# taz.de -- Tunesien räumt Flüchtlingscamps: Neue Feindbilder in Nordafrika | |
> Am Strand von Sfax leben Tausende afrikanischer Migrant:innen unter | |
> menschenunwürdigen Bedingungen. Jetzt haben nordafrikanische Länder mit | |
> der Deportation begonnen. | |
Bild: Aus Westafrika und dem Sudan kommende Geflüchtete im tunesischen Sfax im… | |
Tunis taz | Tunesische Sicherheitskräfte haben am Mittwoch mit der Räumung | |
von Flüchtlingslagern begonnen, in denen mehr als 30.000 Migrant:innen | |
und Flüchtlinge leben. Zuvor war den aus den aus dem Sudan und Westafrika | |
kommenden Menschen ein Ultimatum gestellt worden. Bis Mittwoch müsse man | |
sich bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) melden, und | |
die Rückkehr in die Heimat zu organisieren, warnten Vorauskommandos in den | |
12 Camps. Wer in den selbst organisierten Zeltstädten bleibe, würde in das | |
Grenzgebiet nach Libyen oder Algerien deportiert. | |
Seit fast zwei Jahren ist der 60 Kilometer lange Küstenstreifen nördlich | |
der Hafenstadt Sfax Sammelpunkt derjenigen, die auf einen Platz in einem | |
Boot nach Lampedusa oder Sizilien hoffen. Seitdem viele libysche Milizen | |
von den Angehörigen inhaftierter Migrant:innen Geld erpressen, gilt | |
Tunesien als die sicherste Route nach Europa. | |
Doch seit August 2024, nachdem die Brüsseler EU-Kommission mit Präsident | |
Kaïs Saied ein Migrationsabkommen unterzeichnete, fängt die tunesische | |
Küstenwache fast alle Boote mit Migrant:innen an Bord ab. | |
Gleichzeitig kommen über die algerische und libysche Grenze immer mehr | |
Menschen an die Küste. Die Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und | |
den aus Subsahara-Afrika kommenden Menschen steigen. Noch während der | |
Corona-Pandemie hatten beide Gemeinschaften einträglich zusammengelebt, | |
auch weil die Migrant:innen als unterbezahlte Tagelöhner:innen | |
[1][viele Betriebe im Servicebereich durch die Wirtschaftskrise geholfen | |
hatten]. | |
## Helfende kriminalisiert, medizinische Hilfe verboten | |
Dann entfachte eine Wutrede des Präsidenten im vergangenen Sommer eine | |
Welle der Gewalt, die Nationalisten mit Videos auf sozialen Medien | |
geschickt vorbereitet hatten. Statt zusammen mit der EU eine geordnete | |
Rückführung der Migrant:innen zu organisieren, bezeichnete Saied die | |
Migration als Verschwörung fremder Mächte gegen die arabische und | |
islamische Identität Nordafrikas. Nach gewaltsamen Übergriffen auf | |
dunkelhäutige Menschen in Tunis und Sfax flohen Migrant:innen [2][in die | |
endlosen Olivenhaine bei Sfax]. | |
Um in Algerien, Mali oder Libyen Wartende von der Reise nach Sfax | |
abzuhalten, wurde der UN-Organsiation IOM de facto die Arbeitslizenz | |
entzogen. Viele Aktivist:innen privater tunesischer Hilfsorganisationen | |
aus Sfax wurden wegen angeblichem finanziellem Missbrauch von Spenden oder | |
wegen des Empfangs von Geldern aus dem Ausland zu langjährigen | |
Gefängnisstrafen verurteilt. | |
„In den letzten Wochen durften uns auch die Apotheken keine Medikamente | |
mehr aushändigen“, klagt Ibrahim Foufana, der in mehreren Lagern | |
Feldkrankenhäuser aufgebaut hat. Der 26-jährige angehende Chirurg aus | |
Guinea behandelt zusammen mit einem Freiwilligenteam seit dem letzten | |
Sommer Verletzte, chronisch Kranke und hilft schwangeren Frauen bei der | |
Geburt. | |
In der „Kilometer 30“ genannten Zeltstadt ist Foufanas aus Plastikplanen | |
und mit Klebebändern zusammengehaltenen Lazarett der einzige Anlaufpunkt | |
für über 4000 Menschen. „Seitdem die tunesischen Krankenhäuser selbst | |
hochschwangere Migrant:innen ablehnen, werden hier Kinder unter | |
unglaublich schlechten hygienischen Bedingungen zur Welt gebracht“, sagt | |
der junge Arzt. | |
## „Nicht Europas Grenzschützer sein“ | |
Durchschnittlich starben in den Lagern wöchentlich fünf Menschen an | |
Infektionen oder Schwäche, berichtet das medizinische Personal gegenüber | |
der taz in Al Amra, einem kleinen Fischerdorf, in dem es letzte Woche zu | |
Straßenprotesten gegen die „Afrikaner“ gekommen war. „Für uns steigen w… | |
der bis zu 70.000 Migranten im Süden Tunesiens die Lebensmittelpreise“, | |
klagt zum Beispiel Zied Melulli, der Gründer einer Bürgerinitiative für die | |
Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Sfax. „Doch von der Finanzhilfe | |
aus Brüssel ist gerade hier in der Provinz, wo das Zusammenleben lange gut | |
funktioniert hatte, nichts angekommen. Wir sind es leid Europas | |
Grenzschützer zu sein.“ | |
Die italienische Regierung hatte am Mittwoch angekündigt, Tunesien bei der | |
„Repatriierung“ der Migrant:innen mit 20 Millionen Euro zu unterstützen. | |
Die Bundesregierung unterstützt die Küstenwache und Nationalgarde mit | |
technischem Gerät und Ausbildung. | |
## Deportation an die algerische Grenze | |
Am Freitag morgen hatten sich mehrere hundert Migranten bei einer | |
Delegation gemeldet, die in Westen von IOM zur Zeltstadt „Kilometer 30“ | |
gekommen war. Doch statt in das von den Vereinten Nationen standardisierte | |
Rückführungsprogramm aufgenommen und nach mehreren Wochen Wartezeit in die | |
Heimat geflogen zu werden, setzten Beamte der Nationalgarde sie in Busse, | |
die sie an die algerische Grenze transportierten. In anderen Lagern | |
zerstörten die Sicherheitskräfte die Zelte der Bewohner, die in Panik | |
flohen. „Niemand ist mehr sicher,“, berichtet Saiko Jeng vom Kilometer 31. | |
„Selbst vor IOM-Mitarbeitern haben wir Angst.“ | |
In der Nähe der algerischen Grenzstadt Tebessa werden seit Monaten aus Sfax | |
deportierte Migranten von Straßenbanden aufgelesen und an die algerische | |
Polizei übergeben. Diese bringt die oft ausgehungerten Menschen an die | |
Grenze zum Niger, von wo sie sich sich mit einem 15 Kilometer langen | |
Fußmarsch durch die Sahara in das IOM-Center in der Stadt Assamaka | |
durchschlagen. | |
## Libyen schließt sich den Pushback-Plänen an | |
Am Mittwoch hat sich nun auch die libysche Regierung dem großen | |
Pushback-Plan Tunesiens und Algeriens angeschlossen. Salem Geith, der | |
Sprecher der „internen Sicherheitsagentur“ (ISA), einem | |
Inlandsgeheimdienst, verkündete ein Arbeitsverbot für 10 internationale | |
Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlinge und Migrant:innen mit | |
Lebensmitteln und Medikamenten helfen. | |
Dem Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC), Ärzten ohne Grenzen, Terre des | |
Hommes und anderen Hilfsorganisationen wird vorgeworfen, die Menschen in | |
Libyen ansiedeln zu wollen. Vier Millionen Illegale Migranten würden zur | |
Zeit in Libyen leben, behauptete Innenminister Emad Trabelsi kürzlich vor | |
Journalisten in Tripolis und warnte. „Europa müsse helfen die libyschen | |
Grenzen zu sichern oder man werde das Problem wie die Nachbarländer lösen.“ | |
4 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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