# taz.de -- Rolle rückwärts in Georgien: Hart vorbei an der Demokratie | |
> Georgien war einst Hoffnungsträger für politischen Wandel und auf | |
> Westkurs. Heute macht die Regierung einen Backlash: Richtung | |
> Autoritarismus und Russland | |
Bild: Feuer für die Freiheit: Seit Monaten wehren sich Menschen in Georgien ge… | |
Berlin taz | Es braucht einiges, um die Menschen in der Südkaukasusrepublik | |
Georgien aus der Fassung zu bringen. Doch am 9. April war es wieder einmal | |
so weit: Friedliche Demonstrant*innen versammelten sich in der Nähe | |
des Parlaments in der Hauptstadt Tbilissi zu einer 24-stündigen Kundgebung, | |
um der schrecklichen Ereignisse vor 36 Jahren zu gedenken. | |
Am 9. April 1989 hatten Sondereinheiten der sowjetischen Armee unter den | |
Teilnehmer*innen einer Großkundgebung für den Austritt Georgiens aus | |
der Sowjetunion in Tbilissi ein Massaker angerichtet: 21 Zivilist*innen, | |
größtenteils junge Frauen, wurden getötet und Hunderte verletzt. | |
Zwar ließen die Sicherheitskräfte am 9. April 2025 die Protestierenden | |
gewähren. Doch dafür schoss die Regierungspartei Georgischer Traum (KO), | |
seit über 12 Jahren an der Macht, verbal mit umso schärferer Munition um | |
sich. Parlamentssprecher Schalva Papuaschwili verstieg sich zu der Aussage, | |
[1][dass die schaufelschwingenden Soldaten jetzt durch jene ersetzt worden | |
seien, die ausländische Flaggen schwenkten] – entwurzelte Individuen, die | |
mit der gleichen Rücksichtslosigkeit versuchten, die Unabhängigkeit | |
Georgiens zu zerstören. | |
Diese Art der Rhetorik sei das eine, heißt es in einem Kommentar des | |
unabhängigen Webportals oc-media. Weitaus gefährlicher sei, dass die | |
Strategie der KO sich längst in konsequente Maßnahmen verwandelt habe. | |
## Modell für Übergang | |
Noch bis 2017 galt Georgien in der Region als Modell für einen möglichen | |
erfolgreichen Übergang zur Demokratie. Doch nun ist die KO mit rasantem | |
Tempo in entgegengesetzter Richtung unterwegs. Der Kurs der Regierung führt | |
zwar noch nicht direkt in die Arme Russlands (das 20 Prozent des | |
Territoriums Georgiens besetzt hält), jedoch geradewegs in den | |
Autoritarismus. | |
Die Parlamentswahlen am 26. Oktober 2024, reich an Manipulationen und | |
Gesetzesverstößen, will die KO mit knapp 54 Prozent gewonnen haben. Zum | |
Brandbeschleuniger für Proteste, die bis heute anhalten, wurde die | |
Ankündigung der Regierung vom November, den EU-Beitrittsprozess bis 2028 | |
auszusetzen. | |
Im Dezember 2023 erhielt das Land den Status eines EU-Beitrittskandidaten. | |
Dessen ungeachtet peitschte die KO im Mai 2024 ein „Gesetz zur Transparenz | |
ausländischer Einflussnahme“ im Parlament durch, das Medien und | |
Nichtregierungsorganisationen stärker kontrollieren soll. | |
Eine weitere Verschärfung des Gesetzes – Kritiker*innen nennen es | |
„Agentengesetz“ nach russischem Vorbild – erfolgte Anfang April. Nicht nur | |
Organisationen, sondern auch Einzelpersonen, die Gelder aus dem Ausland | |
erhalten, müssen sich jetzt als „Agenten“ registrieren lassen. [2][Bei | |
Zuwiderhandlungen drohen bis zu fünf Jahre Haft oder Geldstrafen von | |
umgerechnet knapp 3.200 Euro.] | |
Doch die abschreckende Wirkung hält sich in Grenzen. In einer Erklärung, | |
die über hundert Nichtregierungsorganisationen und Medien unterzeichnet | |
haben, heißt es: „Bereits im dritten Jahr machen wir, die georgische | |
Zivilgesellschaft, Iwanischwili klar, dass wir nicht nach russischem Recht | |
leben und arbeiten werden. Georgien wird sich niemals für russisches Recht | |
entscheiden, egal in welcher Form.“ Der georgische milliardenschwere | |
Unternehmer Bidzina Iwanischwili ist Gründer der KO. | |
Die Axt legt die KO auch an die verbliebenen Oppositionsparteien an – kein | |
Zufall, denn im Herbst stehen Kommunalwahlen an. Derzeit ist ein | |
Gesetzespaket in Vorbereitung, das ein Verbot politischer Gruppierungen | |
ermöglicht. Der Fraktionschef der parlamentarischen Mehrheit der KO, | |
Mamuka Mdinaradze, sprach Ende März von Kräften, „deren Aktivitäten und | |
personelle Zusammensetzung der Entscheidungsträger*innen oder | |
satzungsmäßigen Ziele“ mit denen der „kollektiven UNM“ identisch sind. … | |
seien „antigeorgisch, verfassungswidrig, antinational und kriminell“. | |
Mit der „kollektiven UNM“ ist nicht nur die Vereinte Nationale Bewegung | |
(UNM) [3][des ehemaligen und derzeit inhaftierten Präsidenten Micheil | |
Saakaschwili] gemeint, sondern auch die vier Oppositionsbündnisse, die bei | |
den Wahlen im Oktober die Fünfprozenthürde übersprungen hatten. Ins Werk | |
setzen soll den „Parteienbann“ das Verfassungsgericht. | |
Die „Georgische Vereinigung junger Anwält*innen“ (GYLA) sieht noch | |
düstere Zeiten heraufziehen. „Wenn die KO alle demokratischen Institutionen | |
einschließlich des Verfassungsgerichts gekapert hat, ist zu erwarten, dass | |
die Partei politische Organisationen problemlos verbieten und das | |
politische Spektrum zerschlagen wird, ohne dass eine notwendige rechtliche | |
Begründung, sachliche Beweise oder die Einhaltung internationaler Standards | |
zur Vereinigungsfreiheit gegeben sind“, heißt es in einer Stellungnahme. | |
## Weitestgehend hilflos | |
Der Westen steht den Entwicklungen in Georgien weitestgehend hilflos | |
gegenüber. Sanktionen gegen wichtige Entscheidungsträger*innen laufen | |
bislang ins Leere. Doch es könnte schlimmer kommen. In der vergangenen | |
Woche verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates | |
(Pace) eine weitere kritische Resolution zu Georgien. Bereits im Januar | |
hatte die Pace die Anerkennung der Beglaubigungsschreiben der Mitglieder | |
der georgischen Delegation nur eingeschränkt akzeptiert und an Bedingungen | |
geknüpft. | |
Dazu gehörten die Ausrufung von Neuwahlen [4][sowie die Freilassung von | |
Personen, die an Protesten teilgenommen hatten]. Daraufhin hatte die | |
georgische Delegation die Versammlung verlassen. In der neusten | |
Pace-Resolution werden, wenig überraschend, mangelnde Fortschritte bei der | |
Umsetzung früherer Empfehlungen sowie anhaltende demokratische Rückschritte | |
bemängelt. | |
Am 10. Mai steht das Thema Georgien in der Pace erneut zur Diskussion. Der | |
georgische Konfliktologe Paata Zakareischwili erwartet nichts Gutes. „Die | |
Menschenrechtslage verschlechtert sich weiter. Die KO greift unverhohlen | |
europäische Institutionen an – darunter auch den Europarat. Damit lässt sie | |
dem Rat und anderen europäischen Institutionen keine andere Wahl, als noch | |
härtere Maßnahmen zu ergreifen“, zitiert ihn das georgische | |
Nachrichtenportal JAM news. „Die schwerwiegendste Konsequenz für Georgien | |
wäre der Ausschluss aus dem Europarat. Ich hoffe jedoch, dass es nicht | |
dazu kommt.“ | |
19 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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