, Juden, Kaukasier, speziell Georgier
beteiligt. 1913 wurden vier von Pirosmanis Gemälden bei der ersten großen
Ausstellung moderner Malerei in Moskau gezeigt. Sein bisschen Geld
verdiente Pirosmani als Auftrags- und Kunstmaler, 1918 starb er an
Unterernährung. Sein Stil hat jedoch einen prägenden Eindruck auf die
Avantgarde Russlands hinterlassen. Ähnlich der „naiven“ Kunst der
afrikanischen auf die französische oder europäische Malerei. Seine Bilder
hingen in Kneipen. Sie wurden nicht wirklich ausgestellt, sie dienten der
Dekoration. Aber das war gleichzeitig unglaublich modern. Pirosmanis
magischer Realismus markiert den Beginn der georgischen Avantgarde. Und bis
heute diskutieren wir darüber, ob er für sein berühmtes Bild „Giraffe“
jemals eine Giraffe gesehen hat.
taz: Wer nach Georgien reist, wird überrascht sein, wie westlich die Jugend
in Städten wie Tiflis orientiert ist. Woher rührt dieses große
liberaldemokratische Selbstverständnis in einem Land, das bis 1990 unter
der Knute der Sowjets stand?
Bakradze: Kulturell fühlen wir uns als Europäer. Seit der Antike ist das
so. Später kam auch das Christentum hinzu. Die geografische Betonung der
Trennung von Europa und Asien beruht auf einer politischen. Auf der einen
Seite standen die alten Perser mit ihrem zentralistischen, autoritären
Staat. Auf der anderen die alten Griechen, mit ihren kleineren
Stadtstaaten, der Polis. Griechenland, das bedeutete Europa und Demokratie,
Persien Asien und Autokratie. Doch bereits das antike Kolchis, Medea und
die Argonauten waren Teil einer westlichen Erzählung. Georgien ist weder
russisch noch asiatisch und hat doch auch orientalische Traditionen.
„Grimms Märchen“ oder die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“, bei…
ist hier sehr nahe. Georgien ist eine Brücke zwischen West und Ost.
taz: Inzwischen soll diese Brücke aber eingerissen werden. Die aktuelle
Regierung ist offen auf den Kurs Russlands eingeschwenkt. Ist dieser Trend
in Ihren Augen noch umkehrbar?
Bakradze: Die Mehrheit der georgischen Bevölkerung ist proeuropäisch
eingestellt. Sie tritt dafür offen ein. So sehr, dass die Regierenden nie
gewagt haben, direkt zu sagen: Wir wollen Europa nicht, wir wollen das
russische Modell. Seit dem 24. November gibt es in Georgien permanente
Proteste, die auf faire Wahlen und Demokratisierung bestehen. Die
herrschende Partei Georgischer Traum ist ein Albtraum. Seit dem russischen
Überfall auf die Ukraine haben hier viele ihre Maske abgenommen.
taz: Hinter der Regierung des Georgischen Traums steht der superreiche
Oligarch Bidsina Iwanischwili?
Bakradze: Ein Milliardär, dessen persönliches Vermögen etwa ein Drittel des
gesamten georgischen ausmachen soll. Sein Agieren ist wie sein Imperium
völlig intransparent. Russische Dienste haben in Georgien relativ leichtes
Spiel. Seit 13 Jahren regiert der Georgische Traum das Land. Ich kann mich
allerdings nicht erinnern, dass in dieser Zeit auch nur ein einziger
russischer Agent entlarvt oder abgeschoben worden wäre.
taz: Die Opposition und viele junge Leute in Tiflis kämpfen auch um ihre
LGBTQ+-Rechte.
Badradze: Es gibt eine sehr gute und tolerante Clubkultur in Tiflis. Aber
schon zu Beginn der Regierungszeit des Georgischen Traums 2013 wurde der
Straßenmob auf die Pride-Veranstaltung in Tiflis losgelassen. Da habe ich
verstanden, wie populistisch und menschenfeindlich diese Leute wirklich
sind. Die Polizei hat die Menschenjagden auf den Straßen zugelassen. Wir
waren schockiert, haben dagegen protestiert. Die Regierung hat früher immer
so getan, als sei sie zu schwach und hätte mit so etwas nichts zu tun.
Inzwischen ist vieles anders. Im Kultursektor trieben sie die Säuberungen
kontinuierlich voran. Bereits nach der Frankfurter Buchmesse 2018 nahm der
Druck auf Medea Metreveli, Direktorin des Georgischen Nationalen
Buchzentrums, und ihr Team zu. Sie wurde entlassen. Danach traf es Natascha
Lomouri, Direktorin des Schriftstellerhauses in Tiflis. Viele andere,
emanzipierte und gut ausgebildete Frauen wurden rausgeschmissen. Ebenso wie
der Direktor des Filmzentrums. Es trifft die Leiterinnen von Museen der
Theater. Dagegen ist die ganze Kulturszene in Aufruhr.
taz: Könnten [4][die Kommunalwahlen im Herbst] in Georgien vielleicht eine
Trendwende bewirken?
Bakradze: Ich fürchte, nein. Es macht derzeit keinen Sinn, sich daran zu
beteiligen. Die jetzige Staatsregierung ist illegitim, die Wahlkommission
agiert einzig im Sinne der Partei, die die gesamte Macht an sich gerissen
hat. Justiz, Sicherheitsdienste, Medien werden undemokratisch gelenkt. Für
die Oppositionsparteien ist die Situation extrem schwierig.
taz: Was tun?
Bakradze: Wir müssen weiter von der Straße her Druck gegen die Regierenden
aufbauen. Und hoffen, dass uns der Westen durch Sanktionen gegen die
Machthaber und nicht nur durch Visabeschränkungen stärker unterstützt.
Dabei dürfte auch der Ausgang des Krieges in der Ukraine für Georgien oder
Moldau entscheidend sein. Unsere [5][Zukunft ist mit der einer freien
Ukraine] verbunden. In Georgien gibt es enorme Sympathien für die Ukraine.
Es gibt keine Demonstration, bei der ukrainische Fahnen nicht mit dabei
wären. Aber nun haben wir Trump in den USA, Erdoğan in der Türkei,
Autoritäre in Serbien, in Ungarn. Die brutale, unmenschliche Aggression von
Russland gegen die Ukraine dauert an.
taz: Klingt alles nicht sehr optimistisch?
Bakradze: Die [6][EU darf Georgien dennoch nicht aus den Augen] verlieren.
Nicht allein aus moralischen oder ethischen Gründen, sondern auch wegen
dieser enormen proeuropäischen Stimmung im Land. Wenn man sich etwas Mühe
gibt, können wir mit Georgien eine Erfolgsgeschichte schaffen. Die EU muss
den Druck auf die jetzige sehr schwache Regierung erhöhen. Diese hat wenig
Unterstützung in der Bevölkerung, setzt vor allem auf Repression. Es
braucht scharfe Sanktionen gegen die Verantwortlichen für den jetzigen
[7][Terror gegen die Zivilgesellschaft.] Die politischen Gefangenen müssen
freikommen und wir brauchen faire demokratische Neuwahlen. Die Proteste in
Georgien gehen jeden Tag weiter. Wir wollen keinen Einparteienstaat mit
Fake-Opposition wie in Russland oder mit „Blockflöten“ wie in der früheren
DDR. Wir wollen nach Europa.
29 Apr 2025
## LINKS
[1] /Irina-Scherbakowa-ueber-Exil-und-Flucht/!6039574
[2] /Wahlen-in-Georgien/!6045089
[3] /Georgiens-Hauptstadt-Tiflis/!5508647
[4] /Rolle-rueckwaerts-in-Georgien/!6079344
[5] /Texte-aus-dem-Krieg/!6075477
[6] /Assoziierungsabkommen-mit-Georgien/!5039159
[7] /Georgische-Kuenstlerin-ueber-Protest/!6070634
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
wochentaz
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Georgien
DDR
Russland
Kulturgeschichte
Sowjetunion
Avantgarde
Schwerpunkt LGBTQIA
Europäische Union
Interview
GNS
Georgien
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rolle rückwärts in Georgien: Hart vorbei an der Demokratie
Georgien war einst Hoffnungsträger für politischen Wandel und auf Westkurs.
Heute macht die Regierung einen Backlash: Richtung Autoritarismus und
Russland
„Texte aus dem Krieg“: Untergang des Menschen und Feldmausrettung in der Uk…
Einfühlsame Beobachtung gegen mörderische Gleichgültigkeit – Katja
Petrowskaja leistet in ihren Fotokolumnen auf ihre Art Widerstand.
Irina Scherbakowa über Exil und Flucht: „Ich vermisse Russland nicht“
Putin, die Ukraine und der Westen. Kulturwissenschaftlerin Scherbakowa über
den Kampf um Demokratie, Solidarität und das Werk der Osteuropa-Expertin
Anne Applebaum.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.