# taz.de -- Lokalwahlen in Tunesien: Sieg durch Desinteresse | |
> Bei den Wahlen in Tunesien lag die Beteiligung bei 11 Prozent. Trotzdem | |
> dürfte Präsident Kais Saied seinen Umbau der Vorzeigedemokratie | |
> durchziehen. | |
Bild: Tunesiens Präsident Kais Saied spricht am 24. Dezember nach der Stimmabg… | |
TUNIS taz | Nach den [1][Parlamentswahlen im Januar] sind die tunesischen | |
Wähler auch den Lokalwahlen am vergangenen Wochenende ferngeblieben. Nur 11 | |
Prozent haben ihre Stimme für die Wahl der Abgeordneten einer neu | |
geschaffenen zweiten Parlamentskammer abgegeben. Präsident Kais Saied hat | |
mit den wie gewohnt gut organisierten Wahlen dennoch seinen Umbau der | |
Demokratie in ein basisdemokratisches Modell mit starken | |
Präsidentenvollmachten endgültig abgesichert. | |
Im Juli 2021 hatte der Juraprofessor inmitten der in Tunesien wütenden | |
Corona-Epidemie die Regierung entlassen und das Parlament von Polizisten | |
abriegeln lassen. Die gewählten Abgeordneten sollten nie mehr in das | |
Gebäude im Stadtteil Bardo zurückkehren. | |
Wie von politischen Beobachtern im Ausland erwartet, gingen in dem | |
damaligen Vorzeigeland des arabischen Frühlings noch am Abend des Putsches | |
Hunderttausende auf die Straßen. Doch die Tunesier bejubelten den | |
öffentlich oft unbeholfen auftretenden, aber als ehrlich und nicht korrupt | |
geltenden Präsidenten. | |
Wegen der Wirtschaftskrise, der grassierenden Korruption und den vielen | |
Corona-Toten haben sich Bürger aus allen Schichten von der | |
parlamentarischen Demokratie abgewendet. | |
## Grassierende Politikverdrossenheit | |
„Ich teile Kais Saieds Ablehnung der politischen Eliten“, sagt Saber | |
Labidi, ein Ingenieur aus Tunis. „Sie wirtschaften wie die politischen | |
Parteien in die eigene Tasche, zeigen keinerlei Willen, die | |
unterentwickelten Regionen aus der Armut zu holen.“ Zu den Wahlen am 24. | |
Dezember ist der 44-Jährige dennoch nicht gegangen. Die lapidare Erklärung | |
seiner Politikverdrossenheit hört man derzeit häufig in den Cafes der | |
Hauptstadt. „Ich kenne weder die Kandidaten, noch habe ich Zeit, mich mit | |
Politik abzugeben.“ | |
Auch das von dem Präsidenten persönlich entwickelte Wahlsystem der zweiten | |
Parlamentskammer und der Gemeindevertreter hat Wähler abgeschreckt. | |
Mehr als 2.000 Abgeordnete werden direkt von der Bevölkerung in sogenannte | |
Gemeinderäte gewählt. Diese bestimmen 77 Abgeordnete über drei Stufen | |
verschiedener regionaler Gremien per eines Los- und Rotationssystems sowie | |
indirekter Wahlen in die „Vertretung der Regionen.“ | |
Saied setzt damit um, was er bereits in seinem Wahlkampf 2019 angekündigt | |
hatte: die Umstrukturierung der politischen Institutionen zur Stärkung der | |
unterentwickelten Regionen im Südwesten des Landes und rund um die durch | |
Landflucht stetig wachsende Hauptstadt. | |
## Moderate Islamisten verlieren durch Saieds Reformen | |
Vor allem aber will er die Anhänger der [2][moderaten Islamisten der | |
Ennahda-Partei] aus den Ministerien und Gemeindeverwaltungen drängen. Die | |
während des Ben Ali-Regimes verfolgten Vertreter des politischen Islam | |
waren in allen elf Regierungen nach dem arabischen Frühling beteiligt und | |
hatten ihre Gefolgsleute geschickt in allen staatlichen Institutionen | |
untergebracht, vor allem in den Gemeinden. | |
Die vor fünf Jahren gewählten Gemeinderäte hat Saied vor den Kommunalwahlen | |
aufgelöst. „Die von ihm nun persönlich ernannten Verwaltungschefs werden | |
sicher lange im Amt bleiben“, sagt ein Verwaltungsbeamter in der Hafenstadt | |
Sfax der taz. „Das widerspricht zwar der von Saied versprochene | |
Basisdemokratie. Aber das stört in den Behörden offenbar nur wenige. Es | |
scheint, als seien im Staatsapparat alle froh darüber zu sein, in Zeiten | |
von Korruption und Vetternwirtschaft keine Verantwortung übernehmen zu | |
müssen.“ | |
Seinen Namen möchte der Beamte nicht öffentlich nennen, seit der Verhaftung | |
führender Ennahda-Funktionäre und von Abir Moussi, dem Vorsitzenden der | |
größten Oppositionspartei, trauen sich immer weniger Menschen, ihre Kritik | |
öffentlich zu äußern. | |
Auch außenpolitisch setzt sich der Präsident mit seiner stoischen Haltung | |
durch. Nach seiner Tirade gegen Migrant:innen rollte eine Welle der | |
Gewalt gegen Menschen aus West- und Zentralafrika durchs Land. Aus | |
europäischen Hauptstädten mehrten sich die kritischen Stimmen. | |
## Fragwürdige EU-Politik gegenüber Tunis | |
Doch ausgerechnet als Migrant:innen und Flüchtlinge an der libyschen | |
Grenze ausgesetzt wurden, schloss EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der | |
Leyen [3][ein umstrittenes Migrationsabkommen in Tunis mit Saied] ab. Drei | |
Tage vor den Kommunalwahlen stimmte Brüssel der Zahlung von 150 Millionen | |
Euro zur Ankurbelung der tunesischen Wirtschaft zu. | |
Zwar hat Saied die von der EU und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) | |
geforderten Reformen abgelehnt. Doch den vom IWF für die Vergabe eines | |
rettenden Kredites geforderte Abbau der Subvention von Lebensmitteln | |
erleben die Bürger durch die explosionsartig steigenden Preise bereits. | |
Auch den Stopp der Überfahrten von Migrant:innen nach Lampedusa lehnte | |
Said im Sommer ab. | |
Doch [4][auf den Feldern in den Küstengemeinden rund um Sfax] leben mehr | |
als 15.000 Menschen aus Westafrika und dem Sudan. Die Nationalgarde hat | |
alle Schmuggler-Boote in der Region konfisziert. Hilfsorganisationen warnen | |
vor einer humanitären Katastrophe. In den Küstengemeinden geht nach | |
Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Migrant:innen die | |
Angst um. In Al Amra und anderen Kleinstädten tauchten jetzt in den | |
Wahllokalen meist gar keine Wähler auf. | |
27 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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