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# taz.de -- Justiz in Tunesien: Schauprozess gegen Kritiker des Staates
> In Tunesien wird ein Verfahren wegen „Verschwörung“ zum Gradmesser
> politischer Freiheit. Präsident Said gewährt sie seinem Volk immer
> weniger.
Bild: „Freiheit für politische Gefangene“ – vor dem Gericht in Tunesien…
Tunis taz | Mit Anhörungen der Angeklagten wurde am Freitag in Tunis ein
vielbeachteter Prozess wegen Verschwörung gegen den Staat fortgesetzt. 40
Politiker, Diplomaten, Journalisten und Aktivisten sollen laut der
tunesischen Staatsanwaltschaft in mehreren heimlichen Treffen einen Umsturz
gegen Präsident Kais Saied geplant haben, berichten lokale Medien. Weil
auch Zugehörigkeit einer Terrorgruppe im Raum steht, droht einigen
Angeklagten sogar die Todesstrafe. Diese wird in [1][Tunesien] seit 1991
nicht mehr vollstreckt. Die Beweise für die „Verschwörung gegen die innere
und äußere Sicherheit des Staates“ sind bisher der Öffentlichkeit
weitgehend unbekannt.
Der von den Medien als „Konspirationsverfahren“ bezeichnete Prozess wird in
der arabischen Welt mit Interesse verfolgt und gilt als Gradmesser dafür,
ob es im ehemaligen Vorzeigeland des Arabischen Frühlings noch immer
rechtsstaatlich zugeht. Viele interpretieren den Prozess als eine Art
Abrechnung der mit dem Arabischen Frühling hinweggefegten, alten
staatlichen Strukturen gegen die muslimbrüdernahe Szene.
Nach Meinung von Abdelaziz Essid ist die Justiz schon lange nicht mehr
unabhängig. Der Rechtsanwalt vertritt mehrere Angeklagte. „Die mir
vorliegenden Beweise für eine Verschwörung gegen den Staat sind für mich
nicht stichhaltig“, sagt er. „Dies ist ein absurder Schauprozess.“
Weil das Gericht am Freitag keine Zuschauer zugelassen hatte, protestierten
vor dem Gebäude Angehörige und die Opposition. Aber auch die Angeklagten
waren nicht anwesend, per Video wurden ihre Aussagen aus dem Gefängnis im
Gerichtssaal gezeigt. Im Februar waren neun Verhaftete für so gefährlich
erklärt, dass ein Prozess nur per Videoschalte möglich sei. Weil einige
Anwälte dies ablehnen, wurde die Anhörung am Freitag schließlich
unterbrochen und soll Ende dieser Woche fortgesetzt werden.
## Justiz wird genutzt, um Druck aufzubauen
Im Visier der Staatsanwaltschaft stehen vor allem führende Parteigrößen der
Ennahda-Partei. Die moderat-islamistische Partei stieg nach der Revolution
im Jahr 2011 zur größten politischen Kraft des
12-Millionen-Einwohner-Landes auf und war an allen zehn Regierungen in der
Zeit danach beteiligt. Im Westen war die lange verbotene Partei ein
umworbener Partner des demokratischen Übergangsprozesses. In Tunesien stieß
die zunehmende Vetternwirtschaft der aus dem Exil zurückgekehrten
Parteikader auf immer größere Kritik.
Mittlerweile ist die Ennahda verboten. Der für seine lautstarke Kritik an
Kais Saied autokratischem Regierungsstil bekannte Parteikader Jaouhar Ben
Mbarek und Parteichef Abdelhamid Jelassi sitzen seit Februar 2023 hinter
Gittern. Mbarek hat am 30. März einen Hungerstreik begonnen, fünf weitere
Angeklagte schlossen sich jüngst an.
Präsident Said war 2019 mit einer Kampfansage gegen Korruption und
Vetternwirtschaft gewählt worden und trifft vor allem in den
vernachlässigten Teilen des Landes weiterhin auf große Zustimmung. Doch
[2][das harte Vorgehen von Sicherheitskräften und Justiz sorgt immer wieder
für Schlagzeilen]. Derweil stocken die versprochenen Wirtschaftsreformen.
Am vergangenen Mittwoch gingen mehrere hundert Menschen gegen das Verfahren
auf die Straße, 40 prominente Vertreter der Zivilgesellschaft forderten
Kais zum Rücktritt auf.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) bezeichnet das
aktuelle Massenverfahren als einen Versuch, die Meinungsfreiheit
einzuschränken. „Präsident Saied nutzt die Justiz dafür, die politische
Opposition und Dissidenten unter Druck zu setzen“, sagt Bassam Khalwaja,
die für die Organisation die Lage im Nahen Osten beobachtet.
## Ist Tunesien noch ein sicheres Herkunftsland?
Tunesische Organisationen wie die „Liga der Menschenrechte“ bezweifeln
außerdem die Unabhängigkeit des Justizapparates, nachdem Said 2022 den Rat
der obersten Richter aufgelöst und persönlich neu besetzt hatte. Im selben
Jahr waren 57 Richter entlassen worden. Es war damals ein offenes
Geheimnis, dass Gerichtsverfahren aller Art mit Geldzahlungen beeinflussbar
sind, daher wurde Saieds radikales vorgehen in weiten Teilen der
Bevölkerung als Antikorruptionsmaßnahme verstanden und begrüßt.
Bisher galt Tunesien als eines der wenigen Länder in der Region, in denen
man gegen gesellschaftliche Missstände auf die Straße gehen konnte. Doch
mittlerweile kann schon leise Kritik [3][zu sensiblen Themen wie Migration]
drastische Folgen haben. Die Rechtsanwältin Sonia Dachmani war im letzten
Jahr zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil sie in einer
TV-Talkshow fragte: „Paradies? Von welchem Paradies sprechen Sie denn?
Unsere Jugend verlässt doch das Land in Scharen.“ Ein Mitdiskutant hatte
zuvor behauptet, die Migranten aus Subsahara-Afrika kämen nach Tunesien
wegen dessen Schönheit.
Auch in Berlin dürfte man den weiteren Verfahrensablauf gespannt
beobachten: Die neue Bundesregierung will Tunesien als sicheres
Herkunftsland erklären. Sollte sich die tunesische Justiz als Instrument
des Präsidentenpalastes entlarven, dürfte auch die Rückführung abgelehnter
Asylbewerber schwierig bleiben.
14 Apr 2025
## LINKS
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[3] /Tunesien-raeumt-Fluechtlingscamps/!6080850
## AUTOREN
Mirco Keilberth
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